Reiserücktrittsrecht: Richtiger Rücktrittszeitpunkt

Die Welt des Reiserechts ist komplex und oft unvorhersehbar, ähnlich den Reisen selbst. In diesem Kontext hat das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 29. Februar 2024 (Az.: C-584/22), eine wesentliche Wegmarke gesetzt und beleuchtet die feinen Nuancen des Reiserücktrittsrechts und dessen Anwendung im Rahmen der europäischen Pauschalreiserichtlinie. Es bietet nicht nur eine präzise juristische Analyse, sondern auch eine klare Orientierung für Reisende und Reiseveranstalter.

Das Reiserücktrittsrecht ist ein zentraler Bestandteil des Verbraucherschutzes im Tourismussektor, das Reisenden ermöglicht, unter bestimmten Bedingungen von einem gebuchten Pauschalreisevertrag zurückzutreten. Insbesondere in Zeiten globaler Krisen, wie der durch Covid-19 ausgelösten Pandemie, rückt die Frage, unter welchen Umständen ein kostenfreier Rücktritt möglich ist, verstärkt in den Fokus.

Der vorliegende Fall, der dem Urteil zugrunde liegt, beleuchtet die rechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen Reisende von Pauschalreiseverträgen zurücktreten können, ohne eine Rücktrittsgebühr entrichten zu müssen. In diesem Kontext analysiert dieser Beitrag das Urteil und seine Implikationen für Reisende und Reiseveranstalter, um ein tieferes Verständnis der aktuellen Rechtslage im europäischen Tourismussektor zu fördern.

I. Welche Aspekte regelt das Reiserücktrittsrecht in § 651h BGB?

Das Reiserücktrittsrecht in Deutschland ist ein wesentlicher Bestandteil des Verbraucherschutzes im Bereich des Tourismusrechts. Als sogenanntes Gestaltungsrecht ermöglicht das Rücktrittsrecht Reisenden, unter bestimmten Bedingungen von einem Pauschalreisevertrag zurückzutreten, ohne hierfür eine Rücktrittsgebühr entrichten zu müssen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Rücktritt von Pauschalreisen sind in der Europäischen Pauschalreiserichtlinie (EU) 2015/2302 sowie im nationalen Recht, konkret im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) unter § 651h BGB, geregelt.

Grundlagen des Reiserücktrittsrechts: Das Reiserücktrittsrecht erlaubt es dem Reisenden, vor Antritt der Reise vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten. In der Konsequenz verliert der Reiseverstaltet durch den Rücktritt seinen Anspruch auf den vereinbarten Reisepreis (§ 651h Absatz 1 Satz 2 BGB), kann jedoch eine angemessene Entschädigung verlangen, sofern der Rücktritt nicht unter den Voraussetzungen erfolgt, die einen gebührenfreien Rücktritt rechtfertigen (§ 651h Absatz 1 Satz 3 BGB).

§ 651h BGB und die unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände: § 651h BGB spezifiziert die Bedingungen, unter denen von einem Reisevertrag zurückgetreten werden kann, und regelt die finanziellen Folgen eines solchen Rücktritts. Absatz 3 des § 651h BGB nimmt Bezug auf die “unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände” als einen Grund für den Rücktritt ohne Zahlung einer Entschädigung. Solche Umstände liegen vor, wenn sie außerhalb der Kontrolle der Partei liegen, die sich darauf beruft, und deren Folgen sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären. Beispiele hierfür können Naturkatastrophen, Kriege oder gesundheitliche Notlagen wie Pandemien sein.

Ausübung des Rücktrittsrechts: Die Ausübung des Rücktrittsrechts nach § 651h BGB erfordert keine besondere Form, sollte jedoch aus Beweisgründen schriftlich erfolgen. Der Reisende muss den Rücktritt gegenüber dem Reiseveranstalter erklären, wobei die Erklärung keine Begründung enthalten muss. Allerdings ist es ratsam, die Gründe für den Rücktritt, insbesondere das Vorliegen unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände, zu dokumentieren, um im Streitfall die Voraussetzungen für einen gebührenfreien Rücktritt nachweisen zu können.

Berechnung der Entschädigungspauschale (Stornogebühr): Falls der Rücktritt nicht unter die Ausnahmebedingungen des Reiserücktrittsrechts der außergewöhnlichen Umstände fällt, kann der Veranstalter eine Stornogebühr verlangen. Diese muss angemessen sein und sich am Reisepreis abzüglich der ersparten Aufwendungen des Veranstalters sowie der möglichen Einnahmen durch anderweitige Verwendung der Reiseleistungen bemessen. Die Pauschalreiserichtlinie und § 651h BGB ermöglichen es dem Veranstalter, pauschale Rücktrittsgebühren im Vertrag, auch in Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB), festzulegen, die diese Kriterien berücksichtigen. In dem Sinne sieht § 651h Absatz 2 Satz 1 BGB vor, dass vorformulierte Vertragsbedingungen sogenannte Entschädigungspauschalen festsetzen können. Nach den verschiedenen Ziffern in § 651h Absatz 2 BGB können jene Entschädigungspauschalen anhand des Zeitraums zwischen der Rücktrittserklärung und dem Reisebeginn, der Ersparnis von Aufwendungen des Reiseveranstalters und anhand dem zu erwartenden Erwerb durch anderweitige Verwendung der Reiseleistungen bestimmt werden. Sollten die Entschädigungspauschalen in dem Reisevertrag noch nicht explizit festgelegt sein, erfolgt die Berechnung der Entschädigungshöhe anhand des Reisepreis abzüglich der ersparten Aufwendungen des Reiseveranstalters sowie dessen, was er durch anderweitige Verwendung der Reiseleistungen erwirbt, § 651h Absatz 2 Satz 2 BGB.

 

II. Urteil des EuGH: Können nachträglich eintretende Ereignisse für einen Rücktritt von Pauschalreisen geltend gemacht werden?

Das Urteil des EuGH (C-584/22) klärt die Frage, inwieweit “unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände”, die nach dem Rücktritt vom Reisevertrag, aber vor dem geplanten Reiseantritt eintreten, für einen kostenfreien Rücktritt relevant sind. Konkret ging es um den Fall eines Reisenden, der wegen der Covid-19-Pandemie von einer Pauschalreise nach Japan zurücktrat. In diesem Kontext hat der EuGH wesentliche Leitlinien zur Auslegung des Reiserücktrittsrechts unter Berücksichtigung der Pauschalreiserichtlinie (EU) 2015/2302 vorgegeben.

Hintergrund des Falles: Im Mittelpunkt des Falles stand die Frage, ob für die Berechtigung zum Rücktritt von einem Pauschalreisevertrag ohne Entstehung einer Rücktrittsgebühr ausschließlich jene “unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände” maßgeblich sind, die bereits im Zeitpunkt des Rücktritts vorlagen, oder ob auch nach dem Rücktritt, aber vor dem geplanten Reisebeginn eintretende Umstände berücksichtigt werden können. Der konkrete Anlass war der Rücktritt eines Reisenden von einer Reise nach Japan aufgrund der Covid-19-Pandemie und die nachfolgende Forderung nach Rückerstattung der Stornogebühr in Höhe von 307,00 EUR, nachdem Japan ein Einreiseverbot wegen des Gesundheitsrisikos verhängt hatte.

Urteil des EuGH: Der EuGH legte fest, dass für die Beurteilung der Rücktrittsberechtigung ausschließlich die Umstände relevant sind, die zum Zeitpunkt des Rücktritts bereits existierten. Ereignisse, die erst nach der Rücktrittserklärung eintreten, haben keinen Einfluss auf die Beurteilung der Berechtigung zum gebührenfreien Rücktritt. Diese Entscheidung basiert auf der Interpretation von Artikel 12 Absatz 2 der Pauschalreiserichtlinie (2015/2302), der klarstellt, dass das Recht zum Rücktritt “vor Beginn der Pauschalreise” ausgeübt werden muss und die relevanten Umstände folglich notwendigerweise zum Zeitpunkt des Rücktritts vorliegen müssen. Diese Interpretation schließt die Berücksichtigung von Umständen, die erst nach der Rücktrittserklärung auftreten, explizit aus. Die Betonung liegt auf der Notwendigkeit, dass der Reisende im Zeitpunkt des Rücktritts auf Basis der dann vorliegenden Informationen und Gegebenheiten eine fundierte Entscheidung trifft.

Bedeutung für Reisende: Für Reisende bedeutet das Urteil, dass sie bei der Entscheidung zum Rücktritt von einem Pauschalreisevertrag eine sorgfältige Einschätzung der zum Rücktrittszeitpunkt vorliegenden Informationen vornehmen müssen. Die Möglichkeit, nachträglich eintretende Ereignisse für einen gebührenfreien Rücktritt geltend zu machen, ist ausgeschlossen. Dies unterstreicht die Wichtigkeit einer umfassenden Informationsbeschaffung und Risikoabwägung vor der Ausübung des Reiserücktrittsrechts.

 

III. Fazit zum Reiserücktrittsrecht

Das Reiserücktrittsrecht nach § 651h BGB bildet einen unverzichtbaren Bestandteil des Verbraucherschutzes im Bereich des Tourismusrechts. Es gewährt Reisenden die Möglichkeit, unter spezifischen Bedingungen von einem Pauschalreisevertrag zurückzutreten, ohne dafür eine Rücktrittsgebühr zahlen zu müssen. Insbesondere in Zeiten globaler Krisen wie der Covid-19-Pandemie wird die Frage nach den Umständen für einen gebührenfreien Rücktritt verstärkt aufgeworfen.

In Anbetracht dessen setzt das EuGH-Urteil (C-584/22) klare Leitlinien zur Auslegung des Reiserücktrittsrechts unter Berücksichtigung der Pauschalreiserichtlinie (EU) 2015/2302. Es konkretisiert, dass ausschließlich die Umstände zum Zeitpunkt des Rücktritts maßgeblich sind, und nachträglich eintretende Ereignisse keine Rolle spielen. Dies bedeutet, dass Reisende eine gründliche Bewertung der vorliegenden Informationen zum Zeitpunkt des Rücktritts vornehmen müssen, da nachträgliche Ereignisse nicht für einen gebührenfreien Rücktritt herangezogen werden können.

Die Entscheidung des EuGH trägt indessen dazu bei, weitere Klarheit und Rechtssicherheit im Bereich des Reiserücktrittsrechts zu schaffen. Sie betont die Bedeutung einer umfassenden Informationsbeschaffung und Risikoabwägung für Reisende, bevor sie sich für einen Rücktritt von einem Pauschalreisevertrag entscheiden.

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