Die Unterlassung dieser Pflicht ist ein „echtes Unterlassungsdelikt“, das bedeutet, dass die bloße Nichtleistung der Hilfe unter Strafe steht, unabhängig von einer eigentlichen Handlung. Dieser Tatbestand stellt daher sicher, dass in Notsituationen ein Mindestmaß an zwischenmenschlicher Solidarität gewährleistet wird.
Ein Unglücksfall im Sinne des § 323c StGB beschreibt indes eine plötzlich eintretende Gefahrensituation, die ein Individualrechtsgut – etwa das Leben, die Gesundheit oder bedeutende Sachwerte – bedroht.
Was sind typische Fallgruppen für Unglücksfälle? Typische Ereignisse von Unglücksfällen können beispielsweise im Straßenverkehr vorkommen, wenn durch einen Unfall Menschen verletzt werden und ohne rasches Eingreifen der drohende Schaden weiter eskalieren könnte. Ebenso können Arbeitsunfälle, bei denen Leib und Leben in Gefahr sind, oder Naturkatastrophen, die Menschen durch höhere Gewalt in akute Gefahr bringen, typische Unglücksfälle darstellen.
Wie wird bewertet, ob ein Unglücksfall vorliegt? Die Würdigung, ob ein Unglücksfall vorliegt, erfolgt anhand einer ex-post-Perspektive. Das bedeutet, dass für die Beurteilung der Strafbarkeit nicht ausschlaggebend ist, was die potenziellen Täter zum Zeitpunkt des Geschehens dachten. Stattdessen wird berücksichtigt, ob auch unter Einbeziehung objektiver Tatsachen, die erst später bekannt wurden, ein Unglücksfall vorlag.
2. Unglücksfall und Diebstahl – § 243 Absatz 1 Nr. 6 StGB
Nach § 243 Absatz 1 Nr. 6 StGB kann das Vorliegen eines Unglücksfalls zudem einen Diebstahl als „besonders schweren Fall“ qualifizieren, wenn eine Person die Notlage eines anderen, beispielsweise bei einem Unfall, für sich ausnutzt.
3. Suizidversuch als Unglücksfall
Umstritten ist, ob ein Selbstmordversuch als Unglücksfall im Sinne des § 323c StGB gewertet werden kann. Nach herrschender Meinung und gefestigter Rechtsprechung kann dies in bestimmten Fällen zutreffen, insbesondere wenn die betroffene Person während des Versuchs erkennbare Anzeichen zeigt, dass sie gerettet werden möchte oder zumindest nicht ablehnend gegenüber einer Hilfeleistung ist. Ist die Person jedoch eindeutig entschlossen, ihrem Leben ein Ende zu setzen und handelt bewusst und willentlich, könnte die Hilfeleistungspflicht entfallen, da das Recht auf Selbstbestimmung hier Vorrang hat.
Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 3. Juli 2019 (Az.: 5 StR 132/18) zur ärztlich assistierten Selbsttötung hat der BGH festgestellt, dass ein freiverantwortlich gefasster Suizidentschluss des Suizidenten den Arzt nicht zu aktiven Rettungsmaßnahmen verpflichtet, wenn diese dem ausdrücklichen Willen des Suizidenten widersprechen. Der BGH betonte in diesem Zusammenhang die Bedeutung der individuellen Selbstbestimmung, auch im Hinblick auf das Lebensende, und stellte fest, dass ein Arzt, der die Freiverantwortlichkeit des Suizidwillens kennt und anerkennt, keine strafrechtliche Verantwortung für eine Rettungspflicht trägt. In dem gegenständlichen Fall hatten die Frauen zuvor in Patientenverfügungen festgelegt, dass sie keine Rettungsmaßnahmen wünschen und bekräftigten diesen Entschluss mehrfach gegenüber dem Arzt. Der BGH sah in diesem Fall indes keine Garantenstellung, die den Arzt zur aktiven Rettung verpflichten würde, da die Patientinnen die todbringenden Mittel eigenständig und wissentlich eingenommen hatten.
4. Schutz von Sachwerten als Bestandteil des Unglücksfalls
Ferner wird diskutiert, ob bereits die Gefährdung von bloßen Sachwerten ausreicht, um einen Unglücksfall anzunehmen. Nach einer Ansicht schützt § 323c StGB vorrangig Leib und Leben, was bedeutet, dass für die Bejahung eines Unglücksfalls mehr als eine bloße Gefahr für Sachwerte vorliegen muss. Die überwiegende Meinung jedoch schließt wertvolle Sachgüter als schutzwürdige Rechtsgüter nicht aus, da auch deren drohende Zerstörung erhebliche soziale und wirtschaftliche Folgen haben kann. Letztlich kommt es im Einzelfall darauf an, ob das gefährdete Sachgut eine solche Bedeutung hat, dass eine Hilfeleistung zur Gefahrenabwehr aus rechtlicher Sicht geboten erscheint.
5. Schema zur Prüfung des § 323c StGB:
- Tatbestand:
- a) Vorliegen eines Unglücksfalls, einer gemeinen Gefahr oder Not:
- Ein Unglücksfall liegt vor, wenn ein plötzliches Ereignis eine erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder bedeutende Sachwerte mit sich bringt oder zu bringen droht. Typische Beispiele sind Unfälle im Verkehr, im Haushalt, am Arbeitsplatz oder Naturkatastrophen.
- Eine gemeine Gefahr betrifft Bedrohungen, die eine Vielzahl von Personen oder eine erhebliche Menge an Sachwerten betreffen, wie z. B. Brände oder Überschwemmungen.
- b) Unterlassen der erforderlichen Hilfeleistung:
- Der Täter muss es unterlassen haben, in der gegebenen Situation die gebotene Hilfe zu leisten. Es wird nicht erwartet, dass der Täter die Gefahr vollständig abwendet, sondern dass er das ihm Mögliche unternimmt, um den drohenden Schaden zu mindern.
- c) Erforderlichkeit der Hilfeleistung:
- d) Zumutbarkeit der Hilfeleistung:
- Die Hilfeleistung muss dem Täter zumutbar sein, das heißt, sie darf ihn nicht selbst in erhebliche Gefahr bringen oder seine eigenen rechtlichen Pflichten verletzen. Dabei werden die persönlichen Umstände des Täters berücksichtigt (sog. Zumutbarkeitskriterien).
- Subjektiver Tatbestand:
- Vorsatz:
- Der Täter muss zumindest bedingt vorsätzlich gehandelt haben, d. h., er muss erkannt haben, dass ein Unglücksfall vorliegt und er zur Hilfeleistung verpflichtet wäre, diese jedoch bewusst unterlassen haben.
- Rechtswidrigkeit und Schuld:
- Rechtswidrigkeit:
- Es darf kein Rechtfertigungsgrund vorliegen, der das Unterlassen der Hilfeleistung rechtfertigen könnte.
- Schuld:
- Der Täter muss schuldfähig sein und es darf kein Schuldausschließungsgrund (z. B. Unkenntnis über den Unglücksfall) vorliegen.
III. Verfassungsrechtliche Bedeutung des Unglücksfalls
Neben dem Strafrecht spielt der Begriff des Unglücksfalls auch im Verfassungsrecht eine wichtige Rolle. Besonders in Artikel 35 des Grundgesetzes (GG) wird der Begriff verwendet.