Startseite » Rechtslexikon » B » Betriebliche Übung – Entstehung und Ausschluss

Betriebliche Übung Arbeitsrecht – Wie aus Gewohnheit vertragliche Ansprüche werden

Manchmal entwickelt sich in Arbeitsverhältnissen aus einer scheinbar kleinen, wiederholten Geste des Arbeitgebers eine rechtlich bindende Verpflichtung: die betriebliche Übung. Diese besondere Rechtsfigur entsteht schleichend, wenn freiwillige Leistungen wie Weihnachtsgeld oder Bonuszahlungen über mehrere Jahre hinweg gewährt werden, ohne dass dies ausdrücklich vertraglich festgelegt ist.

Betriebliche Übung Definition: Eine betriebliche Übung beschreibt das regelmäßige und fortgesetzte Verhalten eines Arbeitgebers, aus dem die Arbeitnehmer den Anspruch auf eine dauerhafte Leistung ableiten können. Was zunächst als freiwillige Zuwendung beginnt, kann so Teil des Arbeitsvertrages werden. Doch wie entsteht eine solche rechtliche Bindung, welche Leistungen sind betroffen, und wie lässt sich diese Entwicklung verhindern? Ein Blick hinter die Kulissen dieser subtilen arbeitsrechtlichen Praxis gibt Aufschluss.

I. Was ist eine betriebliche Übung?

Die betriebliche Übung stellt ein besonderes Rechtsinstitut des Arbeitsrechts dar, welches sich aus der Rechtspraxis entwickelt hat, ohne dass es in einem spezifischen Gesetz kodifiziert ist. Der Begriff beschreibt ein Verhalten des Arbeitgebers, das über einen gewissen Zeitraum hinweg regelmäßig erfolgt und von den Arbeitnehmern als verbindlich angesehen werden darf. Es handelt sich dabei nicht um vertraglich festgelegte oder tarifrechtlich geregelte Leistungen, sondern um wiederholt freiwillig gewährte Vergünstigungen, die mit der Zeit einen Anspruch der Arbeitnehmer begründen können.

Das Bundesarbeitsgericht (BAG), das höchste deutsche Arbeitsgericht, hat dieses Rechtskonstrukt in verschiedenen Urteilen weiter konkretisiert. Eine betriebliche Übung entsteht, wenn der Arbeitgeber über mindestens drei aufeinanderfolgende Jahre hinweg eine bestimmte Leistung erbringt, ohne dabei explizit darauf hinzuweisen, dass diese Leistung freiwillig und ohne Anerkennung einer rechtlichen Verpflichtung erfolgt. Das Vertrauen der Arbeitnehmer in den Fortbestand dieser Leistungen führt schließlich dazu, dass diese zum Bestandteil des Arbeitsverhältnisses werden und der Arbeitgeber sich ihrer nicht mehr einseitig entziehen kann.

Ein klassisches Beispiel, das in diesem Zusammenhang häufig herangezogen wird, ist die Gewährung von Weihnachtsgeld. Wenn ein Arbeitgeber über mehrere Jahre hinweg seinen Arbeitnehmern eine entsprechende Sonderzahlung gewährt, so entsteht ein Anspruch der Arbeitnehmer auf diese Leistung, auch wenn es keinen formellen vertraglichen Anspruch darauf gibt. Die wiederholte Gewährung schafft also eine Erwartungssicherheit und führt im Sinne der Rechtsbindungswirkung dazu, dass diese Leistung Teil der arbeitsvertraglichen Pflichten wird.

Es ist gleichwohl bemerkenswert, dass der Begriff der betrieblichen Übung in der arbeitsrechtlichen Praxis auch als Ausdruck des Gewohnheitsrechts angesehen wird, allerdings ohne dessen strengen rechtlichen Voraussetzungen zu erfüllen. In Abgrenzung zum allgemeinen Gewohnheitsrecht ist die betriebliche Übung jedoch auf die Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer beschränkt und setzt keinen allgemeinen Rechtswillen voraus, der über den konkreten Betrieb hinauswirken würde. Sie bleibt somit eine betriebsbezogene Besonderheit, die das individuelle Vertrauen der Arbeitnehmer schützt und das Prinzip von Treu und Glauben (§ 242 BGB) in den Mittelpunkt stellt.

Beispiel: Ein Arbeitgeber zahlt über drei Jahre hinweg an alle Mitarbeiter ohne vertragliche Verpflichtung ein Weihnachtsgeld von 1000 Euro. Die wiederholte Zahlung führt dazu, dass die Arbeitnehmer im vierten Jahr einen Anspruch auf das Weihnachtsgeld geltend machen können, auch wenn diese Zahlung ursprünglich freiwillig und nicht vertraglich festgelegt war.

 

II. Rechtliche Grundlage der betrieblichen Übung

Die betriebliche Übung basiert auf den Grundsätzen des Vertragsrechts, obwohl sie nicht explizit in einem Gesetz erwähnt wird. Ihre rechtliche Grundlage findet sich in den allgemeinen Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), insbesondere in den §§ 133, 157 und 242 BGB. Diese Vorschriften regeln die Auslegung von Willenserklärungen und die Pflichten der Vertragspartner nach den Maßstäben von Treu und Glauben.

§ 133 BGB betrifft die Auslegung von Willenserklärungen nach dem tatsächlichen Willen der Parteien. Dies bedeutet, dass nicht nur die expliziten Äußerungen des Arbeitgebers, sondern auch sein stillschweigendes Verhalten relevant sind. § 157 BGB wiederum verlangt, dass Verträge unter Berücksichtigung der üblichen Verhaltensweisen und unter Einbeziehung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls ausgelegt werden. Für die betriebliche Übung ist dieser Grundsatz zentral, weil er den Arbeitnehmern erlaubt, aus dem wiederholten Verhalten des Arbeitgebers eine langfristige Verpflichtung abzuleiten.

Das Prinzip von Treu und Glauben (§ 242 BGB) verpflichtet den Arbeitgeber, sich so zu verhalten, wie es von einem redlichen Vertragspartner erwartet wird. Indem der Arbeitgeber eine Leistung mehrfach erbringt, erzeugt er Vertrauen aufseiten der Arbeitnehmer, dass diese Leistung fortgeführt wird.

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in seiner Rechtsprechung mehrfach bestätigt, dass eine betriebliche Übung entsteht, wenn eine Leistung mindestens drei Jahre in Folge erbracht wird, ohne dass ein Vorbehalt zur Freiwilligkeit erklärt wird. Bemerkenswert ist auch das Urteil des BAG vom 13. Mai 2015 (Az. 10 AZR 266/14), das feststellte, dass die betriebliche Übung selbst dann entstehen kann, wenn die Höhe der erbrachten Leistungen schwankt, solange die Leistung regelmäßig und ohne Vorbehalt gewährt wird. Die Kontinuität der Leistung ist entscheidend für das Vertrauen der Arbeitnehmer und damit für die Entstehung des vertraglichen Anspruchs.

 

III. Betriebliche Übung ausschließen: Die Rolle des Freiwilligkeitsvorbehalts

Um zu vermeiden, dass freiwillige Leistungen zu vertraglich geschuldeten Ansprüchen werden, bietet das Arbeitsrecht Arbeitgebern die Möglichkeit, sich durch einen sogenannten Freiwilligkeitsvorbehalt abzusichern. Dieser Vorbehalt muss jedoch unmissverständlich und präzise formuliert sein, damit er wirksam ist und der Entstehung einer betrieblichen Übung wirksam entgegenwirkt.

 

1. Einen wirksamen Freiwilligkeitsvorbehalt vereinbaren

Ein bloß pauschaler Hinweis im Arbeitsvertrag, dass Leistungen „ohne Anerkennung einer Rechtspflicht“ erbracht werden, reicht zwar im Ansatz aus, ist jedoch nur dann rechtssicher, wenn er ausdrücklich und bezogen auf eine bestimmte Leistung erfolgt. Der Arbeitgeber muss klarstellen, dass die gewährte Leistung keinerlei zukünftige Rechtsansprüche begründet und damit von vornherein als freiwillig eingestuft wird. Die Formulierung muss so eindeutig sein, dass die Arbeitnehmer die Freiwilligkeit der Leistung klar erkennen können.

Ein praktischer Weg, einen wirksamen Freiwilligkeitsvorbehalt zu etablieren, ist dessen Aufnahme in den Arbeitsvertrag oder in eine Begleitnotiz bei der Auszahlung der jeweiligen Leistung. Dabei sollte konkret auf die Leistung Bezug genommen werden, etwa durch Formulierungen wie: „Die Gewährung des Weihnachtsgeldes erfolgt freiwillig und ohne Anerkennung einer Rechtspflicht. Ein Rechtsanspruch für die Zukunft wird hierdurch nicht begründet.“ Auf diese Weise lässt sich verhindern, dass Arbeitnehmer durch wiederholte Zahlungen die Erwartung einer fortlaufenden Leistung entwickeln, die zu einem rechtlich bindenden Anspruch führt.

 

2. Rechtsprechung zum Ausschluss der betrieblichen Übung

Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) hat immer wieder klargestellt, dass ein wirksamer Freiwilligkeitsvorbehalt Voraussetzung ist, um die Entstehung einer betrieblichen Übung zu verhindern (vgl. bspw. BAG, Urteil vom 23. Oktober 2002 – 10 AZR 48/02). Ohne einen klar formulierten Vorbehalt läuft der Arbeitgeber Gefahr, dass selbst freiwillig gewährte Leistungen – wie Urlaubs- oder Weihnachtsgeld – durch mehrfache Wiederholung zum Bestandteil des Arbeitsvertrags werden. Einmal verankerte betriebliche Ansprüche lassen sich in der Regel nicht ohne weiteres widerrufen oder beenden.

 

IV. Betriebliche Übung im Arbeitsrecht: Beispiele

Neben dem Weihnachtsgeld gibt es zahlreiche weitere Beispiele für Leistungen, die durch eine betriebliche Übung entstehen können. Dazu gehören:

  • Zuschüsse zu Fahrtkosten oder Verpflegung: Gewährt der Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern regelmäßig Zuschüsse zu den Fahrtkosten oder zur Verpflegung, etwa in Form von Essensmarken oder Kantinensubventionen, kann daraus eine betriebliche Übung resultieren.
  • Sonderzuwendungen und Prämien: Zahlungen wie ein 13. Monatsgehalt, Boni oder Prämien für besondere Leistungen können ebenfalls durch eine betriebliche Übung zu vertraglich geschuldeten Leistungen werden.
  • Fortbildungskosten: Übernimmt der Arbeitgeber regelmäßig die Kosten für berufliche Weiterbildungen, kann auch dies eine betriebliche Übung begründen.

 

V. Können neu eingetretene Arbeitnehmer von der betrieblichen Übung profitieren?

Grundsätzlich gilt, dass auch neu eingetretene Arbeitnehmer von einer bereits bestehenden betrieblichen Übung profitieren. Dies ergibt sich aus den §§ 133 und 157 BGB, die die Auslegung von Willenserklärungen regeln. Demnach dürfen auch neue Arbeitnehmer darauf vertrauen, dass ihnen dieselben Leistungen gewährt werden wie den anderen Beschäftigten. Der Arbeitgeber kann jedoch in den Arbeitsverträgen mit neuen Mitarbeitern ausdrücklich festlegen, dass diese von der bestehenden betrieblichen Übung ausgeschlossen sind, sofern dies sachlich gerechtfertigt ist.

 

VI. Beendigung einer betrieblichen Übung

Eine einmal entstandene betriebliche Übung kann nicht einfach einseitig durch den Arbeitgeber beendet werden. Das Arbeitsrecht stellt hier hohe Anforderungen. Der Arbeitgeber kann eine betriebliche Übung nur durch eine Änderungskündigung oder durch eine einvernehmliche Vertragsänderung beenden. Eine Änderungskündigung bedeutet, dass der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis kündigt und gleichzeitig ein neues Arbeitsverhältnis zu veränderten Bedingungen anbietet. Dies ist jedoch nur möglich, wenn es dafür einen sachlichen Grund gibt und die Kündigung sozial gerechtfertigt ist (§ 2 KSchG).

Bitte unbedingt folgenden Haftungsausschluss bzgl. des Rechtslexikons beachten.