Neue Grundsicherung im Koalitionsvertrag 2025

Die Bundesregierung plant einen tiefgreifenden Umbau der sozialen Sicherung – verpackt unter dem unscheinbaren Begriff „Neue Grundsicherung“. Selten war ein sozialpolitisches Vorhaben in Koalitionsverhandlungen jedoch derart umstritten. Kritiker sprechen bereits von einem „Roll-back in die Hartz-Ära“ – manche sogar von einem Modell „Merz-I“.

Der Grund: Die geplanten Reformen umfassen Leistungskürzungen, die bis zur vollständigen Streichung reichen könnten – trotz gegenteiliger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Der Verdacht liegt nahe: Mit der neuen Regelung wird nicht nur das Bürgergeld abgelöst, sondern auch ein System installiert, das Erwerbslose vorrangig disziplinieren statt unterstützen soll.

Vor diesem Hintergrund analysieren wir den Koalitionsvertrag vom 09.04.2025 – und beleuchten sowohl die rechtlichen Implikationen als auch die gesellschaftliche Tragweite der Reform.

Vorab: Welche rechtliche und gesellschaftliche Relevanz hat die Neue Grundsicherung?

Rechtlicher Kontext

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 5. November 2019 (Az. 1 BvL 7/16) entschieden: Kürzungen von Leistungen in der Grundsicherung sind nur unter bestimmten Voraussetzungen und bis maximal 30 % des Regelbedarfs zulässig. Eine vollständige Streichung verstößt gegen das aus Artikel 1 Absatz 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 1 GG) abgeleitete Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Der im Koalitionsvertrag vorgesehen vollständige Leistungsentzug bei wiederholter Arbeitsverweigerung steht daher juristisch auf wackligen Beinen.

Gesellschaftlicher Kontext

Allein im Jahr 2024 bezogen durchschnittlich rund 5,56 Millionen Menschen in Deutschland Bürgergeld oder vergleichbare Leistungen nach dem SGB II – darunter etwa 3,99 Millionen erwerbsfähige, 1,51 Millionen nicht erwerbsfähige und 60.000 sonstige Leistungsberechtigte. Besonders im Fokus der Reform steht dabei die kleine Minderheit sogenannter „Totalverweigerer“. Tatsächlich waren laut der Bundesagentur für Arbeit 2023 bei über 200.000 Sanktionen, von denen mehr als 80 % auf einfache Meldeversäumnisse zurückgingen, weniger als sieben Prozent der Sanktionen auf Arbeitsverweigerung zurückzuführen.

Bürgergeld vs. Neue Grundsicherung

Welche Veränderungen stehen in der Sozialpolitik bevor?

Die geplante Neue Grundsicherung soll das Bürgergeld nicht nur ablösen, sondern dessen Grundlogik grundlegend verändern. Was unter der Ampel als Versuch galt, Erwerbslosen mit mehr Augenhöhe und Weiterbildung zu begegnen, wird nun neu justiert – mit deutlichen Veränderungen:

  • „Fordern und Fördern“ statt Vertrauen: Wer erwerbsfähig ist, soll dem Arbeitsmarkt uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Wer sich verweigert, muss mit empfindlichen Sanktionen bis hin zur Totalstreichung rechnen – trotz verfassungsrechtlicher Bedenken.

  • Vermittlung statt Perspektive: Der Vermittlungsvorrang verdrängt das Prinzip nachhaltiger Qualifizierung. Ziel ist nicht mehr langfristige Stabilisierung, sondern schnelle Eingliederung, auch in prekäre Beschäftigung.

  • Sanktionen mit Tempo: Leistungskürzungen sollen schneller, einfacher und härter durchgesetzt werden. Im Fokus: die kleine Minderheit sogenannter „Totalverweigerer“ – statistisch kaum relevant, politisch aber hoch symbolisch.

  • Mehr Geld, mehr Kontrolle: Mindestens eine Milliarde Euro sollen die Jobcenter zusätzlich erhalten – nicht vorrangig für soziale Innovation, sondern für mehr Effizienz bei Vermittlung und Disziplinierung.

I. Die Neue Grundsicherung im Koalitionsvertrag 2025

Im Zentrum der Neuen Grundsicherung steht ein grundlegend verändertes Selbstverständnis von Arbeitslosigkeit: Wer arbeiten kann, soll dies tun, unabhängig von der Qualität oder Nachhaltigkeit der Beschäftigung.

1. Ein neuer Leitgedanke

„Jede arbeitslose Person hat sich aktiv um Beschäftigung zu bemühen“, heißt es wörtlich im finalen Koalitionsvertrag vom 09.04.2025.

Erwerbsfähige Personen sollen künftig prioritär in Arbeit vermittelt werden. Es sind zwar Qualifizierungs- und Gesundheitsförderungsmaßnahmen für Personen mit sogenannten Vermittlungshemmnissen vorgesehen, im Grundsatz aber gilt der neue Leitgedanke: Vermittlung geht vor Perspektive.

2. Der Vermittlungsvorrang

„Für die Menschen, die arbeiten können, soll der Vermittlungsvorrang gelten.“

Die bisherige Priorisierung nachhaltiger Qualifizierungen, wie sie mit dem Bürgergeld angestrebt wurde, wird zurückgedrängt. Arbeitslose sollen möglichst schnell in Erwerbstätigkeit vermittelt werden – ebenso in befristete oder geringfügige Beschäftigungen. Das Ziel: kurzfristige Entlastung der Jobcenter und Reduktion der Leistungsdauer.

3. Sanktionsverschärfung

„Mitwirkungspflichten und Sanktionen […] verschärfen.“

Die Koalition kündigt nichts weniger als ein schärferes Sanktionsregime an – und das, obwohl das Bundesverfassungsgericht 2019 Grenzen gezogen hat. Die Zusage, „die Rechtsprechung […] zu beachten“, bleibt interpretativ offen – vor allem, da „bei Menschen, die […] wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, […] ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen“ werden soll. In der Praxis begründet dies eine Verpflichtung zur regelmäßigen Bewerbung. Zwar ist im Papier keine konkrete Anzahl genannt, doch die Formulierung eröffnet den Jobcentern weitreichende Spielräume.

4. Lebensleistung statt Schonvermögen

„Die Höhe des Schonvermögens koppeln wir an die Lebensleistung.“

Was auf den ersten Blick fair wirkt, ist schwer operationalisierbar. Obendrein bleibt offen, wie die Lebensleistung konkret bemessen oder überhaupt definiert wird. Die Abschaffung der Karenzzeit bedeutet jedenfalls: Ersparnisse müssen schneller offengelegt und aufgebraucht werden.

5. Inflationsschutz ausgebremst

„Wir werden den Anpassungsmechanismus der Regelsätze […] auf den Rechtsstand vor der Corona-Pandemie zurückführen.“

Sogar das ist ein Rückschritt: Bürgergeld-Regelsätze sollten sich eigentlich zeitnah an die Inflation anpassen. Die Reform kehrt nun zur verzögerten Anpassung zurück – Leistungsempfänger müssen Preissteigerungen vorfinanzieren.

II. Kürzungen statt Inflationsschutz?

Der Koalitionsvertrag 2025 markiert daneben in der materiellen Ausgestaltung der Grundsicherung einen Kurswechsel – mit spürbaren Folgen für Leistungsbeziehende. Dort, wo die Auszahlung des Bürgergelds punktuell Fortschritte bei Inflationsanpassung und Vermögensschutz versprach, wird nun zurückgerudert. Die Folge: Beziehende müssen steigende Preise vorfinanzieren. Im Einzelnen festgehaltene Reformen:

1. Rückkehr zur alten Berechnungslogik

„Wir werden den Anpassungsmechanismus der Regelsätze in Bezug auf die Inflation auf den Rechtsstand vor der Corona-Pandemie zurückführen.“

Diese Rückkehr zur alten Berechnungslogik bedeutet konkret: Preissteigerungen werden nicht mehr zeitnah, sondern erneut verzögert in die Regelsätze eingepreist. Wer Grundsicherung bezieht, muss somit inflationsbedingte Mehrkosten – etwa für Energie oder Lebensmittel – über Monate hinweg ausgleichen, obwohl die Mittel dafür häufig nicht vorhanden sind. De facto zwingt diese Reform Erwerbslose und Niedrigverdienende zur Vorfinanzierung eines Existenzminimums, das ihnen eigentlich verfassungsrechtlich zusteht.

2. Vermögensschutz

„Wir werden die Karenzzeit für Vermögen abschaffen. Die Höhe des Schonvermögens koppeln wir an die Lebensleistung. Das werden wir bürokratiearm umsetzen.“

Gleichermaßen ändert sich beim Vermögensschutz der Kurs: Die bisherige Karenzzeit, in der Rücklagen unangetastet blieben, fällt weg. Künftig müssen Leistungsbeziehende ihr Vermögen von Beginn an offenlegen und – soweit kein Schutz greift – verwerten. Zwar verspricht die Koalition eine Berücksichtigung der „Lebensleistung“, wobei es noch nicht feststeht, wie genau diese bemessen wird. Die Gefahr: Eine intransparente und bürokratisch schwer greifbare Bewertung durch die Verwaltung, die sich weder an pauschalen Freibeträgen noch an klaren Kriterien orientiert.

Beispiel: Wer Ersparnisse hat (z. B. für die Altersvorsorge als Solo-Selbstständiger), könnte gezwungen sein, diese Rücklagen aufzulösen, bevor Leistungen fließen können.

III. Passiv-Aktiv-Transfer: Bildung statt Beihilfe?

„Wir werden den Passiv-Aktiv-Transfer gesetzlich verankern und ausweiten“, heißt es im Koalitionsvertrag. Ziel ist es, Gelder aus passiven Leistungen – wie dem bloßen Existenzminimum – künftig stärker in Qualifizierung, Gesundheitsförderung und Reha zu investieren. Das klingt nach Aufbruch, doch wie viel Substanz steckt wirklich dahinter?

Fokus auf Qualifizierung: Laut DGB haben rund zwei Drittel der Bürgergeld-Beziehenden keinen Berufsabschluss – ein klarer Hinweis darauf, wie groß der Bedarf an echter beruflicher Perspektive ist. Qualifizierung statt Kurzzeitarbeit wäre also das Gebot der Stunde.

Entscheidend wird daher sein, ob Weiterbildung und Reha zur Chance oder zur Pflichtmaßnahme werden. Denn wo „Aktivierung“ zur Voraussetzung für Leistungen gemacht wird, droht Fördern in Fördern und Fordern unterzugehen.

IV. Bürokratieabbau oder Verdrängung?

„Wir setzen eine Kommission zur Sozialstaatsreform […] mit dem Auftrag zur Modernisierung und Entbürokratisierung ein“ – so steht es im Koalitionsvertrag.

Konkret soll die Kommission prüfen, „wie unter anderem […] die Zusammenlegung von Sozialleistungen“ und „die Möglichkeit der Pauschalierung von Leistungen“ umgesetzt werden kann. Was fehlt: eine Garantie, dass die realen Lebensverhältnisse weiterhin individuell berücksichtigt werden. Kritiker fürchten, dass insbesondere bei den Wohnkosten eine Pauschale eingeführt werden könnte – ohne Rücksicht auf regionale Mietpreisunterschiede.

325.000 Haushalte zahlen bereits heute laut Bundesagentur für Arbeit aus eigener Tasche zur Miete hinzu – durchschnittlich rund 107 Euro monatlich. Eine pauschale Mietobergrenze würde diese Zahl drastisch steigen lassen. Die Gefahr: Wohnungsverlust, Überschuldung, schlimmstenfalls Obdachlosigkeit.

Zwar betont der Koalitionsvertrag, man wolle „das soziale Schutzniveau bewahren“. Dennoch bleiben die Formulierungen vage. Gerade bei vulnerablen Gruppen wie Alleinerziehenden oder Menschen mit chronischen Erkrankungen wären einheitliche Regelsätze oder Wohnpauschalen ein direkter Rückschritt.

V. Kritik und Ausblick

1. Rückbau des Bürgergeld-Gedankens:

Was mit dem Bürgergeld noch vorsichtig als Versuch begann, Vertrauen und Respekt in der Grundsicherung zu institutionalisieren, wird nun in rasantem Tempo zurückgebaut. Die sogenannte „Neue Grundsicherung“ ist nicht weniger als die Rehabilitierung einer Sozialpolitik, die sich primär an der Disziplinierung der Armen orientiert – diesmal verpackt als Verwaltungsmodernisierung. Nichtsdestotrotz lauert unter der Oberfläche ein gesellschaftspolitischer Dammbruch: weg von Teilhabe, hin zur Sanktionspädagogik.

2. Verfassungsrechtliche Bedenken

Dabei wird nicht nur sozialpolitisches Porzellan zerschlagen, sondern auch auf juristisch dünnem Eis getanzt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Grundsatzurteil vom 5. November 2019 (Az. 1 BvL 7/16) klargestellt: Das verfassungsrechtlich garantierte menschenwürdige Existenzminimum – abgeleitet aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – ist nicht relativierbar. Es ist dem Zugriff des Staates entzogen. Dies gilt ebenso, wenn Betroffene ihren Mitwirkungspflichten nicht nachkommen. Zwar hat das Gericht Mitwirkungspflichten und moderate Sanktionen – namentlich Kürzungen bis 30 % – unter bestimmten Voraussetzungen als zulässig anerkannt.

3. Verfassungsrechtlicher Schutz

Allerdings ist ein vollständiger Leistungsentzug nur in absoluten Ausnahmefällen denkbar: nämlich dann, wenn die betroffene Person ein zumutbares, konkret existenzsicherndes Arbeitsangebot erhält, das ihre Bedürftigkeit sofort und vollständig beenden würde – und sie dieses wissentlich und willentlich verweigert. Selbst dann wäre die Verhältnismäßigkeit sorgfältig zu prüfen, individuelle Härtefälle zu berücksichtigen, und es bedürfte eines gesicherten Verfahrens mit klaren Schutzmechanismen. Der Koalitionsvertrag hingegen lässt zentrale Schutzvorkehrungen vermissen.

4. Wirtschaftliche Folgen

Gleichwohl es geht um mehr als nur rechtsdogmatische Unsauberkeit: Die neue Sanktionsarchitektur begünstigt strukturell den Niedriglohnsektor. Wenn Erwerbslose faktisch gezwungen werden, jegliches Arbeitsangebot anzunehmen – unabhängig von Qualifikation, Lohnniveau oder langfristiger Perspektive –, dann profitieren davon in erster Linie Unternehmen, die geringe Löhne zahlen und auf eine permanente “Reservearmee billiger Arbeitskräfte” setzen.

5. Die Berufsfreiheit

Indes wird zusätzlich das Recht auf freie Berufswahl, wie es Art. 12 GG garantiert, dadurch systematisch unterlaufen. Betroffene werden nicht ermutigt, eine Tätigkeit zu suchen, die ihren Fähigkeiten, Qualifikationen oder Interessen entspricht – sondern gezwungen, jede zumutbare Arbeit anzunehmen, unabhängig von Sinnhaftigkeit oder beruflicher Perspektive.

6. Hartz-IV-Parallellen

Wer Sozialleistungen an einen faktischen Arbeitszwang koppelt, drückt das Lohnniveau nach unten – und verschafft jenen Unternehmen Vorteile, die Löhne unterhalb des Existenzminimums zahlen. Die Betroffenen hingegen rotieren im System aus Kurzzeitjobs, Aufstockung und erneuter Bedürftigkeit – mit allen sozialen und gesundheitlichen Folgekosten. Diese Dynamik ist seit Hartz-IV bekannt – sie wird nun reaktiviert, ohne dass sich der Gesetzgeber ernsthaft mit ihrer empirisch belegten Ineffizienz oder den langfristigen sozialen Verwerfungen auseinandersetzt.

Fazit: Die Neue Grundsicherung – in der jetzigen Form – bewegt sich juristisch auf äußerst unsicherem Terrain. Sollte der Gesetzgeber den vollständigen Leistungsentzug tatsächlich gesetzlich verankern, droht ein erneutes Normenkontrollverfahren. Über die juristische Sphäre hinaus wird außerdem inhaltlich ein gefährliches Narrativ gestützt: Erwerbslose als Verdächtige, als „Totalverweigerer“, die durch konsequente Kürzung zu produktiven Mitgliedern der Gesellschaft erzogen werden müssen. Diese Sichtweise blendet jedoch aus, dass viele Betroffene unter gesundheitlichen Belastungen, Bildungsdefiziten oder psychischen Erkrankungen leiden – und sie lässt jene unsichtbar werden, die trotz Bemühung keine Stelle finden.

Während Erwerbslose gleichwohl durch strengere Sanktionen diszipliniert werden sollen, bleiben gezielte Leistungsverbesserungen wie die im selben Koalitionsvertrag vorgesehene Mütterrente 3 dennoch ausdrücklich bestehen. Es bleibt daher abzuwarten, ob und in welchem Umfang sozialpolitische Errungenschaften in der aktuellen Legislaturperiode vorangebracht werden können.

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Jurawelt Redaktion

Christopher Molter

Studium:

  • Student der Rechtswissenschaften an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht
  • Schwerpunktbereich: Bank- und Kapitalmarktrecht
  • Auslandsaufenthalt an der University of Alberta (Kanada)

Jurawelt:

  • Redakteur & Studentischer Mitarbeiter