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Nötigungsnotstand im Strafrecht – Meinungsstreit, Argumente und Kritik, Fall

Der Begriff “Nötigungsnotstand” beschreibt eine rechtlich komplexe Situation, in der eine Person (der Genötigte) durch die Androhung eines unmittelbaren Übels gezwungen wird, eine rechtswidrige Handlung zu begehen. Diese Konstellation stellt eine spezielle Form des Notstands dar, bei der die rechtliche Bewertung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung schwankt. In diesem Beitrag wird die rechtliche Einordnung des Nötigungsnotstands anhand der einschlägigen Normen und der verschiedenen Rechtsansichten detailliert dargestellt.

I. Definition und Abgrenzung des Nötigungsnotstands

1. Was ist ein Nötigungsnotstand?

Der Nötigungsnotstand beschreibt eine Situation im Strafrecht, in der eine Person (der Genötigte) durch die Drohungen oder Gewalthandlungen eines Dritten (der Nötigende) gezwungen wird, eine rechtswidrige Handlung zu begehen. Diese Situation entsteht, wenn der Nötigende eine gegenwärtige Gefahr hervorruft, die den Genötigten zwingt, in die Rechtsgüter eines unbeteiligten Dritten einzugreifen. Die typischen Mittel, mit denen der Nötigende diese Zwangslage herbeiführt, sind die Anwendung von Gewalt oder die Androhung von Übeln, wie sie in § 240 des Strafgesetzbuches (StGB) (Nötigung) beschrieben sind.

Ein anschauliches Beispiel hierfür ist folgende Konstellation: A wird von B mit vorgehaltener Pistole bedroht und dazu gezwungen, die Fensterscheibe von C einzuschlagen, um sein eigenes Leben zu retten. In diesem Fall steht A vor der Wahl, entweder die Forderung von B zu erfüllen und damit eine strafbare Handlung zu begehen, oder die angedrohte Gewalt zu erleiden.

Der Nötigungsnotstand unterscheidet sich von anderen Notstandssituationen dadurch, dass er eine sogenannte Dreieckskonstellation beinhaltet. Diese Konstellation besteht aus dem Nötigenden, dem Genötigten und dem Opfer der abgenötigten Handlung. Diese besondere Struktur stellt die Rechtsprechung und die Rechtswissenschaft vor die Herausforderung, die Handlungen des Genötigten unter Berücksichtigung der erzwungenen Zwangslage angemessen zu bewerten.

 

2. Abgrenzung zu anderen Notstands- und Rechtfertigungssituationen

Im Vergleich zu anderen Notstandsregelungen, wie dem rechtfertigenden Notstand nach § 34 StGB und dem entschuldigenden Notstand nach § 35 StGB, weist der Nötigungsnotstand spezifische Merkmale auf. Während § 34 StGB eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und Interessen vornimmt und § 35 StGB eine Entschuldigung bei der Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit ermöglicht, stellt der Nötigungsnotstand eine Mischform dar, die sowohl Elemente der Rechtfertigung als auch der Entschuldigung enthält.

Die Hauptfrage bei der Bewertung eines Nötigungsnotstands ist, ob der Genötigte gerechtfertigt oder entschuldigt ist. Dies hängt von mehreren Faktoren ab:

  1. Die Natur der Bedrohung: Die Art und Schwere der Drohung oder Gewalt, die der Nötigende einsetzt, um den Genötigten zur Handlung zu zwingen.
  2. Die Abwägung der Rechtsgüter: Eine zentrale Rolle spielt die Abwägung zwischen dem geschützten Interesse (z.B. das Leben des Genötigten) und dem beeinträchtigten Interesse (z.B. das Eigentum des Opfers).
  3. Die Angemessenheit der Handlung: Nach § 34 StGB muss die Handlung, die zur Abwendung der Gefahr erfolgt, auch angemessen sein. Diese Angemessenheitsprüfung stellt sicher, dass die Einheit der Rechtsordnung gewahrt bleibt und keine unverhältnismäßigen Opfer verlangt werden.

 

3. Fallbeispiele zum Nötigungsnotstand und praktische Anwendung

Um die Komplexität des Nötigungsnotstands zu verdeutlichen, können verschiedene Fallkonstellationen herangezogen werden:

  • Beispiel 1: A wird von B mit dem Tode bedroht, wenn er nicht den wertvollen Oldtimer von C stiehlt. A entschließt sich, den Diebstahl zu begehen, um sein Leben zu retten. Hierbei ist zu prüfen, ob die Rettung des Lebens von A das Eigentumsrecht von C so wesentlich überwiegt, dass A nach § 34 StGB gerechtfertigt ist, oder ob er lediglich nach § 35 StGB entschuldigt ist.
  • Beispiel 2: D zwingt E unter Androhung von Waffengewalt, vor Gericht eine falsche Aussage zu machen, anstatt sein Zeugnisverweigerungsrecht zu nutzen. E befolgt den Befehl, um sein Leben zu schützen. Auch hier stellt sich die Frage, ob E durch die Drohung gerechtfertigt oder nur entschuldigt ist.
  • Beispiel 3: F droht G, sein Haus niederzubrennen, wenn er nicht den Hund von H tötet. G tötet den Hund, um sein Eigentum zu schützen. Die Prüfung der Rechtslage muss hier die Wertigkeit des Eigentums von G gegen das Leben des Hundes abwägen.

 

II. Meinungsstreit: Rechtliche Einordnung des Nötigungsnotstands

Der juristische Streitstand zur rechtlichen Einordnung des Nötigungsnotstands ist vielschichtig und komplex. Er wird von drei Hauptansichten geprägt, die jeweils unterschiedliche Schwerpunkte und Argumentationen aufweisen: die Rechtfertigungslösung, die Entschuldigungslösung und die differenzierende Ansicht.

 

1. Rechtfertigungslösung

Nach der Rechtfertigungslösung kann sich der Genötigte auf § 34 StGB berufen, wenn die Tat zur Abwendung einer erheblichen Gefahr erforderlich ist. Diese Ansicht sieht im Nötigungsnotstand eine Konstellation, in der die Abwägung der betroffenen Rechtsgüter zugunsten des Genötigten ausfällt.

Argumente für die Rechtfertigungslösung:

  • Solidaritätspflicht der Rechtsgemeinschaft: Befürworter dieser Ansicht argumentieren, dass die Gemeinschaft eine Solidaritätspflicht hat, die auch eine Duldungspflicht des Opfers der abgenötigten Handlung einschließt. Das Opfer müsse die Beeinträchtigung seiner Rechtsgüter hinnehmen, wenn dies zum Schutz eines wesentlich höherwertigen Interesses, wie das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Genötigten, erforderlich ist.
  • Vermeidung von Opferkollisionen: Diese Lösung vermeidet die Kollision von Rechtsgütern, indem sie dem Genötigten das Recht gibt, eine geringere Rechtsgutverletzung zu begehen, um eine größere zu verhindern.

Kritik an der Rechtfertigungslösung:

  • Eingeschränktes Notwehrrecht des Opfers: Ein wesentlicher Kritikpunkt ist, dass das Opfer der abgenötigten Tat kein Notwehrrecht gegen den Genötigten hätte, da dessen Handlung rechtmäßig wäre. Dies könnte das Vertrauen in die Rechtsordnung untergraben, da das Opfer schutzlos der abgenötigten Tat ausgeliefert wäre.
  • Gefahr der Überdehnung der Solidaritätspflicht: Die pauschale Verpflichtung des Opfers, die abgenötigte Handlung zu dulden, könnte als unverhältnismäßig und überzogen empfunden werden.

 

2. Entschuldigungslösung

Die Entschuldigungslösung lehnt eine Rechtfertigung nach § 34 StGB ab und sieht den Genötigten nur nach § 35 StGB entschuldigt. Diese Ansicht betont, dass der Genötigte bewusst auf die Seite des Unrechts tritt, was eine Rechtfertigung ausschließt.

Argumente für die Entschuldigungslösung:

  • Rechtsbewährungsinteresse: Diese Lösung stellt das Rechtsbewährungsinteresse über die Solidarität mit dem Genötigten. Der Genötigte darf keine rechtswidrigen Handlungen begehen, selbst wenn er dazu genötigt wird, da dies die Integrität der Rechtsordnung gefährden würde.
  • Vermeidung von Rechtsmissbrauch: Indem der Nötigungsnotstand nur als Entschuldigung und nicht als Rechtfertigung anerkannt wird, wird verhindert, dass der Genötigte sich auf die Seite des Unrechts stellt und gleichzeitig Schutz durch die Rechtsordnung beanspruchen kann.

Kritik an der Entschuldigungslösung:

  • Härte gegenüber dem Genötigten: Diese Ansicht wird kritisiert, weil sie den Genötigten, der sich in einer extremen Zwangslage befindet, möglicherweise zu hart behandelt und ihn moralisch verurteilt, obwohl er aus Not gehandelt hat.
  • Eingeschränkte Schutzwirkung: Der Schutz, den § 35 StGB bietet, ist enger gefasst als der von § 34 StGB. Er umfasst nicht alle möglichen Bedrohungslagen und schützt nur bestimmte Rechtsgüter und Personen.

 

3. Differenzierende Ansicht

Die differenzierende Ansicht schlägt vor, dass im Einzelfall abzuwägen ist. Bei geringfügigen Beeinträchtigungen des Opfers kann eine Rechtfertigung nach § 34 StGB in Betracht kommen, während bei schwerwiegenden Eingriffen nur eine Entschuldigung nach § 35 StGB möglich sein sollte.

Argumente für die differenzierende Ansicht:

  • Einzelfallgerechtigkeit: Diese Ansicht berücksichtigt die spezifischen Umstände des Einzelfalls und ermöglicht eine flexible und gerechte Lösung, die sowohl die Interessen des Genötigten als auch die des Opfers angemessen berücksichtigt.
  • Abgestufte Schutzmechanismen: Indem sie zwischen geringfügigen und schwerwiegenden Eingriffen unterscheidet, schafft diese Lösung ein abgestuftes Schutzsystem, das sowohl dem Genötigten als auch dem Opfer gerecht wird.

Kritik an der differenzierenden Ansicht:

  • Komplexität und Unsicherheit: Diese Ansicht kann zu rechtlicher Unsicherheit führen, da die Abgrenzung zwischen geringfügigen und schwerwiegenden Beeinträchtigungen nicht immer eindeutig ist. Dies kann die Rechtsanwendung in der Praxis erschweren und zu uneinheitlichen Entscheidungen führen.
  • Subjektive Bewertungsmaßstäbe: Die Bewertung der Zumutbarkeit und der Schwere der Beeinträchtigung ist subjektiv und kann zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.

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