I. Nasciturus BGB: Rechtsfähigkeit und Schutz des Nasciturus
Nasciturus Rechtsfähigkeit: Obwohl der Nasciturus nach § 1 BGB nicht rechtsfähig ist, genießt er durch verschiedene Sondervorschriften einen besonderen Schutz und ist unter bestimmten Bedingungen sogar erbfähig.
1. Ersatzansprüche und deliktsrechtlicher Schutz
Der Nasciturus hat gemäß § 844 Absatz 2 Satz 2 BGB Anspruch auf Ersatzansprüche, wenn ein unterhaltspflichtiger Elternteil getötet wird. Dies bedeutet, dass der Nasciturus nach der Geburt Schadensersatz für den Verlust der Unterhaltsleistungen des verstorbenen Elternteils fordern kann.
Darüber hinaus genießt der Nasciturus deliktsrechtlichen Schutz vor vorgeburtlichen Schädigungen gemäß §§ 823 ff. BGB. Dies umfasst Schadensersatzansprüche für Gesundheitsschäden, die dem Nasciturus vor der Geburt durch das Verhalten Dritter zugefügt werden. Beispielsweise können Ärzte oder andere Personen, die durch fahrlässiges oder vorsätzliches Handeln die ungeborene Leibesfrucht schädigen, haftbar gemacht werden.
2. Gesetzlicher Vertreter des Nasciturus / Leibesfruchtpfleger gem. § 1810 BGB
Ein gesetzlicher Vertreter, der sogenannte Leibesfruchtspfleger, kann gemäß § 1810 BGB für verschiedene Fälle bestellt werden. Die Aufgabe des Pflegers besteht darin, die Rechte und Interessen des Nasciturus zu wahren und durchzusetzen. Dies umfasst insbesondere:
- Geltendmachung von Erbansprüchen: Der Pfleger kann im Namen des Nasciturus Erbansprüche geltend machen und sicherstellen, dass diese durchgesetzt werden.
- Zustimmung zur vorgeburtlichen Vaterschaftsanerkennung: Der Pfleger kann die Zustimmung zur Anerkennung der Vaterschaft vor der Geburt geben, um die rechtliche Vater-Kind-Beziehung festzulegen.
- Namenserteilung: Der Pfleger kann in Angelegenheiten der Namensgebung handeln.
- Sorgeerklärung: Der Pfleger kann Erklärungen zur elterlichen Sorge abgeben.
Die Pflegschaft gemäß § 1810 BGB endet mit der Geburt des Kindes.
II. Der Nasciturus als Erbe im Erbrecht
Gemäß § 1923 Absatz 2 BGB kann ein Nasciturus erbfähig sein, wenn er zum Zeitpunkt des Erbfalls bereits gezeugt, aber noch nicht geboren war. Diese gesetzliche Fiktion stellt sicher, dass die ungeborene Leibesfrucht als vor dem Erbfall geboren gilt, sofern er lebend zur Welt kommt.
1. Gesetzliche Fiktion und Erbfähigkeit
Die Regelung in § 1923 Absatz 2 BGB dient dazu, den Nasciturus im Erbrecht zu schützen und ihm gleiche Chancen wie geborenen Personen zu bieten. Diese Fiktion bedeutet, dass das ungeborene Kind so behandelt wird, als wäre es zum Zeitpunkt des Erbfalls bereits geboren. Dies ist besonders wichtig, um sicherzustellen, dass das ungeborene Kind keine Nachteile im Erbfall erleidet.
Beispiel: Ein Erblasser ordnet in seinem Testament an, dass alle seine Enkelkinder jeweils 10.000 Euro erhalten sollen. Ein Enkelkind, das zum Zeitpunkt des Todes des Erblassers bereits gezeugt, aber noch nicht geboren war, hat mit seiner Geburt ebenfalls Anspruch auf diese Zahlung.
2. Pflichtteilsansprüche des Nasciturus
Wurde ein Nasciturus enterbt, kann er nach seiner Geburt Pflichtteilsansprüche geltend machen. Der Pflichtteil ist ein gesetzlicher Mindestanteil am Erbe, der nahen Angehörigen zusteht, selbst wenn sie im Testament nicht bedacht wurden. Da der Nasciturus gemäß § 1923 Absatz 2 BGB als vor dem Erbfall geboren gilt, kann er nach seiner Geburt seine Pflichtteilsansprüche geltend machen, sofern er lebend zur Welt kommt.
3. Ausschlagung der Erbschaft
Ist eine Erbschaft überschuldet, müssen die Eltern die Erbschaft auch für die ungeborene Leibesfrucht ausschlagen, um ihn vor finanziellen Nachteilen zu schützen. Das bedeutet, dass die Eltern im Namen des ungeborenen Kindes die Erbschaft ablehnen können, um zu verhindern, dass das Kind mit Schulden belastet wird.
Beispiel: Eine schwangere Frau erbt den hoch verschuldeten Nachlass ihres verstorbenen Vaters. Um ihr ungeborenes Kind vor den Schulden zu schützen, muss sie die Erbschaft auch für das Kind ausschlagen. Damit wird verhindert, dass das Kind nach seiner Geburt für die Schulden des Erblassers haftet.
III. Verfassungsrechtlicher Schutz – Grundrechtsfähigkeit des Nasciturus
Im verfassungsrechtlichen Sinne ist der Nasciturus nach herrschender Meinung Träger der Menschenwürde nach Artikel 1 Absatz 1 GG und fällt unter den Schutzbereich des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Artikel 2 Absatz 2 GG.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Urteilen zum Schwangerschaftsabbruch festgestellt, dass der Nasciturus ab der Nidation (Einnistung der Zygote in die Gebärmutterschleimhaut) ein individuelles und unverwechselbares Wesen darstellt (u.a. BVerfG, Urt. v. 25.02.1975, Az.: 1 BvF 1/74, 1 BvF 2/74, 1 BvF 3/74, 1 BvF 4/74, 1 BvF 5/74, 1 BvF 6/74).
Die Schutzpflicht des Staates ergibt sich aus der Anerkennung der Grundrechtsfähigkeit. Diese Schutzpflicht umfasst:
- Gesetzgeberische Maßnahmen: Der Staat ist verpflichtet, Gesetze zu erlassen, die den Schutz des ungeborenen Lebens gewährleisten. Dies schließt Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch und zur pränatalen Diagnostik ein.
- Administrative Maßnahmen: Behörden und öffentliche Institutionen müssen Maßnahmen ergreifen, die den Schutz des Nasciturus sicherstellen. Dies kann beispielsweise den Schutz vor medizinischen Eingriffen umfassen, die das Leben des ungeborenen Kindes gefährden könnten.
- Gerichtliche Maßnahmen: Gerichte sind verpflichtet, den verfassungsrechtlichen Schutz des Nasciturus zu wahren und Entscheidungen zu treffen, die diesem Schutz Rechnung tragen. Dies beinhaltet auch die Möglichkeit, gegen Maßnahmen vorzugehen, die das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Nasciturus gefährden.
IV. Strafrechtlicher Schutz
Strafrechtlich wird der Nasciturus durch die §§ 218 ff. StGB (Schwangerschaftsabbruch) geschützt. Während Tötungsdelikte wie Mord (§ 211 StGB) und Totschlag (§ 212 StGB) auf geborene Menschen abzielen, schützt § 218 StGB das ungeborene Leben ab der Nidation. Die Straffreistellung von Schwangerschaftsabbrüchen innerhalb der ersten zwölf Wochen (§ 218a Abs. 1 StGB) ist allerdings höchst umstritten, da sie einerseits den Schutz des ungeborenen Lebens gewährleisten soll, andererseits die Selbstbestimmungsrechte der Frau in Konfliktsituationen berücksichtigt.
V. Besondere Fälle und weitere Regelungen
Ein besonderer Fall liegt vor, wenn ein ungeborenes Kind durch einen Versicherungsfall der Mutter geschädigt wird: Nach der Geburt erhält es alle medizinischen Leistungen und Entschädigungen von dem für die Mutter zuständigen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 12 SGB VII).