“Höhere Gewalt” ist ein juristischer Begriff, der in vielen Rechtsordnungen und Vertragswerken von Bedeutung ist. Die zunehmenden unvorhersehbaren Ereignisse wie die Corona-Pandemie, Naturkatastrophen und politische Konflikte haben die Relevanz dieses Begriffs in der internationalen Geschäftsabwicklung unterstrichen. Unternehmen und Verbraucher müssen sich mit den rechtlichen Konsequenzen solcher Ereignisse auseinandersetzen, insbesondere im Hinblick auf Lieferverzögerungen, Zahlungsausfälle und Vertragsstörungen.
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Der Begriff “höhere Gewalt” (auch “Force Majeure” genannt) ist im deutschen Recht nicht ausdrücklich gesetzlich definiert, sondern wird durch die Rechtsprechung geprägt. Der Bundesgerichtshof (BGH) beschreibt höhere Gewalt als ein „von außen kommendes, keinen betrieblichen Zusammenhang aufweisendes und auch durch die äußerste vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht abwendbares Ereignis“ (BGH, Urteil vom 16.05.2017, Az.: X ZR 142/15). Diese Definition unterstreicht drei wesentliche Merkmale:
Beispiele für Ereignisse, die typischerweise als höhere Gewalt anerkannt werden, umfassen:
International gibt es keinen einheitlichen Begriff der “höheren Gewalt”, und die Definition sowie die rechtlichen Folgen können je nach Rechtsordnung erheblich variieren. Zwei prominente Begriffe in diesem Zusammenhang sind:
Um als höhere Gewalt anerkannt zu werden, müssen bestimmte Kriterien erfüllt sein:
Im deutschen Zivilrecht führt das Vorliegen höherer Gewalt in bestimmten Fällen zur Leistungsbefreiung gemäß § 275 Absatz 1 BGB. Diese Norm sieht vor, dass der Schuldner von seiner Leistungspflicht befreit ist, wenn die Erbringung der geschuldeten Leistung für ihn oder jedermann absolut unmöglich ist.
Beispiele für absolute Unmöglichkeit:
In solchen Fällen entfällt auch in der Regel die Pflicht des Gläubigers zur Gegenleistung gemäß § 326 Absatz 1 BGB, das heißt, der Gläubiger muss den vereinbarten Kaufpreis nicht zahlen.
Neben der Unmöglichkeit der Leistung spielt die Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) eine wesentliche Rolle im Zusammenhang mit höherer Gewalt. Diese Norm greift ein, wenn sich nach Vertragsschluss Umstände schwerwiegend verändert haben, die zur Grundlage des Vertrages geworden sind, und das Festhalten am unveränderten Vertrag unzumutbar wäre.
Voraussetzungen der Störung der Geschäftsgrundlage:
Beispiel:
In solchen Fällen kann die benachteiligte Partei eine Anpassung des Vertrages verlangen. Ist eine Anpassung nicht möglich oder zumutbar, kann sie vom Vertrag zurücktreten.
In vielen Verträgen, insbesondere in Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB), finden sich Klauseln zur höheren Gewalt. Diese Klauseln definieren, welche Ereignisse als höhere Gewalt gelten und welche Rechtsfolgen eintreten.
Typische Regelungen in Force-Majeure-Klauseln:
Beispiel einer Force-Majeure-Klausel: „Ereignisse höherer Gewalt, wie Naturkatastrophen, Kriege, Pandemien oder staatliche Maßnahmen, entbinden die Parteien für die Dauer und im Umfang der Auswirkungen von ihren vertraglichen Verpflichtungen. Die betroffene Partei informiert die andere Partei unverzüglich über das Eintreten und die voraussichtliche Dauer des Ereignisses. Sollte die höhere Gewalt länger als drei Monate andauern, sind beide Parteien berechtigt, den Vertrag ohne Schadensersatzansprüche zu kündigen.“
Eine wesentliche Rechtsfolge bei höherer Gewalt ist die Mitteilungspflicht. Die betroffene Partei muss den Vertragspartner innerhalb einer angemessenen Frist über das Eintreten des Ereignisses und dessen Auswirkungen informieren. Diese Mitteilung sollte präzise Angaben enthalten, damit der andere Vertragspartner die Möglichkeit hat, selbst Maßnahmen zu ergreifen.
Form und Inhalt der Mitteilung:
Unterlässt die betroffene Partei diese Mitteilung oder ist sie unzureichend, kann sie ihre Rechte aus der höheren Gewalt verlieren und sich schadensersatzpflichtig machen, es sei denn, der Vertragspartner kannte den Hinderungsgrund bereits.
Im internationalen Kontext hat der Begriff “höhere Gewalt” eine besondere Bedeutung, da er in verschiedenen Rechtsordnungen und internationalen Verträgen unterschiedlich definiert und gehandhabt wird. Diese Vielfalt erfordert ein tiefgehendes Verständnis der jeweiligen nationalen und internationalen Regelungen, um rechtliche Unsicherheiten und Streitigkeiten zu vermeiden. Der Abschnitt beleuchtet die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Definition und den rechtlichen Konsequenzen höherer Gewalt in verschiedenen Ländern und internationalen Abkommen.
Französisches Recht: Im französischen Recht wird der Begriff “force majeure” verwendet, der sowohl Naturereignisse als auch menschlich verursachte Katastrophen umfassen kann. Der französische Code Civil definiert “force majeure” als ein Ereignis, das:
Dieser umfassende Ansatz berücksichtigt sowohl Naturkatastrophen als auch politische Unruhen und andere außergewöhnliche Ereignisse.
Englisches Recht: Im englischen Recht gibt es zwei relevante Begriffe: “act of God” und “force majeure”.
UN-Kaufrecht (CISG): Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über Verträge über den internationalen Warenkauf (CISG) enthält in Art. 79 eine Regelung zur höheren Gewalt. Danach ist eine Partei von der Haftung befreit, wenn sie nachweist, dass die Nichterfüllung ihrer Pflichten auf einem außerhalb ihres Einflussbereichs liegenden Hinderungsgrund beruht, den sie bei Vertragsschluss nicht vorhersehen und dessen Folgen sie nicht vermeiden konnte.
Voraussetzungen nach Art. 79 CISG:
ICC Force Majeure and Hardship Clauses: Die International Chamber of Commerce (ICC) hat standardisierte Force-Majeure- und Hardship-Klauseln entwickelt, die in internationalen Verträgen verwendet werden können. Die aktualisierte Version von 2020 bietet eine klare Definition von “force majeure” und listet spezifische Ereignisse auf, die darunter fallen.
Inhalte der ICC-Klauseln:
Beispiel 1: Lieferkettenstörungen durch Pandemien Ein international tätiger Automobilzulieferer kann aufgrund einer Pandemie die erforderlichen Teile nicht rechtzeitig liefern. In diesem Fall könnte die höhere Gewalt gemäß Art. 79 CISG geltend gemacht werden, sofern die Bedingungen erfüllt sind. Dies würde den Lieferanten von der Haftung für Verzögerungen befreien.
Beispiel 2: Naturkatastrophen im Bauwesen Ein Bauunternehmen, das ein Großprojekt in einem Erdbebengebiet durchführt, kann die Arbeiten aufgrund eines Erdbebens nicht fortsetzen. Nach den FIDIC-Musterverträgen könnte das Unternehmen eine Bauzeitverlängerung beantragen und im Extremfall den Vertrag kündigen, wenn das Ereignis die Fertigstellung dauerhaft unmöglich macht.
Force-Majeure-Klauseln sind in der Praxis von großer Bedeutung, insbesondere bei internationalen Verträgen und Geschäftsbeziehungen. Sie bieten einen rechtlichen Rahmen, um mit unvorhersehbaren Ereignissen umzugehen, die die Erfüllung vertraglicher Pflichten unmöglich machen. Die Relevanz dieser Klauseln hat in den letzten Jahren zugenommen, da globale Ereignisse wie die COVID-19-Pandemie, Naturkatastrophen und politische Unruhen vermehrt auftreten und die Geschäftstätigkeit erheblich beeinträchtigen können.
Typische Anwendungsfälle:
Empfehlungen für die Vertragsgestaltung:
Beispiel 1: Lieferkettenstörung durch Naturkatastrophe Ein internationaler Hersteller von Elektronikgeräten ist auf Bauteile aus einem Land angewiesen, das von einem schweren Erdbeben betroffen ist. Die Force-Majeure-Klausel im Liefervertrag könnte folgendermaßen aussehen:
„Höhere Gewalt umfasst Naturkatastrophen, einschließlich, aber nicht beschränkt auf Erdbeben, Überschwemmungen und Hurrikane, die die Produktion und den Transport der Waren erheblich beeinträchtigen. Im Falle höherer Gewalt verlängern sich die Lieferfristen entsprechend um die Dauer des Ereignisses. Die betroffene Partei informiert die andere Partei unverzüglich schriftlich über das Eintreten des Ereignisses und dessen voraussichtliche Dauer. Sollte die höhere Gewalt länger als drei Monate andauern, sind beide Parteien berechtigt, den Vertrag ohne Schadensersatzansprüche zu kündigen.“
Beispiel 2: Veranstaltungsausfall wegen Pandemie Ein Veranstalter plant eine internationale Konferenz, die aufgrund einer Pandemie abgesagt werden muss. Die Force-Majeure-Klausel könnte folgendermaßen formuliert sein:
„Höhere Gewalt umfasst Pandemien und Epidemien, die durch behördliche Maßnahmen oder gesundheitliche Risiken die Durchführung der Veranstaltung unmöglich machen. Der Veranstalter ist berechtigt, die Veranstaltung zu verschieben oder abzusagen, ohne dass den Teilnehmern Ansprüche auf Schadensersatz zustehen. Die betroffene Partei informiert die andere Partei unverzüglich schriftlich über das Eintreten des Ereignisses und die getroffenen Maßnahmen. Bei Absage erhalten die Teilnehmer ihre bereits gezahlten Teilnahmegebühren zurück.“
Arbeitsrecht: Im Arbeitsrecht kann höhere Gewalt dazu führen, dass der Arbeitnehmer von seiner Arbeitspflicht befreit wird, ohne dass dies zu einem Verlust seines Vergütungsanspruchs führt. Gemäß § 616 BGB behält der Arbeitnehmer seinen Anspruch auf Vergütung, wenn er für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne eigenes Verschulden an der Erbringung seiner Arbeitsleistung verhindert ist.
Beispiele:
Reiserecht: Das Reiserecht beinhaltet spezielle Regelungen für Fälle höherer Gewalt, die insbesondere im Kontext von Pauschalreisen relevant sind. Gemäß § 651h Absatz 1 BGB kann der Reisende vor Reisebeginn vom Vertrag zurücktreten, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigen.
Beispiel: Aufgrund eines Hurrikans wird der Zielort einer Pauschalreise unbewohnbar. Der Reisende kann den Reisevertrag stornieren und erhält den vollen Reisepreis zurück.
Verkehrsrecht: Im Straßenverkehrsrecht ist höhere Gewalt gemäß § 7 Absatz 2 StVG ein Ausschlussgrund für die Gefährdungshaftung des Fahrzeughalters. Wenn ein Verkehrsunfall durch höhere Gewalt verursacht wird, entfällt die Haftung des Halters.
Beispiel: Ein Fahrer verliert aufgrund eines plötzlichen und unerwarteten Erdbebens die Kontrolle über sein Fahrzeug und verursacht einen Unfall. Hier greift § 7 Absatz 2 StVG, und der Halter haftet nicht für die entstandenen Schäden.
Versicherungsrecht: Im Versicherungsrecht sind Ereignisse höherer Gewalt oft in den Vertragsbedingungen berücksichtigt, insbesondere in Exportkreditversicherungen, die politische Risiken und Naturkatastrophen abdecken.
Beispiel: Ein Unternehmen, das seine Waren in ein politisch instabiles Land exportiert, schließt eine Versicherung ab, die Schäden durch höhere Gewalt wie Krieg oder Embargos abdeckt. Tritt ein solches Ereignis ein, kann das Unternehmen eine Entschädigung von der Versicherung verlangen.
Baurecht: Im Baurecht können Ereignisse höherer Gewalt gemäß § 6 Absatz 2 Nr. 1 lit. c) VOB/B zu einer Verlängerung der Ausführungszeit führen. Dies schützt den Auftragnehmer vor Vertragsstrafen und anderen rechtlichen Konsequenzen, die durch Verzögerungen entstehen, die er nicht zu vertreten hat.
Beispiel: Ein Bauunternehmen kann aufgrund eines extremen und unerwarteten Schneesturms die Arbeiten an einer Baustelle nicht fortsetzen. Die Bauzeit wird entsprechend verlängert, ohne dass dem Unternehmen daraus Nachteile entstehen.
Seerecht: Im Seerecht sind die Gefahren der See, wie schwere Stürme und andere Naturereignisse, häufig als höhere Gewalt anerkannt. Diese Ereignisse können die Haftung des Reeders oder Frachtführers ausschließen, wenn sie die Erfüllung der Transportverpflichtungen unmöglich machen.
Beispiel: Ein Frachtschiff gerät in einen schweren Sturm und kann die Ladung nicht wie geplant liefern. Der Reeder haftet nicht für die verspätete Lieferung oder den Verlust der Ladung, sofern der Sturm als höhere Gewalt anerkannt wird.
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