EncroChat-Daten als Beweismittel: Gefahr für den Rechtsstaat?

Es war ein Schlag, der in der internationalen Kriminalitätsbekämpfung seinesgleichen sucht: Mit der Entschlüsselung des Kryptomessengers EncroChat gelang den Ermittlungsbehörden im Jahr 2020 ein beispielloser Zugriff auf diverse Akteure der organisierten Kriminalität. Drogenkartelle, Waffenhändler und sogar Auftragsmörder – all jene, die sich hinter einer Fassade aus modernster Verschlüsselung sicher glaubten, wurden durch Millionen entschlüsselter Nachrichten enttarnt. Der Triumph schien perfekt: Festnahmen in vierstelliger Höhe, beschlagnahmte Vermögen in dreistelliger Millionenhöhe und eine breite gesellschaftliche Anerkennung der Ermittlungsbehörden.

Doch hinter den Zahlen und Erfolgen verbirgt sich ein komplexeres Bild – eines, das von rechtlichen Kontroversen, neuen Gewaltstrukturen und ungelösten Fragen zur Nachhaltigkeit geprägt ist. War EncroChat wirklich der erhoffte Wendepunkt im Kampf gegen die organisierte Kriminalität? Oder ist es vielmehr ein Mahnmal dafür, dass technologische Siege oft nur temporär und gesellschaftliche Folgen weitreichender sind als die Erfolge selbst?

Dieser Beitrag beleuchtet die Geschichte von EncroChat – vom gefeierten „Fort Knox der Kommunikation“ bis zum Sinnbild für die Herausforderungen moderner Strafverfolgung. Dabei werden nicht nur die spektakulären Ermittlungsmaßnahmen und deren juristische Aufarbeitung betrachtet, sondern auch die gesellschaftlichen Schattenseiten und die Frage, was dieser Fall über den Zustand des Rechtsstaats im digitalen Zeitalter verrät. Zudem wirft der Beitrag einen detaillierten Blick auf die einschlägige Rechtsprechung – vom Bundesgerichtshof bis zum Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof – und zeigt, wie diese den rechtlichen Rahmen für die Verwertung der EncroChat-Daten geprägt hat.


 

 


I. Was ist EncroChat?

Gegründet im Schatten Europas, bot EncroChat als Anbieter absoluter Diskretion hochmodifizierte Android-Smartphones an, die mehr als nur verschlüsselte Kommunikation ermöglichten. Sie versprachen ein Werkzeug, das staatlichen Überwachungsmechanismen angeblich uneinnehmbar gegenüberstand. Mit Funktionen wie der berühmten „Wipe-Funktion“, die auf Knopfdruck alle Daten unwiederbringlich löschen konnte, und einer parallelen Benutzeroberfläche, die unauffällige Nutzung vorgab, waren diese Geräte ein technologisches Meisterwerk der Verschleierung.

Doch die Zielgruppe, die EncroChat ansprach, war weniger ein IT-affines Publikum oder sicherheitsbewusste Geschäftsleute, sondern die dunklen Netzwerke der organisierten Kriminalität. Die Handys, mit Preisen von bis zu 2.500 Euro für ein halbes Jahr Nutzung, avancierten zu unverzichtbaren Werkzeugen für Drogenschmuggler, Waffenhändler und Auftragsmörder. Der Erfolg war bemerkenswert: EncroChat hatte bis zu 60.000 Nutzer in 120 Ländern.

 

Die Entschlüsselung: Das Ende der Illusion

Im Frühjahr 2020 kam nichtsdestotrotz die Stunde der Wahrheit. Französische und niederländische Behörden knackten das System, indem sie die Server infiltrierten und Überwachungssoftware auf den Endgeräten installierten. Plötzlich wurden vermeintlich unantastbare Gespräche in Echtzeit mitgelesen. Die Behörden sprachen von einem „beispiellosen Ermittlungserfolg“: Über 20 Millionen Nachrichten wurden abgefangen, Absprachen über Drogendeals, Waffenlieferungen und Gewalttaten wurden offengelegt. Doch EncroChat war sich bewusst, dass die Katastrophe unausweichlich war. Im Juni 2020 stellte das Unternehmen den Betrieb ein und forderte seine Nutzer auf, ihre Geräte zu zerstören.

 

II. Die juristische Auseinandersetzung zur Beweisverwertung von Encrochat-Daten

1. Beweisverwertbarkeit in Deutschland: Der Prüfstein des Rechtsstaats

Mit der Enthüllung von EncroChat-Daten wurde strafrechtliches Neuland betreten. Die zuvor ungeklärte Frage war: Dürfen Beweise, die unter fragwürdigen Umständen im Ausland erhoben wurden, in deutschen Strafverfahren genutzt werden? Der Bundesgerichtshof (BGH) setzte hierfür schon im Jahr 2022 einen entscheidenden Akzent. In seinem Beschluss vom 2. März 2022 (Az. 5 StR 457/21) erklärte das Gericht die Verwertbarkeit der Daten für zulässig. Der BGH hob hervor, dass die Schwere der mit den Daten aufgedeckten Straftaten – darunter Drogenhandel in großem Stil – eine Ausnahme von einem allgemeinen Beweisverwertungsverbot rechtfertige. Dies sei im Sinne einer Einzelfallprüfung zu entscheiden, die die Art der Beweismittel und das Gewicht des möglichen Verstoßes gegen rechtliche Vorgaben abwäge.

Die Argumentation lautete: Selbst wenn die Daten durch eine rechtswidrige Maßnahme erhoben wurden, müsse die Verwertung nicht kategorisch ausgeschlossen sein, solange die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibe. Diese Sichtweise wurde zur Grundlage zahlreicher nachfolgender Entscheidungen.

 

2. BVerfG: Keine verfassungsrechtlichen Einwände

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bestätigte die Linie des BGH mit seinem jüngsten Beschluss vom 1. November 2024 (Az. 2 BvR 684/22). Die Verfassungsbeschwerde eines Verurteilten, der sich gegen die Verwendung der EncroChat-Daten in seinem Verfahren wandte, wurde abgewiesen. Karlsruhe stellte insofern fest, dass weder das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Artikel 2 Absatz 1 GG i.V.m. Artikel 1 Absatz 1 GG) noch andere Grundrechte des Beschwerdeführers verletzt worden seien.

Entscheidend sei vielmehr, dass der Schutz der Grundrechte im Einzelfall gewährleistet sei. Besonders sensibel sei die Abwägung, wenn Informationen aus dem Kernbereich privater Lebensführung betroffen seien – was in den EncroChat-Fällen allerdings nicht gegeben war.

Mit Blick auf den Rechtsstaat führte das Gericht aus, dass dieser nur handlungsfähig bleibe, wenn schwere Straftaten effektiv verfolgt werden könnten. Die Entscheidung des BGH habe die Grenzen der Verhältnismäßigkeit daher nicht überschritten.

 

3. EuGH: Regeln für grenzüberschreitende Ermittlungen

Eine weitere juristische Hürde war die internationale Dimension des Falls. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte sich in seinem Urteil vom 30. April 2024 mit der Frage beschäftigt, unter welchen Bedingungen EncroChat-Daten von ausländischen Behörden an deutsche Ermittler übermittelt werden dürfen (Rs.: C-670/22). Kernpunkt war die Europäische Ermittlungsanordnung (EEA), die grenzüberschreitende Zusammenarbeit erleichtert.

Der EuGH entschied, dass eine EEA grundsätzlich auch von Staatsanwälten – und nicht zwingend von Richtern – erlassen werden kann. Allerdings müsse der betroffene Staat über Überwachungsmaßnahmen informiert werden, und die Rechte der Beschuldigten seien zu wahren. Beispielsweise müssten diese immer Gelegenheit haben, zu den Beweisen Stellung zu nehmen.

Die Luxemburger Richter betonten außerdem, dass die grenzüberschreitende Nutzung von Beweisen den gleichen Grundsätzen unterliegt wie innerhalb eines Staates. Dies sichert ein hohes Maß an Rechtsstaatlichkeit, lässt aber Raum für Diskussionen über die Verhältnismäßigkeit.

 

III. Gesellschaftliche Auswirkungen der Auflösung von EncroChat

Ein Schlag gegen die organisierte Kriminalität – oder ein Tropfen auf den heißen Stein?

Die Zahlen sprechen zunächst für sich: Über 6.500 Festnahmen europaweit, darunter mehr als 2.000 Ermittlungsverfahren allein in Deutschland, sowie die Beschlagnahmung von fast 900 Millionen Euro. Der EncroChat-Hack erscheint auf den ersten Blick wie ein Triumph der Strafverfolgung gegen die organisierte Kriminalität. Doch unter der Oberfläche dieser Erfolge mehren sich kritische Stimmen. Was als massiver Schlag gegen ein kriminelles Netzwerk dargestellt wurde, erweist sich bei näherer Betrachtung als ein weit weniger nachhaltiges Unterfangen.

Jan Reinecke, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter in Hamburg, bringt die Herausforderung auf den Punkt: „An die Drahtzieher kommen wir kaum heran.“ Tatsächlich richten sich die EncroChat-Ermittlungen primär gegen Zwischenhändler und kleinere Akteure – jene „Zahnräder“ im Getriebe der kriminellen Organisationen, die leicht ersetzbar sind. Reinecke fordert daher ein Anti-Mafia-Gesetz, das es ermöglichen würde, Mitglieder krimineller Vereinigungen allein aufgrund ihrer bloßen Zugehörigkeit strafrechtlich zu belangen. Solche Ansätze stoßen jedoch auf rechtliche und verfassungsrechtliche Hürden, da sie das Prinzip der Einzeltäterhaftung unterlaufen könnten. Dennoch steht die Frage im Raum, ob derartige Gesetzesreformen notwendig sind, um die Hintermänner effektiv zu verfolgen.

 

Neue Machtstrukturen und eine Eskalation der Gewalt

Mit der Zerschlagung von EncroChat wurde ein Vakuum geschaffen, das schnell von neuen Akteuren gefüllt wurde. Die Folge: Ein dramatischer Anstieg der Gewaltkriminalität in der organisierten Szene. Geiselnahmen, Schießereien und eine regelrechte Explosion von Gewaltdelikten sind vor allem in Ballungszentren wie Berlin, Hamburg oder Köln sind die Auswirkungen deutlich spürbar.

Die Kriminalstatistik belegt den Höchststand an Waffengewalt seit Jahren, während Experten berichten, dass die Zerschlagung etablierter Strukturen nicht nur neue Konflikte hervorgerufen, sondern auch kleinere, unberechenbare Gruppierungen auf den Plan gerufen habe. „Wo alte Hierarchien zerstört werden, entstehen neue Organisationen – oft brutaler und skrupelloser“, erklärt ein Ermittler. Der vermeintliche Erfolg gegen EncroChat wird so in Teilen von den langfristigen gesellschaftlichen Konsequenzen überschattet.

 

EncroChat-Alternativen: Eine Hydra der Verschlüsselung

Die Zerschlagung von EncroChat war kein Ende, sondern ein Neuanfang für die Branche abhörsicherer Kommunikation. Dienste wie Sky ECC und Omerta Digital Technologies sprangen in die entstandene Marktlücke – oft mit aggressiven Werbebotschaften, die direkt auf ehemalige EncroChat-Nutzer abzielten. Selbst nachdem Sky ECC 2021 ebenfalls geknackt wurde, bleibt die Nachfrage nach solchen Diensten ungebrochen. Die Vorstellung, dass ein einzelner Hack die organisierte Kriminalität langfristig schwächen könnte, wirkt angesichts dieser Realität naiv.

 

IV. Rechtliche Kontroversen um die Verwendung von EncroChat-Daten

Rechtsstaat und Transparenz – ein Spannungsfeld

Zuvorderst wirft die Verwendung von EncroChat-Daten komplexe Fragen zur Vereinbarkeit moderner Ermittlungsmethoden mit den Grundsätzen des Rechtsstaats auf. Insbesondere die Intransparenz der Überwachungsmaßnahmen, die in Frankreich als Staatsgeheimnis deklariert sind, stellt ein erhebliches Problem dar. Für Strafverteidiger ist diese Geheimhaltung ein massiver Eingriff in das Recht auf eine faire Verteidigung. Ohne Einblick in die genauen Methoden der Datenerhebung wird es nahezu unmöglich, die Rechtmäßigkeit der Beweise umfassend zu prüfen oder potenzielle Verfahrensfehler aufzudecken.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und der Europäische Gerichtshof (EuGH) haben zwar klare Leitplanken definiert, doch bleibt die Frage offen, wie diese in der Praxis umgesetzt werden können. Besonders problematisch ist die Tatsache, dass viele der Überwachungsmaßnahmen nicht von einem Richter, sondern von Staatsanwaltschaften angeordnet wurden.

 

Verhältnismäßigkeit und die Jagd auf Einzeltäter

Ein weiterer Brennpunkt der Kritik ist die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen. Der Strafrechtswissenschaftler Arndt Sinn betont, dass die Fokussierung auf kleinere Akteure und Produkte zwar kurzfristig Erfolge bringe, langfristig jedoch die strukturellen Probleme der organisierten Kriminalität unberührt lasse. „Wir riskieren, in alte Muster zu verfallen: kleine Fische zu verfolgen und die großen Netzwerke unangetastet zu lassen“, warnt er.

Ein grundsätzlicher Konflikt besteht zwischen dem Ziel, Straftaten effektiv aufzuklären, und dem Schutz individueller Freiheitsrechte. Sind Massenüberwachungen und der Einsatz von Technologien wie bei EncroChat gerechtfertigt, wenn letztlich vor allem Einzeltäter überführt werden? Kritiker argumentieren, dass dies eine gefährliche Tür öffnet: Es könnte nach dieser Betrachtung gar ein Präzedenzfall für künftige Eingriffe in die Privatsphäre geschaffen werden, der weit über den Strafverfolgungszweck hinausgeht.

 

V. Fazit: EncroChat – Ein Erfolg mit Schattenseiten

Die Auflösung von EncroChat steht unbestritten für einen der größten Ermittlungserfolge der letzten Jahre. Die Durchdringung eines als „unknackbar“ geltenden Kommunikationssystems, die Entschlüsselung von Millionen Chatnachrichten und die Aufdeckung unzähliger Verbrechen zeigen, wozu internationale Zusammenarbeit und technologischer Fortschritt in der Strafverfolgung imstande sind. Doch was auf den ersten Blick als Triumph erscheint, wird bei genauerer Betrachtung zu einem ambivalenten Lehrstück über die Herausforderungen moderner Kriminalitätsbekämpfung und die Grenzen des Rechtsstaats.

Die Illusion eines nachhaltigen Erfolgs

Die nackten Zahlen beeindrucken: Tausende Festnahmen, hunderte von Ermittlungsverfahren und Millionen von Euro, die der organisierten Kriminalität entzogen wurden. Doch die Realität hinter diesen Zahlen ist ernüchternd. Die Zerschlagung von EncroChat hat zwar Netzwerke gestört, aber keine nachhaltige Schwächung der organisierten Kriminalität bewirkt. Im Gegenteil: Alte Strukturen wurden durch neue, oft noch brutalere Gruppierungen ersetzt. Das kriminelle Vakuum, das EncroChat hinterließ, füllten Akteure, die sich durch skrupellose Gewalt und ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit auszeichnen.

Die Strafverfolgung hat bewiesen, dass sie in der Lage ist, digitale Barrieren zu überwinden, doch der Fokus auf Zwischenhändler und kleinere Akteure hat die eigentlichen Drahtzieher weitgehend unberührt gelassen. Ohne neue Ansätze und eine stärkere Fokussierung auf die Hintermänner wird dieser Erfolg wohl nur eine Episode im andauernden Kampf gegen die organisierte Kriminalität bleiben.

Technologische Hydra: Das Problem der Verschlüsselung

EncroChat war kein Anfang und kein Ende, sondern Teil eines größeren Trends. Die Nachfrage nach abhörsicherer Kommunikation ist ungebrochen, und andere verschlüsselte Dienste sind auf dem besten Weg, die entstandene Marktlücke geschlossen. Diese technologischen Hydra-Köpfe wachsen schneller nach, als sie abgeschlagen werden können. Die Vorstellung, dass ein einzelner Ermittlungserfolg diese Dynamik nachhaltig stoppen könnte, ist eine gefährliche Illusion. Stattdessen zeigt sich, dass die technologische Innovation in der Kriminalitätsbekämpfung stets hinter der der Kriminellen hinterherhinkt.

Ein Erfolg mit bitterem Nachgeschmack

Der Hack hat kriminelle Netzwerke erschüttert, aber auch Gewalt und Unordnung in der Unterwelt begünstigt. Er hat Verbrechen aufgeklärt, aber dabei Fragen nach Verhältnismäßigkeit und rechtsstaatlicher Transparenz aufgeworfen.

Am Ende bleibt EncroChat ein Relikt dafür, dass Erfolge im Kampf gegen die Kriminalität nicht nur an der Zahl der Festnahmen oder beschlagnahmten Gelder gemessen werden dürfen. Sie müssen nachhaltige Veränderungen bewirken, ohne die Grundfesten des Rechtsstaats zu erschüttern. Ob dieser Balanceakt gelingt, wird sich nicht an EncroChat allein entscheiden – doch die Lehren aus diesem Fall könnten wegweisend für die Zukunft der digitalisierten und modernen Kriminalitätsbekämpfung sein.

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Jurawelt Redaktion

Christopher Molter

Studium:

  • Student der Rechtswissenschaften an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht
  • Schwerpunktbereich: Bank- und Kapitalmarktrecht
  • Auslandsaufenthalt an der University of Alberta (Kanada)

Jurawelt:

  • Redakteur & Studentischer Mitarbeiter