Verantwortungsgemeinschaft: Rechtsinnovation für moderne Lebensformen?

Inmitten der sich stetig wandelnden sozialen Landschaft offenbart sich eine zunehmende Vielfalt an Lebensformen, die herkömmliche Vorstellungen von Familie und Zusammenleben nicht nur in Frage stellen, sondern auch bereichern, indem sie das Konzept einer Verantwortungsgemeinschaft ins Spiel bringen. Vor diesem Hintergrund initiiert das Bundesministerium der Justiz mit dem Eckpunktepapier vom 02. Februar 2024 einen paradigmatischen Wandel, der darauf abzielt, den rechtlichen Rahmen an die veränderten sozialen Realitäten anzupassen. Jene innovative Rechtsform stellt einen bedeutenden Schritt dar, um persönliche Näheverhältnisse außerhalb der klassischen familiären oder ehelichen Bindungen rechtlich zu erfassen und zu schützen, und markiert somit eine Antwort auf die sich wandelnden Bedürfnisse der Gesellschaft.

Die geplante Verantwortungsgemeinschaft eröffnet hierzu zwei oder mehr volljährigen Personen die Möglichkeit, eine rechtlich anerkannte und abgesicherte Gemeinschaft zu bilden, die auf gegenseitiger Verantwortung basiert. Diese Gemeinschaften sind nicht auf romantische oder familiäre Beziehungen beschränkt, sondern können eine Vielzahl persönlicher Konstellationen umfassen, von engen Freundschaften über Wohngemeinschaften bis hin zu Pflegegemeinschaften.

Durch die Schaffung klar definierter rechtlicher Strukturen, die individuell anpassbar sind, soll den Beteiligten ermöglicht werden, ihre Beziehung auf eine Weise zu gestalten, die ihren spezifischen Bedürfnissen und Wünschen entspricht. Vor diesem Hintergrund soll der vorliegende Beitrag eine tiefgreifende Analyse und Diskussion über die Zeitgemäßheit des aktuellen Familienrechts sowie den Eckpunkten, und der Struktur des Rechtsinstituts der Verantwortungsgemeinschaft bieten.

I. Ist das aktuelle Familienrecht noch zeitgemäß?

Die Frage nach der Zeitgemäßheit des aktuellen Familienrechts erfordert eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der Evolution familiärer Strukturen und der rechtlichen Antwort darauf. Die traditionelle Kernfamilie, bestehend aus Ehepartnern und ihren Kindern, bildet seit Jahrzehnten das Fundament des deutschen Familienrechts. Diese Struktur wird durch eine Reihe von Rechten und Pflichten innerhalb des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) und des Grundgesetzes (GG) gestützt und geschützt. Doch die soziale Landschaft hat sich gewandelt, und mit ihr die Definition von Familie und Zusammenleben. Die Zunahme nichtehelicher Lebensgemeinschaften, Patchwork-Familien, Wohngemeinschaften mit gegenseitiger Unterstützungsverpflichtung und andere Formen des Zusammenlebens stellen das Familienrecht vor neue Herausforderungen.

Das deutsche Familienrecht zeichnet sich durch eine traditionelle Ausrichtung auf die Institution der Ehe und die daraus hervorgehenden familiären Verhältnisse aus. Es umfasst Regelungen zu Eheschließung und -scheidung, ehelichem Güterrecht, Unterhaltsansprüchen, Sorgerecht und Umgangsrecht sowie dem Verwandtschaftsrecht. Innerhalb dieses rechtlichen Rahmens genießen Ehe und Familie einen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz, wie in Artikel 6 GG verankert. Dieser Schutz spiegelt sich in einer Vielzahl von Privilegien und Pflichten wider, die auf die Stärkung der familiären Bindung und die Gewährleistung des Wohls ihrer Mitglieder abzielen.

Jedoch offenbart eine kritische Betrachtung des aktuellen Familienrechts eine erhebliche Diskrepanz zwischen den gesetzlichen Normierungen und den sich wandelnden gesellschaftlichen Realitäten. Die strukturelle Ausrichtung des Familienrechts erscheint in vielen Fällen nicht mehr adäquat, gerade da weitgehend die Existenz und die Bedürfnisse alternativer Lebensgemeinschaften versagt werden. Dies führt zu rechtlichen Unsicherheiten und Benachteiligungen für Individuen, die in nichtehelichen Lebensgemeinschaften, Wohngemeinschaften oder anderen Formen gegenseitiger Verantwortungsübernahme außerhalb der klassischen Familienstrukturen der traditionellen Ehe und Familie zusammenleben.

Eine zentrale Problematik des gegenwärtigen Familienrechts besteht in der mangelnden Anerkennung und rechtlichen Absicherung solcher Gemeinschaften. Personen in nichtehelichen Lebenspartnerschaften stehen beispielsweise vor Herausforderungen, wenn es um das Sorgerecht für gemeinsame Kinder, Erbansprüche oder Vertretungsrechte in Gesundheitsangelegenheiten geht. Das Fehlen eines rechtlichen Rahmens, der die vielfältigen, auf gegenseitiger Verantwortung basierenden Lebensformen umfasst, führt nicht selten zu rechtlicher Unsicherheit und kann im Ernstfall zu schwerwiegenden persönlichen und finanziellen Nachteilen führen.

Ein weiteres Problem ist die fehlende Flexibilität des Familienrechts, um individuelle Absprachen innerhalb von Verantwortungsgemeinschaften rechtlich zu verankern. Während Eheleute durch Eheverträge individuelle Regelungen treffen können, stehen solche Instrumente anderen Lebensformen nur eingeschränkt zur Verfügung.

Die eingangs genannte Initiative zur Einführung eines Instituts der Verantwortungsgemeinschaft erscheint vor diesem Hintergrund als ein möglicher Schritt, um die Lücke zwischen dem traditionellen Verständnis von Familie und den real existierenden, vielfältigen Lebensformen zu schließen. Durch die Schaffung eines flexiblen rechtlichen Rahmens, der persönliche Näheverhältnisse jenseits der Ehe anerkennt und rechtlich absichert, könnte das Familienrecht an die dynamischen Entwicklungen der Gesellschaft angepasst werden. Diese Anpassung würde nicht nur die rechtliche Situation von Individuen in nichttraditionellen Lebensgemeinschaften verbessern, sondern auch einen Beitrag zur Anerkennung und Wertschätzung der pluralistischen Lebensrealitäten in der modernen Gesellschaft leisten.

Eine Reform, die alternative Lebensgemeinschaften anerkennt und rechtlich einbindet, ist daher nicht nur wünschenswert, sondern notwendig, um den sozialen Realitäten des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden. Die Einführung eines Instituts der Verantwortungsgemeinschaft könnte hierbei einen zukunftsweisenden Schritt darstellen, der die rechtliche Landschaft in Deutschland nachhaltig verändert.

 

II. Eckpunkte für das Rechtsinstitut einer Verantwortungsgemeinschaft

Das Bundesministerium der Justiz hat mit dem Eckpunktepapier zur Einführung des Instituts der Verantwortungsgemeinschaft einen ambitionierten Vorschlag vorgelegt, der darauf abzielt, die rechtlichen Rahmenbedingungen an die diversifizierten Lebensrealitäten der heutigen Gesellschaft anzupassen. Dieses Vorhaben repräsentiert einen Paradigmenwechsel im deutschen Familienrecht, indem es einen gesetzlichen Rahmen für persönliche Näheverhältnisse außerhalb der traditionellen Ehe und Familie schafft. Im Zentrum dieses Vorstoßes steht die Konzeption eines mehrstufigen Vertragswerks, welches die individuellen Bedürfnisse der Vertragsparteien durch die Wahl spezifischer Module adressiert.

 

1. Welche Voraussetzungen sind für die Gründung einer Verantwortungsgemeinschaft essentiell?

Eine der Kernbestimmungen innerhalb der Struktur der Verantwortungsgemeinschaft betrifft die Maximalgröße und die Eigenschaften der Vertragspartner. Laut dem Eckpunktepapier soll eine Verantwortungsgemeinschaft bis zu sechs volljährige Personen umfassen können, die sich in einem persönlichen Näheverhältnis zueinander befinden. Diese Begrenzung auf sechs Personen ist ein pragmatischer Ansatz, der es ermöglicht, die Verantwortungsgemeinschaften überschaubar zu halten und gleichzeitig genügend Spielraum für unterschiedliche Konstellationen von Verantwortungsgemeinschaften zu bieten. Die Festlegung auf volljährige, geschäftsfähige Personen als Vertragspartner dient der Rechtssicherheit und stellt sicher, dass alle Beteiligten in der Lage sind, die Tragweite ihrer Entscheidung und der eingegangenen Verpflichtungen zu verstehen. Darüber hinaus ist festgelegt, dass eine Person nicht gleichzeitig Vertragspartner in mehreren Verantwortungsgemeinschaften sein kann. Diese Regelung zielt darauf ab, rechtliche Überschneidungen und mögliche Konflikte zu vermeiden.

Das Eckpunktepapier schlägt vor, die Verantwortungsgemeinschaft in einem eigenen Gesetzbuch zu verankern, das in einen Allgemeinen und einen Besonderen Teil gegliedert werden soll. Diese Struktur soll eine flexible Gestaltung der rechtlichen Beziehung zwischen den Vertragspartnern ermöglichen, wobei der Allgemeine Teil die grundlegenden Bestimmungen zum Vertragsabschluss, zur Vertragsauflösung sowie zu den generellen Wirkungen des Vertrages enthält. Ein weiteres zentrales Element in der Struktur der Verantwortungsgemeinschaft ist das Erfordernis der notariellen Beurkundung des Vertrags. Diese formelle Hürde gewährleistet, dass die Vertragspartner einer Verantwortungsgemeinschaft umfassend über ihre Rechte und Pflichten aufgeklärt werden und dass der Vertrag alle notwendigen rechtlichen Voraussetzungen erfüllt. Die notarielle Beurkundung anstelle einer Registrierung oder Beurkundung beim Standesamt dient somit der Rechtssicherheit und dem Schutz aller Beteiligten.

 

2. Mit Modulen zu einer maßgeschneiderten Verantwortungsgemeinschaft

Die Besonderheit der vorgeschlagenen Einführung einer Verantwortungsgemeinschaft liegt in der modularen Struktur, die es den Vertragspartnern erlaubt, ihre rechtliche Beziehung individuell zu gestalten. Dies geschieht durch die Auswahl aus verschiedenen Modulen, die spezifische Rechtsfolgen nach sich ziehen:

1. Modul „Auskunft und Vertretung in Gesundheitsangelegenheiten“: Dieses Modul ermöglicht es den Vertragspartnern, in gesundheitlichen Notsituationen Auskunft von behandelnden Ärzten zu erhalten und einander in medizinischen Belangen zu vertreten. Es lehnt sich an das Ehegattennotvertretungsrecht (vgl. § 1358 BGB) an und trägt dem Bedürfnis nach einer rechtssicheren Grundlage für die gegenseitige Unterstützung in kritischen Lebenssituationen Rechnung. Eines der Beispiele dafür ist die Organspende nach § 8 Transplantationsgesetz (TPG).

2. Modul „Zusammenleben“: Die rechtlichen Herausforderungen des gemeinschaftlichen Wohnens werden durch dieses Modul adressiert. Es sieht eine Regelung zur vorübergehenden Wohnungsüberlassung bei Beendigung der Verantwortungsgemeinschaft vor und ermöglicht eine gegenseitige Verpflichtungsermächtigung für alltägliche Besorgungen. Dadurch soll der Alltag von Personen, die einen gemeinsamen Haushalt führen, erleichtert werden.

3. Modul „Pflege und Fürsorge“: Angesichts einer alternden Gesellschaft und dem zunehmenden Bedarf an nichtprofessioneller Pflege unterstreicht dieses Modul die Bedeutung der gegenseitigen Fürsorge. Es zielt darauf ab, die besondere Form der persönlichen Verantwortungsübernahme zu fördern, ohne jedoch eine Verpflichtung zur Pflege zu begründen. Hierbei steht insbesondere die Gleichstellung mit nahen Angehörigen im Pflegezeitgesetz im Fokus der Überlegungen.

4. Modul „Zugewinngemeinschaft“: Dieses Modul ist speziell für zweiköpfige Verantwortungsgemeinschaften gedacht und ermöglicht die Anwendung der Regelungen zur Zugewinngemeinschaft, wie sie zwischen Ehegatten gelten kann (vgl. § 1363 BGB). Es bietet eine rechtliche Grundlage für den Vermögensausgleich bei Beendigung der Verantwortungsgemeinschaft und adressiert somit eine wichtige Facette der wirtschaftlichen Absicherung innerhalb dieser Lebensformen. Allgemein betrachtet ist eine Beendigung der Verantwortungsgemeinschaft durch einen konsensualen Vertrag möglich, während dem Austritt eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung genügt.

 

III. Fazit

Das Konzept der Verantwortungsgemeinschaft, wie es im Eckpunktepapier des Bundesministeriums der Justiz vom 02. Februar 2024 vorgeschlagen wird, steht emblematisch für die notwendige Evolution des deutschen Familienrechts in einer Zeit, in der die gesellschaftliche Diversifizierung der Lebensformen eine immer größere Rolle spielt. Dieser innovative rechtliche Ansatz reflektiert nicht nur ein tiefes Verständnis für die Komplexität menschlicher Beziehungen jenseits tradierter konservativer Konstellationen, sondern markiert auch einen entscheidenden Schritt hin zu einer inklusiveren Rechtsordnung, die die Pluralität der modernen Gesellschaft würdigt und rechtlich absichert.

Das Justizministerium erkennt mit dem Entwurf eines Eckpunktepapiers richtigerweise an, dass die Auffassung von Familie und persönlichen Bindungen einem Wandel unterliegt und dass das Recht flexibel genug sein muss, um auf diese Veränderungen zu reagieren. Indem es zwei oder mehr volljährigen Personen ermöglicht, eine rechtlich anerkannte Gemeinschaft auf der Basis gegenseitiger Verantwortung zu bilden, eröffnet es einen Raum für die rechtliche Anerkennung einer Vielzahl von Beziehungskonstellationen, die in der Vergangenheit am Rande der rechtlichen Anerkennung standen. Dieser Ansatz trägt der Tatsache Rechnung, dass Verantwortung, Fürsorge und gegenseitige Unterstützung Werte sind, die in allen Arten von menschlichen Beziehungen zu finden sind – unabhängig davon, ob sie in das traditionelle Bild von Familie passen oder nicht. Die Einführung von Modulen, wie “Auskunft und Vertretung in Gesundheitsangelegenheiten”, “Zusammenleben”, “Pflege und Fürsorge” sowie “Zugewinngemeinschaft”, bietet den Rahmen für eine solche Individualisierung und zeigt, wie rechtliche Regelungen den realen Bedürfnissen der Menschen angepasst werden können.

Das Eckpunktepapier und das vorgeschlagene Institut der Verantwortungsgemeinschaft stellen somit eine Antwort auf die drängende Frage dar, ob das aktuelle Familienrecht noch zeitgemäß ist. Letztlich ist dieses Unterfangen beispielhaft für eine Rechtsinnovation, die nicht nur die Diversität der Lebensformen anerkennt, sondern auch aktiv darauf abzielt, rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die diese Diversität unterstützen und schützen.

In der Gesamtschau markiert das Institut der Verantwortungsgemeinschaft einen potenziell wegweisenden Moment in der Entwicklung des deutschen Familienrechts. Es bietet eine Grundlage für eine tiefgreifende und notwendige Diskussion über die Rolle des Rechts in einer sich ständig wandelnden Gesellschaft und unterstreicht die Bedeutung eines Rechtssystems, das die Vielfalt menschlicher Beziehungen in all ihren Facetten umarmt. Die Einführung der Verantwortungsgemeinschaft könnte somit nicht nur die rechtliche Landschaft in Deutschland bereichern, sondern auch einen wertvollen Beitrag zur Förderung einer Kultur der Anerkennung, Wertschätzung und rechtlichen Absicherung aller Formen von persönlichen Näheverhältnissen leisten.

Die detaillierte Ausarbeitung und Implementierung dieser Eckpunkte werden zweifellos eine der zentralen Herausforderungen in der Weiterentwicklung des deutschen Familienrechts darstellen. Die weitere Ausgestaltung bleibt abzuwarten, bis ein Gesetzesvorschlag im Kabinett vorliegt. Dieser wird im Herbst 2024 erwartet.

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