2. Sittenwidrigkeit Definition
Demnach ist ein Rechtsgeschäft nichtig, wenn es nach seinem Inhalt, Zweck und Beweggrund gegen die guten Sitten verstößt. Dies bedeutet, dass das Geschäft das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verletzen muss. Die Rechtsprechung konkretisiert diesen unbestimmten Rechtsbegriff durch verschiedene Fallgruppen und Beispiele.
II. Sittenwidrigkeit Beispiel und Fallgruppen
Die Sittenwidrigkeit und der inhärente Verstoß gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der schwer zu definieren ist. Ein Rechtsgeschäft kann aufgrund seines Inhalts sittenwidrig sein, wenn es Handlungen vorsieht, die gesellschaftlich missbilligt werden, wie beispielsweise Verträge zur Begehung einer Straftat. Der Zweck eines Rechtsgeschäfts ist dann sittenwidrig, wenn damit unzulässige Ziele verfolgt werden, etwa die Umgehung von Gesetzen. Allerdings können auch die Beweggründe ein Rechtsgeschäft sittenwidrig machen, wenn sie auf verwerflichen Motiven beruhen, wie bei der bewussten Ausnutzung der Notlage eines Vertragspartners.
Beispiele/Fallgruppen für sittenwidrige Rechtsgeschäfte sind:
- Knebelverträge: Knebelverträge sind Vereinbarungen, die einen Vertragspartner in seiner wirtschaftlichen Freiheit so stark einschränken, dass er dem anderen praktisch ausgeliefert ist. Solche Verträge nehmen dem betroffenen Vertragspartner die Möglichkeit, frei und selbstbestimmt wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen. Ein typisches Beispiel ist ein Verlegervertrag, bei dem ein Schriftsteller verpflichtet wird, alle seine zukünftigen Werke ausschließlich einem bestimmten Verleger anzubieten. Der Verleger entscheidet dann allein, ob und welche Werke veröffentlicht werden. Diese Art von Vereinbarung kann den Schriftsteller in eine wirtschaftlich abhängige und nahezu unfreiwillige Lage bringen, die seine Kreativität und berufliche Entwicklung erheblich einschränkt.
- Wucher: Wucherische Verträge zeichnen sich durch ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung aus, das durch die Ausnutzung einer Zwangslage, Unerfahrenheit oder Willensschwäche des anderen Vertragspartners zustande kommt (Beispiel: Werkverträge über Schlüsseldienstleistungen). Solche Verträge sind sittenwidrig und daher nach § 138 Absatz 2 BGB nichtig. Ein Beispiel für Wucher ist ein Kreditvertrag mit extrem überhöhten Zinsen (marktüblicher Zinssatz wird um 100 % oder absolut um 12 Prozentpunkte überstiegen). Wenn ein Kreditgeber einem finanziell in Not geratenen Kreditnehmer einen Darlehensvertrag mit Zinsen anbietet, die weit über dem marktüblichen Zinssatz liegen, nutzt er die Zwangslage des Kreditnehmers aus.
- Verträge über strafbare Handlungen: Verträge, die die Begehung von Straftaten zum Gegenstand haben, sind von Natur aus sittenwidrig und somit nichtig. Solche Verträge widersprechen den grundlegenden Prinzipien der Rechts- und Sittenordnung. Ein Beispiel ist ein Vertrag, in dem sich jemand verpflichtet, einen Diebstahl oder einen Mord zu begehen.
III. Sittenwidrigkeit Wucher Beispiel: Bürgschaften
Bürgschaften gem. §§ 765 ff. BGB sind ein spezieller Anwendungsfall im Bereich der Sittenwidrigkeit nach § 138 Absatz 1 BGB. Oft kommt es vor, dass Angehörige Bürgschaften für Kredite übernehmen, ohne dass sie finanziell in der Lage wären, diese Bürgschaft zu tragen. Besonders dann, wenn die Bürgschaft nur aufgrund einer emotionalen Verbundenheit und ohne eigenes wirtschaftliches Interesse übernommen wird, kann dies als sittenwidrig eingestuft werden. Hierbei spielt die krasse finanzielle Überforderung des Bürgen eine entscheidende Rolle. Ein Beispiel ist die Übernahme einer Bürgschaft durch einen Ehepartner oder ein Kind für einen Kredit, obwohl die Person nicht in der Lage ist, die Bürgschaft finanziell zu stemmen.
Kriterien für die Feststellung einer krassen finanziellen Überforderung:
Die Rechtsprechung (bspw. BGH, Urt. v. 01.04.2014, Az.: XI ZR 276/13) hat für die Beurteilung, ob eine krass finanzielle Überforderung vorliegt, mehrere Kriterien entwickelt:
- Einkommens- und Vermögensverhältnisse zum Zeitpunkt der Bürgschaftsübernahme: Es wird betrachtet, ob das damalige Einkommen und Vermögen des Bürgen ausreichend waren, um die potenziellen Verpflichtungen aus der Bürgschaft zu erfüllen.
- Verhältnis der Bürgschaftssumme zum Gesamtvermögen und Einkommen des Bürgen: Eine deutliche Diskrepanz zwischen der Höhe der Bürgschaft und dem Vermögen bzw. Einkommen kann auf eine Überforderung hindeuten. Eine krass finanzielle Überforderung liegt somit gerade dann vor, wenn das pfändbare Einkommen nicht ausreicht, um die Zinsen des gesicherten Kredits zu zahlen.
- Dauerhafte Unfähigkeit zur Erfüllung der Verpflichtungen: Es wird geprüft, ob der Bürge auch zukünftig voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, die Bürgschaftsverpflichtungen zu erfüllen, ohne seine wirtschaftliche Existenz zu gefährden.
- Besondere persönliche Nähe zwischen dem Bürgen und dem Hauptschuldner (bspw. Ehe, Eltern-Kind,…)
- Ausnutzung des Gläubigers in verwerflicher Weise (wird widerleglich vermutet)
IV. Sittenwidriger Vertrag – Rechtsfolgen
Ein sittenwidriger Vertrag ist nichtig, was bedeutet, dass er von Anfang an keine rechtlichen Wirkungen entfaltet. Diese Nichtigkeit bezieht sich jedoch nur auf den sittenwidrigen Vertrag selbst und nicht automatisch auf alle damit zusammenhängenden Verträge. Das Prinzip der Trennungs- und Abstraktionsregel stellt sicher, dass die Nichtigkeit eines Vertrages nicht zwangsläufig die Wirksamkeit anderer damit verbundener Verträge beeinflusst.
1. Nichtigkeit und ihre Auswirkungen
Wenn ein Vertrag sittenwidrig ist, entfaltet er keine rechtlichen Wirkungen. Dies bedeutet, dass keine der im Vertrag festgelegten Verpflichtungen oder Rechte durchgesetzt werden können. Ein solcher Vertrag wird behandelt, als wäre er nie geschlossen worden. Dennoch bleiben andere Verträge, die im Zusammenhang mit dem sittenwidrigen Geschäft geschlossen wurden, in der Regel wirksam. Zum Beispiel:
- Eigentumserwerb: Wenn jemand aufgrund eines sittenwidrigen Kreditvertrages eine Sache erwirbt, bleibt das Eigentum an dieser Sache bestehen, auch wenn der Kreditvertrag später für nichtig erklärt wird. Das bedeutet, dass der Erwerber rechtmäßiger Eigentümer der Sache bleibt.
2. Rückabwicklung nach den Vorschriften über die ungerechtfertigte Bereicherung
Die Rückabwicklung eines sittenwidrigen Vertrages erfolgt nach den Vorschriften über die ungerechtfertigte Bereicherung (§§ 812 ff. BGB). Dies bedeutet, dass die Parteien des sittenwidrigen Vertrages verpflichtet sind, bereits erhaltene Leistungen nach dem Bereicherungsrecht zurückzugewähren.
3. Besondere Fallgestaltungen
Es gibt besondere Fallgestaltungen, bei denen die Nichtigkeit eines sittenwidrigen Vertrages auch Auswirkungen auf andere Verträge haben kann. Diese sind jedoch Ausnahmen und müssen im Einzelfall geprüft werden:
- Globalzession und Übersicherung: Bei Krediten, die durch eine Globalzession gesichert sind, kann die Nichtigkeit des Kreditvertrages auch die Sicherungsabreden betreffen, insbesondere wenn diese eine krasse finanzielle Überforderung darstellen. Eine Globalzession liegt vor, wenn ein Kreditnehmer alle gegenwärtigen und zukünftigen Forderungen an einen Kreditgeber abtritt, um den Kredit zu sichern. Wenn diese Sicherungsabrede den Kreditnehmer wirtschaftlich überfordert, kann auch sie als sittenwidrig und somit nichtig angesehen werden. Beispielsweise, wenn die Abtretung die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit des Kreditnehmers so stark einschränkt, dass er seine Geschäfte nicht mehr normal führen kann.
- Verkettete Verträge: n bestimmten Ausnahmefällen, wie etwa bei einem Paket von miteinander verbundenen Verträgen, kann die Sittenwidrigkeit eines Teils die Wirksamkeit der gesamten Vertragsstruktur beeinflussen, insbesondere wenn die Verträge in einem engen wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhang stehen. Ein Beispiel hierfür könnte ein Immobilienkauf sein, bei dem der Kaufvertrag, der Kreditvertrag und der Sicherungsvertrag so eng miteinander verknüpft sind, dass die Sittenwidrigkeit eines dieser Verträge die anderen Verträge infiziert. Wenn etwa der Kreditvertrag sittenwidrig ist, weil er wucherische Zinsen enthält, kann dies dazu führen, dass auch der Kaufvertrag und der Sicherungsvertrag als nichtig betrachtet werden, da sie wirtschaftlich und rechtlich eng mit dem sittenwidrigen Kreditvertrag verbunden sind.
4. Schadensersatzansprüche
Neben der Rückabwicklung nach den Vorschriften über die ungerechtfertigte Bereicherung können auch Schadensersatzansprüche bestehen. Nach § 826 BGB ist derjenige, der einem anderen in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise vorsätzlich Schaden zufügt, zum Schadensersatz verpflichtet.
V. Sittenwidrigkeit im Straf- und Verwaltungsrecht
Im Strafrecht kann Sittenwidrigkeit die Einwilligung zu einer Körperverletzung unwirksam werden lassen, sodass die Tat rechtswidrig wird (§ 228 StGB). Im Verwaltungsrecht sieht § 44 Absatz 1 Nr. 6 VwVfG vor, dass ein Verwaltungsakt, der gegen die guten Sitten verstößt, nichtig ist. Dies bedeutet, dass der Verwaltungsakt von Anfang an keine Rechtswirkungen entfaltet und auch nicht im Widerspruchsverfahren angefochten werden muss.