Im kommenden Juni steht die Wahl zum zehnten Europäischen Parlament an. In der gegenwärtigen unionsrechtlichen Debatte um die Einführung einer 2-Prozent-Sperrklausel bei Europawahlen offenbart sich in dem Zusammenhang ein tiefgreifendes Spannungsfeld, das die essentiellen Pfeiler moderner Demokratien berührt: Effizienz gegenüber politischer Vielfalt, Stabilität kontra repräsentative Gerechtigkeit. Dabei wirft das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit seiner Entscheidung vom 06. Februar 2024 (Az.: 2 BvE 6/23 und 2 BvR 994/23), den Antrag der Partei “Die PARTEI” und die Verfassungsbeschwerde des Vorsitzenden Martin Sonneborn gegen die geplante Sperrklausel als unzulässig abzuweisen, grundlegende Fragen hinsichtlich der Ausgestaltung demokratischer Teilhabe und Pluralität auf.
Die Einführung einer 2-Prozent-Sperrklausel bei Europawahlen steht dabei im Zentrum einer aktuellen Debatte. Die geplante Sperrklausel, die ab der Europawahl 2029 gelten soll, zielt darauf ab, die Zersplitterung des Europäischen Parlaments zu verhindern und seine Arbeitsfähigkeit zu sichern. Diese Neuerung stößt jedoch auf Widerstand, insbesondere von kleineren Parteien, die um ihre Chancen fürchten, ins Europaparlament einzuziehen.
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Sperrklauseln sind ein politisches Instrument, das in Wahlgesetzen verankert ist, um die Fragmentierung in parlamentarischen Körperschaften zu reduzieren. Sie legen fest, dass nur Parteien, die einen bestimmten Prozentsatz der Stimmen erreichen, bei der Sitzverteilung berücksichtigt werden und sollen einhergehend die Parteienvielfalt in parlamentarischen Systemen regulieren, um die Bildung stabiler und handlungsfähiger Regierungen zu erleichtern. Durch die Festsetzung einer Mindestprozentschwelle, die Parteien überschreiten müssen, um bei der Sitzverteilung berücksichtigt zu werden, zielen Sperrklauseln darauf ab, die Effizienz des parlamentarischen Prozesses zu steigern und die Gefahren extremer politischer Zersplitterung zu minimieren. Argumentiert wird dahingehend, dass die Parteienzersplitterung in der Weimarer Republik exemplarisch zu ihrem Untergang geführt hat, indem viele kleine Parteien in den Reichstag einziehen konnten.
Einhergehend ist die Sperrklausel auf Bundesebene in Deutschland traditionell bei 5 Prozent der Gesamtstimmen angesetzt, vgl. § 4 Absatz 2 Satz 2 Nr. 2 des Bundewahlgesetzes (BWahlG). Aus den historischen Erfahrungen der Weimarer Republik, in der eine Vielzahl von Parteien die parlamentarische Arbeit erschwerte und die politische Stabilität unterminierte, soll eine Parteienzersplitterung in Deutschland nicht erneut zu einer Instabilität in diesem Ausmaß führen. Die Sperrklausel auf Bundesebene hat sich daher als ein effektives Mittel erwiesen, um die Bildung von handlungsfähigen Mehrheiten zu erleichtern und die Regierungsbildung zu stabilisieren, ohne dabei die Vielfalt der politischen Landschaft wesentlich zu beschneiden.
Die Anwendung von Sperrklauseln auf europäischer Ebene wurde durch das Bundesverfassungsgericht kritisch hinterfragt. Insbesondere in Bezug auf die Europawahlen, bei denen das BVerfG in seiner Entscheidung vom 09. November 2011 (Az.: 2 BvC 4/10 u.a.) die damals geltende 5-Prozent-Hürde als verfassungswidrig erklärte, wurde argumentiert, dass die Notwendigkeit einer solchen Sperrklausel im Kontext des Europäischen Parlaments nicht in gleicher Weise gegeben sei wie auf nationaler Ebene. Das Gericht führte aus, dass angesichts der Struktur und Funktion des Europäischen Parlaments, welche sich wesentlich von denen nationaler Parlamente unterscheiden, eine 5-Prozent-Hürde die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien unzulässig einschränke. Es wurde betont, dass das Europäische Parlament weniger durch die Notwendigkeit der Regierungsbildung geprägt ist und daher eine größere Vielfalt politischer Stimmen zulassen sollte, um die pluralistische Natur der europäischen Demokratie widerzuspiegeln. Hierauf versuchte der Gesetzgeber eine Sperrklausel einzuführen. Diesmal wurde eine Drei-Prozent-Schwelle beschlossen, die das BVerfG gleichwohl mit Urteil vom 26. Februar 2014 erneut für verfassungswidrig erklärte (Az.: 2 BvE 2/13 u.a.).
Nunmehr sieht Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 des Direktwahlakts 2018, der am 13. Juli 2018 vom Rat der Europäischen Union beschlossen wurde, die Einführung einer Sperrklausel von mindestens zwei und höchstens fünf Prozent bei Europawahlen vor. Dadurch möchte man einen Kompromiss eingehen, der darauf abzielt, eine Balance zwischen der Verhinderung politischer Fragmentierung und der Gewährleistung demokratischer Vielfalt zu finden. Diese Neuerung reflektiert das Bestreben, die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments zu sichern, ohne dabei die niedrige Hürde für die politische Repräsentation kleinerer Parteien unverhältnismäßig zu erhöhen.
Die geplante Sperrklauseln bei den Europawahlen ist ein solches Instrument, das auf EU-Ebene eingeführt werden soll, um die Effizienz und Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments zu gewährleisten. Die Entscheidung des BVerfG, die Klage gegen diese Regelung als unzulässig abzuweisen, markiert einen wichtigen Präzedenzfall für die zukünftige Gestaltung des Wahlrechts auf europäischer Ebene. Es unterstreicht die Anerkennung eines gewissen Spielraums der EU und ihrer Mitgliedstaaten bei der Gestaltung des Wahlrechts, solange die grundlegenden demokratischen Prinzipien gewahrt bleiben.
Das BVerfG hat mit seiner Entscheidung vom 06. Februar 2024 den Antrag der Partei “Die PARTEI” auf Durchführung eines Organstreitverfahrens und die Verfassungsbeschwerde ihres Vorsitzenden Martin Sonneborn als unzulässig verworfen. Die Beschwerdeführer sahen in der Einführung der Sperrklausel eine Verletzung ihrer Rechte auf Chancengleichheit der politischen Parteien und auf Gleichheit der Wahl. Sie argumentierten, dass die Einführung der Sperrklausel ihre Rechte auf Chancengleichheit der politischen Parteien und auf Gleichheit der Wahl verletze. Sie argumentierten weiter, dass die Änderung des Direktwahlakts die Kompetenzen der Europäischen Union überschreite und das in Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes (GG) geschützte Demokratieprinzip sowie die Verfassungsidentität der Bundesrepublik Deutschland berühre.
Das BVerfG begründete seine Entscheidung damit, dass die Antragsteller nicht hinreichend substantiiert dargelegt hätten, inwieweit das Zustimmungsgesetz zum Direktwahlakt 2018 ihre verfassungsmäßigen Rechte verletzt. Das Gericht betonte ferner, dass es für eine erfolgreiche Klage erforderlich ist, konkret und nachvollziehbar aufzuzeigen, wie die angegriffene Regelung die behaupteten Rechte beeinträchtigt. Diese Substantiierungspflicht wurde nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts vorliegend nicht erfüllt.
Das BVerfG erkannte zwar grundsätzlich an, dass eine unmittelbare Betroffenheit der Kläger durch die Sperrklausel gegeben sein könnte, insbesondere im Hinblick auf den vorbeugenden Rechtsschutz gegen potenziell nachteilige Auswirkungen der Regelung. Jedoch fehlte es an einer hinreichend detaillierten Darlegung, wie genau diese Betroffenheit aussieht und warum sie eine Verletzung spezifischer verfassungsmäßiger Rechte nach sich zieht.
Das Bundesverfassungsgericht stellte insbesondere fest, dass mit dem Inkrafttreten des Direktwahlakts 2018 eine Verpflichtung für die Bundesrepublik Deutschland entsteht, eine Sperrklausel von mindestens zwei Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen in ihr nationales Recht einzuführen. Hierzu wurde ein entsprechendes Zustimmungsgesetz vom Bundestag und Bundesrat beschlossen, das allerdings noch nicht in Kraft getreten ist. Diese Verpflichtung zur Umsetzung stellt sich als Erfüllung einer unionsrechtlichen Vorgabe dar, der sich Deutschland nicht entziehen kann. Das BVerfG stellte klar, dass die EU gemäß Artikel 223 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) die Kompetenz hat, das Wahlverfahren zum Europäischen Parlament zu regeln.
Ferner prüft das BVerfG die Einhaltung des Integrationsprogramms im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle und der Identitätskontrolle, wobei beide Kontrollvorbehalte zurückhaltend und europarechtsfreundlich auszuüben sind. Ultra vires, aus dem Lateinischen für „über die Befugnisse hinaus“, bezieht sich auf Akte, die außerhalb der gesetzlich oder vertraglich festgelegten Kompetenzbereiche einer Institution liegen. Im Kontext der Europäischen Union bedeutet dies, dass Handlungen der EU-Organe, die ihre vertraglich festgelegten Kompetenzen überschreiten, als ultra vires betrachtet werden können. Die Ultra-Vires-Kontrolle ermöglicht es nationalen Gerichten, solche Handlungen zu überprüfen und gegebenenfalls für nicht anwendbar zu erklären, wenn sie die Kompetenzgrenzen der EU überschreiten.
Im Falle der 2-Prozent-Sperrklausel bei Europawahlen bezog sich das BVerfG auf die Ultra-Vires-Kontrolle, um zu bewerten, ob die Einführung der Sperrklausel durch den geänderten Direktwahlakt innerhalb der Kompetenzen liegt, die der Europäischen Union durch die Mitgliedstaaten übertragen wurden. Entscheidend war hierbei die Frage, ob die EU mit der Festlegung einer Sperrklausel für Wahlen zum Europäischen Parlament ihre vertraglichen Befugnisse überschritten hat. Das Bundesverfassungsgericht kam zu dem Schluss, dass die Einführung einer Sperrklausel von mindestens zwei Prozent der abgegebenen Stimmen durch den Direktwahlakt im Rahmen der Kompetenzen der Europäischen Union liegt. Diese Kompetenzen sind insbesondere in Artikel 223 Absatz 1 AEUV verankert, der der Union die Befugnis erteilt, Maßnahmen zur Vereinheitlichung des Wahlverfahrens zum Europäischen Parlament zu ergreifen. Das BVerfG stellte hierzu fest, dass die Regelung der Sperrklausel eine solche Maßnahme darstellt, die darauf abzielt, die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments zu verbessern und daher innerhalb der von den Verträgen vorgesehenen Grenzen der EU-Kompetenz liegt.
Die Diskussion um die Einführung einer 2-Prozent-Sperrklausel bei Europawahlen beleuchtet ein zentrales Dilemma moderner Demokratien: Wie lässt sich eine effiziente parlamentarische Arbeit gewährleisten, ohne dabei die Vielfalt politischer Perspektiven und die Chancengleichheit kleinerer Parteien zu kompromittieren? Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die Anträge gegen diese Regelung als unzulässig zu verwerfen, markiert zwar einen präzedenzlosen Schritt zur Stärkung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments, wirft jedoch zugleich bedeutsame Fragen bezüglich der demokratischen Teilhabe und Vielfalt auf.
Die Sperrklausel soll, wie aus der historischen Erfahrung Deutschlands mit der Weimarer Republik gelernt, einer übermäßigen Fragmentierung des Parlaments entgegenwirken und somit die Regierungsbildung und legislative Effizienz sichern. Während dies auf nationaler Ebene durch die 5-Prozent-Hürde bereits praktiziert wird, stellt die Übertragung dieses Prinzips auf die europäische Ebene eine Neuerung dar, die nicht ohne Kritik bleibt. Insbesondere die von kleineren Parteien und deren Vertretern geäußerte Sorge, dass ihre Rechte auf Chancengleichheit und Gleichheit der Wahl beeinträchtigt werden könnten, verdient Beachtung.
Die Argumentation des BVerfG, dass die Antragsteller nicht hinreichend substantiiert dargelegt hätten, wie das Zustimmungsgesetz ihre verfassungsmäßigen Rechte verletzt, mag aus rechtstechnischer Sicht stichhaltig sein. Dennoch birgt die Entscheidung das Risiko, dass die grundlegenden Prinzipien der demokratischen Repräsentation und Vielfalt im Europäischen Parlament untergraben werden. Die Einführung einer Sperrklausel, selbst einer vermeintlich moderaten von 2 Prozent, könnte kleinere politische Strömungen und Minderheitenmeinungen marginalisieren und damit das Spektrum politischer Ideen und Innovationen im Europaparlament einschränken.
Zudem stellt sich die Frage, ob die Effizienz des parlamentarischen Prozesses tatsächlich durch eine höhere Hürde für den Einzug ins Parlament gefördert wird, oder ob nicht vielmehr die Gefahr besteht, dass die Legitimität und Akzeptanz parlamentarischer Entscheidungen in der Bevölkerung leidet, wenn sich Bürgerinnen und Bürger durch die geltenden Regelungen nicht ausreichend repräsentiert fühlen. In Systemen mit hohen Sperrklauseln kann es generell zu einer Konsolidierung um zwei dominante Parteien kommen, was die Wahlmöglichkeiten für die Wählerschaft einschränkt und zu einem Verlust an politischer Dynamik führt, gerade wenn der die Stimmen, die für Parteien abgegeben werden, die die Sperrklausel nicht überschreiten, “verloren” sind. Die Entscheidung des BVerfG betont den Spielraum der EU und ihrer Mitgliedstaaten bei der Gestaltung des Wahlrechts, solange die grundlegenden demokratischen Prinzipien gewahrt bleiben. Jedoch muss kritisch hinterfragt werden, ob die Einführung einer Sperrklausel bei Europawahlen diesen demokratischen Prinzipien tatsächlich gerecht wird oder ob sie vielmehr ein Schritt in Richtung einer restriktiveren Auslegung demokratischer Teilhabe und Vielfalt ist.
Abschließend lässt sich feststellen, dass die 2-Prozent-Hürde bei den Europawahlen weniger als Kompromiss, sondern vielmehr als Kontroverse für Europas Zukunft zu verstehen ist. Sie steht exemplarisch für die Herausforderung, demokratische Prinzipien wie Vielfalt und Chancengleichheit mit der Notwendigkeit einer effizienten und stabilen parlamentarischen Arbeit in Einklang zu bringen. Die Entscheidung des BVerfG mag rechtlich begründet sein, doch die demokratischen und gesellschaftlichen Implikationen dieser Regelung bedürfen einer fortgesetzten kritischen Auseinandersetzung, um nicht das Prinzip der Gleichheit der Wahl durch künstliche Barrieren für die demokratische Teilhabe zu untergraben.