Wie weit darf man bei Notwehr gehen? – Grenzen des Notwehrrechts

Ein plötzlicher Angriff im Dunkeln, ein bedrohlicher Schatten in der Gasse – in solchen Momenten zählt jede Sekunde. Doch wie weit darf man wirklich gehen, um sich zu verteidigen?

Die Notwehr ist eines der am häufigsten diskutierten Themen im Strafrecht. Sie gibt dem Bürger das Recht, sich gegen rechtswidrige Angriffe zu wehren – doch dieses Recht ist nicht grenzenlos. Zwischen legitimer Selbstverteidigung und strafbarer Überschreitung verläuft eine feine Linie. Auch in der juristischen Ausbildung ist das Notwehrrecht ein Dauerbrenner.  

Die Anwendung erscheint auf den ersten Blick einfach, birgt jedoch in der Klausur zahlreiche Probleme: Wann ist eine Verteidigungshandlung wirklich erforderlich? Wo beginnt ein Exzess? Und wie ist in Grenzfällen wie dem Einsatz von Pfefferspray oder Schusswaffen zu entscheiden?

Dieser Beitrag bietet eine fundierte und zugleich praxisnahe Auseinandersetzung mit den zentralen Einschränkungen des Notwehrrechts und beleuchtet, wo die Grenze zur Strafbarkeit verläuft, welche Mittel erlaubt sind und wann sogar eine Tötung gerechtfertigt sein kann.

I. Notwehr im StGB

Die Notwehr nach §32 Strafgesetzbuch (StGB) ist neben dem rechtfertigenden Notstand nach §34 StGB einer der wichtigsten Rechtfertigungsgründe im Strafgesetzbuch.

Dort heißt es:

(1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.

(2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.

II. Was zählt alles unter Notwehrhandlung?

Unter Notwehr fällt eine ganze Reihe von Handlungen – aber nur unter bestimmten Bedingungen. Liegt nach erfolgter Prüfung des Notwehr Schema eine Notwehrlage i.S.d §32 StGB vor, erfasst Notwehr jede erforderliche Verteidigungshandlung. Das Erforderlichkeitsmerkmal in §32 II StGB setzt die Grenzen des Notwehrrechts fest, um eine ausufernde Anwendung zu verhindern. Vereinfacht gesagt bedeutet es, der Angegriffene darf nur so weit gehen, wie es zur Abwehr nötig ist. Erforderlich ist eine Handlung, wenn kein milderes, gleich effektives Mittel zur Verfügung steht [1]. Ist dies der Fall, ist das Notwehrrecht äußerst umfangreich und kann in Extremfällen sogar Tötungen erfassen [2].

III. Grenzen der Selbstverteidigung

Erforderlichkeit

Die zentrale Voraussetzung einer Notwehrrechtfertigung nach § 32 ist die Erforderlichkeit der Verteidigung. Das bedeutet, der Verteidiger muss aus mehreren möglichen Abwehrmitteln das mildeste wählen, das den Angriff sicher und sofort abwehrt oder zumindest den besten Abwehrerfolg verspricht [3].

Wichtig: Die Erforderlichkeit ist nicht dasselbe wie Verhältnismäßigkeit. Es geht nicht darum, eine Güterabwägung zwischen den Folgen der Verteidigung und den drohenden Schäden des Angriffs zu machen. Die Verpflichtung zur Verhältnismäßigkeit könnte nur in Ausnahmefällen unter sozialethischen Aspekten im Rahmen der Gebotenheit relevant werden [4].

Es geht vielmehr darum, den Angreifer vor unnötigen Schäden zu schützen, die über das erforderliche Maß zur Abwehr des Angriffs hinausgehen, nicht aber darum, dem Angegriffenen zuzumuten, die Folgen seiner Verteidigung zu mildern [5].

Bei der Wahl des mildesten Mittels muss der Angegriffene nicht darauf verwiesen werden, fremde Hilfe (sei es privat oder durch den Staat) in Anspruch zu nehmen, wenn dies dazu führen würde, dass der Angreifer weiterhin die Oberhand hätte.

So entschied der BGH beispielsweise, dass ein Schüler, der Mobbing durch physische Gewalt ausgesetzt ist, nicht zuerst nach Hilfe durch einen Lehrer suchen muss, wenn er dadurch weitere Schläge und Misshandlungen in Kauf nehmen müsste. Es ist gerechtfertigt, dass er sich in dieser akuten Notwehrsituation sofort verteidigt, ohne auf eine spätere Unterstützung zu warten [6].

Gebotenheit

In der Gebotenheit findet die erlaubte Abwehrhandlung im Rahmen des §32 StGB eine weitere Einschränkung. Geboten ist die Notwehrhandlung, wenn sie nicht rechtsmissbräuchlich ist [7].

Bild: Mann zieht ein Messer, um sich vor einem Angreifer zu verteidigen.

Dogmatische Struktur des Notwehrrechts

Die Verteidigung im Rahmen des § 32 StGB setzt mehrere Elemente voraus: eine gegenwärtige Gefahr, einen rechtswidrigen Angriff, einen Verteidigungswillen sowie eine erforderliche und gebotene Reaktion. Streitfragen ergeben sich insbesondere bei der Bewertung der Gebotenheit und beim Notwehrexzess. Die folgende Visualisierung zeigt zentrale Aspekte der Notwehr dogmatisch abgestuft: Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, welche Punkte sind besonders umstritten?

IV. Überschreitung in der Praxis

Notwehrexzess, §33 StGB

Doch selbst wenn ein Angegriffener die Grenzen der Notwehr eigentlich überschreitet, heißt das noch nicht, dass er sich auch strafbar gemacht hat. In §33 StGB hat der Gesetzgeber mit dem Notwehrexzess einen Entschuldigungsgrund (keinen, die Rechtswidrigkeit ausschließenden, Rechtfertigungsgrund wie §32 StGB) für Fälle geschaffen, in denen der Täter aus „Verwirrung, Furcht oder Schrecken“ die Grenzen der Notwehr überschreitet (sog. intensiver Notwehrexzess) [8].

Voraussetzung ist ein seelischer Ausnahmezustand des Angegriffenen, ein sog. asthenischer Affekt [9].

Achtung: nur Verwirrung, Furcht oder Schrecken sind erfasst, auf Rache, Wut oder Aggression kann sich nicht berufen werden!

Einfach gesagt: Wenn jemand in einer Notwehrsituation überreagiert, weil er z. B. aus Angst oder Schrecken handelt, dann wird er nicht bestraft, obwohl er eigentlich über das erlaubte Maß hinausgegangen ist.

Die Überschreitung kann zum einen darin bestehen, dass der Verteidiger ein für den Angreifer zu gefährliches Mittel einsetzt – zum Beispiel greift er in seinem Ausnahmezustand zu einem Messer oder einer Pistole, obwohl es gereicht hätte, sich mit den Fäusten zu wehren. Zum anderen kann die Überschreitung auch darin liegen, dass er ein an sich erlaubtes Mittel übermäßig einsetzt – etwa indem er sofort auf den Angreifer zielt und schießt, anstatt zunächst einen Warnschuss abzugeben [10].

Nach überwiegender Ansicht erfasst §33 StGB allerdings nicht den sog. extensiven Notwehrexzess, bei dem der Angegriffene die zeitlichen oder räumlichen Grenzen der Notwehr nicht einhält, zum Beispiel indem er handelt, bevor ein Angriff überhaupt erfolgte oder dieser schon längst abgeschlossen ist [11].

Putativnotwehrexzess

Wenn der Täter fälschlicherweise glaubt, sich in einer Notwehrlage zu befinden – obwohl kein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff vorliegt – und dabei die Grenzen dieser eingebildeten Notwehr überschreitet, spricht man von einem Putativnotwehrexzess.

Dieser kann sowohl intensiv (zu starke Reaktion) als auch extensiv (zeitlich zu früh oder zu spät) auftreten. Da es hier keine tatsächliche Notwehrlage gibt, ist eine direkte Anwendung von § 33 StGB ausgeschlossen.

Auch eine analoge Anwendung von § 33 StGB beim Putativnotwehrexzess ist nach überwiegender Ansicht grundsätzlich ausgeschlossen. Der § 33 setzt nämlich nicht nur bestimmte Gefühlslagen (z. B. Furcht, Schrecken) voraus, sondern auch eine objektive Unrechtsminderung, etwa weil sich der Täter gegen einen rechtswidrigen Angreifer wehrt. Im Putativnotwehrexzess ist das nicht der Fall – der Täter greift eine unschuldige, schutzwürdige Person an. Deshalb fehlt es an dieser Unrechtsminderung. Nur in Ausnahmefällen wird eine analoge Anwendung diskutiert – etwa wenn der Täter den Irrtum selbst verschuldet und die Situation allein zu verantworten hat [12].

V. Ist Pfefferspray zur Verteidigung erlaubt?

Insbesondere für viele junge Frauen gehört Pfefferspray mittlerweile zur alltäglichen Ausstattung – ein ständiger Begleiter, der ihnen ein Gefühl von Sicherheit vermitteln und im Ernstfall zur Selbstverteidigung dienen soll. Die Frage, ob ein Einsatz nach §32 StGB gerechtfertigt sein kann oder ob sie sich damit strafbar machen, ist daher besonders relevant. Das Notwehrrecht unterscheidet grundsätzlich nicht zwischen dem zur Abwehr des Angriffs eingesetzten Mittel, sodass auch die Verwendung von Pfefferspray erlaubt ist, wenn alle Voraussetzungen der Notwehr vorlägen. Ist kein anderes, ebenso effektives, milderes Mittel existent, darf Pfefferspray daher verwendet werden.

Eine Rechtfertigung durch Notwehr dürfte beim Einsatz von Pfefferspray in den folgenden Fällen allerdings scheitern:

  • Bloße Provokationen oder Beleidigungen (Angriff womöglich mit milderem Mittel abwendbar, Beleidigung wird nur auf Antrag verfolgt – Lohnt sich eine Anzeige wegen Beleidigung?)
  • Der Täter will bereits flüchten (fehlende Notwehrlage)
  • Dem Täter soll aus Rache „eine Lektion erteilt werden“ (fehlender Verteidigungswille)

Die Frage, ob und wann Pfefferspray durch Notwehr gerechtfertigt ist, muss also im Einzelfall entschieden werden. So kann ein ähnlicher Sachverhalt ganz unterschiedlich beurteilt werden:

Ein Mann wird in der U-Bahn bedrängt und körperlich angegriffen. Er sprüht dem Angreifer Pfefferspray ins Gesicht.

➡️ Notwehr – gerechtfertigt und straflos.

Ein anderer wird auf offener Straße beleidigt („Idiot!“) und sprüht dem anderen direkt Pfefferspray ins Gesicht.

➡️ gefährliche Körperverletzung nach §224 StGB

Dies ist nicht durch Notwehr gedeckt, es sei denn, dem Angegriffenen stand kein milderes, ebenso effektives Mittel zur Abwehr zur Verfügung

VI. Welche Waffen sind zur Selbstverteidiung legal?

Auch beim Einsatz von Waffen zur Abwehr von rechtswidrigen, gegenwärtigen Angriffen kennt §32 StGB grundsätzlich nur die bereits angesprochenen allgemeinen Grenzen. Besonderheiten gelten allerdings beim Einsatz von lebensgefährdenden Mitteln, wie eine illegale Schusswaffe oder eine entsprechende Stichwaffe.

Der Einsatz von solchen Waffen muss grundsätzlich vorher angedroht werden, etwa durch einen Warnschuss. Bleibt der Angriff bestehen, darf der Verteidiger gezielt auf weniger lebenswichtige Körperstellen zielen. Ein tödlicher Einsatz ist nur als letztes Mittel (ultima ratio) erlaubt. Diese abgestufte Vorgehensweise ist jedoch nur dann zwingend, wenn sie realistisch und erfolgversprechend ist – etwa, wenn der Verteidiger genug Zeit und die Fähigkeiten hat, differenziert zu handeln. Andernfalls darf er sofort zu härteren Mitteln greifen [13].

Auch beim Einsatz von Waffen gilt der Grundsatz, dass „das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht.”[14]

Zulässigkeit gängiger Waffen bei § 32 StGB

Die Grafik zeigt, welche Waffen Gerichte im Rahmen des § 32 StGB als zulässig oder problematisch eingestuft haben. Grundlage sind zentrale BGH-Urteile und einzelne Lehrmeinungen. Die Werte spiegeln die Rechtsprechungstendenz wider. [15]–[20]

VII. Befugnis zur Abwehr des Angriffes

Das deutsche Notwehrrecht nach § 32 StGB gewährt dem Angegriffenen weitreichende Befugnisse zur Selbstverteidigung – weiter als viele zunächst vermuten. Entscheidend ist, dass die Verteidigung erforderlich ist, um einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff abzuwehren.  Der Verteidiger muss sich dabei nicht auf mildere Mittel verweisen lassen, wenn diese die Abwehr nicht ebenso effektiv ermöglichen. In akuten Gefahrensituationen darf daher grundsätzlich auch mit erheblicher Gewalt reagiert werden. Selbst der Einsatz von Pfefferspray oder Waffen (z.B. Schlagstöcke oder Schusswaffen) kann gerechtfertigt sein, wenn keine milderen Mittel zur Verfügung stehen. Einschränkungen ergeben sich  aus der Gebotenheit sowie beim  Notwehrexzess, der nur unter engen Voraussetzungen entschuldigt wird.

Insgesamt zeigt sich:

Das Notwehrrecht steht eindeutig auf der Seite des Verteidigers – „Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen.“

📚 Quellenangaben ein-/ausblenden
[1] MüKoStGB/Erb, 5. Aufl. 2024, StGB § 32 Rn. 129.
[2] Hohagen. Strafrecht AT, 1. Aufl. 2025, § 4 Rn. 10.
[3] BGHSt 42, 97 (100) = BeckRS 1996, 3175.
[4] MüKoStGB/Erb, 5. Aufl. 2024, StGB § 32 Rn. 129.
[5] MüKoStGB/Erb, 5. Aufl. 2024, StGB § 32 Rn. 129.
[6] BGH 24.7.1979 – 1 StR 249/79, NJW 1980, 2263.
[7] BGHSt 24, 356 (359) = BeckRS 1972, 107172.
[8] Lackner/Kühl/Heger, StGB § 33 Rn. 1–4.
[9] MüKoStGB/Erb, 5. Aufl. 2024, StGB § 33 Rn. 19.
[10] NK-StGB/Kindhäuser, StGB § 33 Rn. 7.
[11] Hohagen. Strafrecht AT, 1. Aufl. 2025, § 4 Rn. 72.
[12] NK-StGB/Kindhäuser, StGB § 33 Rn. 16, 17.
[13] BGH NStZ 2001, 530; NStZ 2001, 591.
[14] Hohagen. Strafrecht AT, 1. Aufl. 2025, § 4 Rn. 47.
[15] BGH, Beschl. v. 27.03.2001 – 1 StR 502/00, NStZ 2001, 530 (Pfefferspray).
[16] BGH, Urt. v. 22.10.2015 – 4 StR 233/15, NStZ 2016, 151 (Teleskopschlagstock).
[17] BGH, Beschl. v. 08.10.1997 – 1 StR 606/97, NJW 1998, 177 (Messer).
[18] LG München I, Urt. v. 05.06.2014 – 5 KLs 123 Js 31765/13 (Elektroschocker).
[19] BGH, Beschl. v. 22.05.2001 – 1 StR 87/01, NStZ 2001, 591 (Schusswaffe).
[20] Hohagen. Strafrecht AT, 1. Aufl. 2025, § 4 Rn. 42 (illegale Waffen).
Andere Themen
Max Scherer

Jurawelt Redaktion

Max Scherer

Studium:

  • Student der Rechtswissenschaften an der Universität Augsburg
  • Schwerpunktbereich: Kriminalwissenschaften
  • Auslandsaufenthalt am Chicago-Kent College of Law (USA)

Jurawelt:

  • Redakteur & Studentischer Mitarbeiter