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Billiges Ermessen BGB – Definition, Anwendung, Grenzen, Rechtsfolgen

Der Begriff „billiges Ermessen“ stammt von dem lateinischen Wort „aequitas“ ab, das Gerechtigkeit und Ausgewogenheit bedeutet. Im deutschen Recht spielt er eine zentrale Rolle, insbesondere wenn eine Vertragspartei einseitige Entscheidungen oder Leistungsbestimmungen treffen darf. Als „unbestimmter Rechtsbegriff“ verankert das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) den Grundsatz des billigen Ermessens in § 315 BGB und weiteren Vorschriften. Doch was genau versteht man unter „billigem Ermessen“ und in welchen rechtlichen Zusammenhängen wird es angewendet?

I. Billiges Ermessen Definition

1. Was bedeutet billiges Ermessen?

Unter „Billigem Ermessen“ versteht man eine Entscheidungsbefugnis, bei der die jeweiligen Interessen der Vertragsparteien in einem fairen, ausgewogenen Verhältnis zueinander abgewogen werden müssen. Der Begriff impliziert, dass die entscheidende Partei nicht willkürlich handeln darf, sondern verpflichtet ist, die konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen. Ziel ist es, eine ausgewogene Lösung zu finden, die den berechtigten Interessen beider Seiten gerecht wird.

 

2. Billiges Ermessen im rechtlichen Kontext

Die rechtliche Grundlage für das billige Ermessen findet sich in § 315 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Dort heißt es in Absatz 1: „Soll die Leistung durch einen der Vertragschließenden bestimmt werden, so ist im Zweifel anzunehmen, dass die Bestimmung nach billigem Ermessen zu treffen ist.“

§ 315 Bestimmung der Leistung durch eine Partei

(1) Soll die Leistung durch einen der Vertragschließenden bestimmt werden, so ist im Zweifel anzunehmen, dass die Bestimmung nach billigem Ermessen zu treffen ist.
(2) Die Bestimmung erfolgt durch Erklärung gegenüber dem anderen Teil.
(3) Soll die Bestimmung nach billigem Ermessen erfolgen, so ist die getroffene Bestimmung für den anderen Teil nur verbindlich, wenn sie der Billigkeit entspricht. Entspricht sie nicht der Billigkeit, so wird die Bestimmung durch Urteil getroffen; das Gleiche gilt, wenn die Bestimmung verzögert wird.

Diese Vorschrift kommt immer dann zum Tragen, wenn eine Vertragspartei – häufig der stärkere Vertragspartner – das Recht hat, eine Leistung einseitig zu bestimmen. Dies kann beispielsweise im Rahmen von Arbeitsverträgen, Dienstleistungsverträgen oder anderen Dauerschuldverhältnissen der Fall sein.

Der Gesetzgeber stellt mit dieser Regelung sicher, dass ein Machtgefälle zwischen den Vertragsparteien nicht zu willkürlichen Entscheidungen führen darf. Das „billige Ermessen“ schafft also eine Grenze, die der stärkeren Partei auferlegt wird, um sicherzustellen, dass der schwächere Vertragspartner fair behandelt wird. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass eine einseitige Leistungsbestimmung nur dann für die andere Partei verbindlich ist, wenn sie der Billigkeit entspricht.

 

3. Der Begriff der Billigkeit

Der Begriff der „Billigkeit“ ist im juristischen Sprachgebrauch eng mit dem „billigen Ermessen“ verbunden. Während das Ermessen der Partei einen gewissen Spielraum lässt, verlangt die Billigkeit, dass dieser Spielraum ausgewogen und gerecht ausgefüllt wird. Die Billigkeit ist damit ein Maßstab, der über die bloße Rechtmäßigkeit hinausgeht und Gerechtigkeit im Einzelfall anstrebt. Das bedeutet, dass die Entscheidung, die im Rahmen des billigen Ermessens getroffen wird, nicht nur rechtlich korrekt sein muss, sondern auch ethisch und sozial gerechtfertigt.

 

II. Billiges Ermessen im Arbeitsrecht

Im Arbeitsrecht entfaltet das „Billige Ermessen“ eine besondere Relevanz, da es den Handlungsspielraum des Arbeitgebers im Rahmen seines Weisungs- und Direktionsrechts bestimmt. Gemäß § 106 der Gewerbeordnung (GewO) ist es dem Arbeitgeber gestattet, den Inhalt, den Ort und die Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen festzulegen, sofern diese Aspekte nicht bereits durch den Arbeitsvertrag, durch tarifliche Regelungen oder gesetzliche Vorschriften geregelt sind. Dieses Ermessen erlaubt dem Arbeitgeber, in den betrieblichen Abläufen flexibel zu agieren, etwa durch Versetzungen oder Anpassungen der Arbeitszeiten, verlangt jedoch gleichzeitig, dass er die Interessen des Arbeitnehmers sorgfältig abwägt.

Das bedeutet, dass der Arbeitgeber bei jeder Entscheidung die persönlichen Lebensumstände der Beschäftigten – wie familiäre Verpflichtungen, gesundheitliche Beeinträchtigungen oder etwaige besondere Bedürfnisse – in seine Abwägungen miteinbeziehen muss. Eine Versetzung an einen weit entfernten Standort, die einen Umzug erforderlich macht, darf nicht ohne Berücksichtigung dieser Belange erfolgen. Solche Maßnahmen, die eine unverhältnismäßige Belastung des Arbeitnehmers darstellen, könnten als unbillig eingestuft werden.

Darüber hinaus spielt der Betriebsrat eine kontrollierende Rolle bei der Sicherstellung, dass der Grundsatz der Billigkeit auch im betrieblichen Alltag eingehalten wird. Nach § 75 Absatz 1 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) ist der Betriebsrat dazu angehalten, zu überwachen, dass alle Beschäftigten nach den Maßstäben von „Recht und Billigkeit“ behandelt werden. Diese Regelung schützt vor ungleicher oder gar willkürlicher Behandlung und gewährleistet eine faire, ausgewogene Interessenwahrnehmung im Betrieb.

 

III. Billiges Ermessen im Zivilrecht

Im allgemeinen Zivilrecht kommt der Grundsatz des billigen Ermessens hingegen vor allem in Dauerschuldverhältnissen zur Anwendung, also in Vertragsverhältnissen, die über einen längeren Zeitraum bestehen und bei denen es im Laufe der Zeit zu Anpassungen kommen kann. Ein klassisches Beispiel hierfür sind Mietverträge, bei denen sich aufgrund veränderter Marktbedingungen oder anderer Einflüsse eine Vertragspartei das Recht vorbehält, die Konditionen einseitig zu modifizieren.

Gemäß § 315 Absatz 1 BGB muss eine solche einseitige Bestimmung nach „billigem Ermessen“ erfolgen, wenn die Vertragsbedingungen dies nicht explizit regeln. Dies bedeutet, dass die Partei, die die Anpassung vornimmt, nicht allein ihre eigenen Interessen durchsetzen darf, sondern auch die Interessen der anderen Vertragspartei angemessen berücksichtigen muss. Eine unbillige Erhöhung des Mietzinses oder des Preises für eine Lieferleistung wäre daher nicht verbindlich und könnte durch die benachteiligte Partei gerichtlich überprüft werden.

Das Gericht würde dann im Rahmen einer sogenannten Ausübungskontrolle prüfen, ob die einseitige Bestimmung den Anforderungen an die Billigkeit entspricht. Sollte das Gericht feststellen, dass die Interessen der benachteiligten Partei unzureichend berücksichtigt wurden, könnte es die Entscheidung aufheben oder eine eigene Bestimmung treffen, die den Grundsätzen von Fairness und Gerechtigkeit gerecht wird. Damit stellt das Prinzip des billigen Ermessens sicher, dass die Vertragsparteien auch in Dauerschuldverhältnissen vor übermäßiger Benachteiligung geschützt sind und jede Änderung im ausgewogenen Verhältnis der beiderseitigen Interessen erfolgt.

 

IV. Gerichtliche Kontrolle des billigen Ermessens

Die gerichtliche Kontrolle des billigen Ermessens erfolgt in zwei Schritten: der Inhaltskontrolle und der Ausübungskontrolle. Diese Unterscheidung gewährleistet, dass sowohl die vertragliche Grundlage der einseitigen Leistungsbestimmung als auch deren tatsächliche Durchführung überprüft werden.

 

1. Inhaltskontrolle

Die Inhaltskontrolle zielt darauf ab, zu prüfen, ob das Recht zur einseitigen Leistungsbestimmung überhaupt wirksam vereinbart wurde. Dies geschieht in der Regel im Rahmen der AGB-Kontrolle nach §§ 305 ff. BGB. Im Zuge dieser Prüfung wird bewertet, ob die Bestimmung den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) oder den Anforderungen der Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) widerspricht. Insbesondere wird hier darauf geachtet, ob eine Vertragsklausel unangemessen benachteiligend oder überraschend ist. Wenn die Klausel den rechtlichen Anforderungen nicht standhält, wird sie als unwirksam angesehen.

 

2. Ausübungskontrolle

Im zweiten Schritt, der Ausübungskontrolle, untersucht das Gericht, ob die getroffene Bestimmung tatsächlich nach billigem Ermessen erfolgt ist. Dabei stehen die Umstände des konkreten Falles im Vordergrund. Das Gericht prüft, ob die Interessen beider Vertragsparteien angemessen gegeneinander abgewogen wurden und ob die Entscheidung dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit entspricht. Sollte das Gericht zu dem Schluss kommen, dass die Entscheidung unbillig war, kann es die Bestimmung anpassen oder sogar eine eigene Entscheidung treffen.

 

V. Die Grenzen des billigen Ermessens

Obwohl das billige Ermessen einen erheblichen Spielraum zur Flexibilität bietet, gibt es klare Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Entscheidend ist, dass eine Entscheidung nicht willkürlich oder schikanös getroffen wird. Das Bundesarbeitsgericht hat hierzu mehrfach betont, dass der Ermessensspielraum des Arbeitgebers durch die Billigkeit eingeschränkt ist. Dies bedeutet, dass jede Entscheidung, die ohne sachlichen Grund zu einer Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern führt, als unbillig und somit unzulässig gilt.

Eine weitere Grenze des billigen Ermessens besteht darin, dass der Arbeitgeber keine Weisungen erteilen darf, die den Arbeitnehmer in moralische oder ethische Konflikte bringen. So wäre es unzulässig, einem Arbeitnehmer Aufgaben zuzuweisen, die seinen religiösen oder moralischen Überzeugungen widersprechen, sofern keine zwingenden sachlichen Gründe dafür vorliegen. Das billige Ermessen schützt also nicht nur vor willkürlichen, sondern auch vor ethisch unzumutbaren Entscheidungen.

Diese Grenzen dienen dazu, sicherzustellen, dass der Grundsatz der Billigkeit gewahrt bleibt und keine Partei durch die einseitige Leistungsbestimmung unverhältnismäßig benachteiligt oder geschädigt wird. Das Prinzip des billigen Ermessens erfordert somit nicht nur die Abwägung von Interessen, sondern auch eine besondere Sorgfalt und Rücksichtnahme bei der Ausübung der Entscheidungsbefugnis.

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