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Der Sirius Fall – Ein Klassiker des Strafrechts: Sachverhalt und rechtliche Würdigung

Der “Sirius” Fall, ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 5. Juli 1983 (BGHSt 32, 38), ist ein bekannter und viel zitierter Fall in der Strafrechtslehre. Er behandelt die komplexe Abgrenzung zwischen strafbarer Tötung in mittelbarer Täterschaft und der straflosen Teilnahme an einem Suizid. Der Fall beleuchtet wesentliche Aspekte der Tatherrschaft und Eigenverantwortlichkeit des Opfers, was ihn zu einem wichtigen Referenzpunkt im Strafrecht macht.

I. Fred Gaster und der Sirius Fall

Im Jahr 1973 oder 1974 lernte der Angeklagte Fred Gaster die junge Frau H. in einer Diskothek kennen. H., damals noch unselbstständig und komplexbeladen, entwickelte eine intensive Freundschaft zu Fred Gaster, der sich im Laufe der Zeit zu ihrem Lehrer und Berater in allen Lebensfragen entwickelte. Gaster spiegelte H. vor, er sei ein Abgesandter des Sterns Sirius, dessen Bewohner philosophisch weit über den Menschen stünden. Er behauptete, dass H. nach ihrem körperlichen Tod auf Sirius weiterleben könne, sofern sie eine geistige und philosophische Weiterentwicklung erreiche.

Fred Gaster nutzte das Vertrauen von H. aus, um sich finanziell zu bereichern. Er überredete sie, 30.000 DM für die Meditation eines Mönchs zu zahlen, der angeblich ihre geistige Weiterentwicklung fördern sollte. Nachdem diese Täuschung gelungen war, entwickelte Gaster einen Plan, um von H. noch mehr Geld zu erlangen: H. solle eine Lebensversicherung über 250.000 DM abschließen, ihn als Begünstigten einsetzen und sich durch einen inszenierten Unfall töten. Nach seiner Darstellung würde H. nach dem Tod in einem neuen Körper weiterleben und weiterhin Geld benötigen.

Am 1. Januar 1980 versuchte H., nach den Anweisungen von Fred Gaster, sich in ihrer Badewanne durch das Eintauchen eines eingeschalteten Föns zu töten. Dabei handelte sie in der festen Überzeugung, nicht zu sterben, sondern in einem neuen Körper zu erwachen. Fred Gaster überwachte den Versuch telefonisch, doch der tödliche Stromstoß blieb aus, und H. überlebte.

 

II. Juristische Kernfragen im Sirius Fall

Die zentrale Frage im Sirius Fall war, ob Fred Gaster wegen versuchten Mordes in mittelbarer Täterschaft oder lediglich wegen strafloser Teilnahme am Suizid von H. verurteilt werden sollte. Der BGH entschied, dass Gaster sich wegen versuchten Mordes in mittelbarer Täterschaft gemäß §§ 211, 22, 23, 25 Absatz 1, Var. 2 StGB strafbar gemacht hatte. Diese Entscheidung basiert auf der Feststellung, dass H. nicht eigenverantwortlich handelte, sondern durch eine Täuschung dazu gebracht wurde, eine Handlung vorzunehmen, die zu ihrem Tod führen sollte.

Die entscheidende Frage in der Beurteilung dieses Falls ist die Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme. Insbesondere stellt sich die Frage, ob Gaster als mittelbarer Täter oder als Teilnehmer (Anstifter oder Gehilfe) am Suizid von H. anzusehen ist. Der Unterschied ist entscheidend, da die Teilnahme am Suizid grundsätzlich straflos ist, während die mittelbare Täterschaft bei einer Tötungshandlung strafbar ist.

 

1. Mittelbare Täterschaft und Eigenverantwortlichkeit

Für die Annahme der mittelbaren Täterschaft ist entscheidend, dass der Täter das Geschehen durch einen anderen Menschen beherrscht, der als „Werkzeug“ fungiert. Im Sirius Fall hatte Fred Gaster durch seine überlegenen Kenntnisse und Täuschungen die Tatherrschaft über H. Er führte H. bewusst in einen Irrtum über den Nichteintritt des Todes und lenkte sie dadurch gezielt zu einer Handlung, die ihren Tod herbeiführen sollte.

Der BGH stellte fest, dass H. unter einem erheblichen Irrtum handelte, als sie den Fön ins Wasser fallen ließ. Sie glaubte fest daran, dass sie in einem neuen Körper erwachen würde und lehnte den Gedanken an einen Selbstmord ab. Damit war sie nicht in der Lage, die Tragweite ihres Handelns zu erkennen, was ihre Eigenverantwortlichkeit ausschloss. Gaster war sich dieser Umstände bewusst und nutzte sie gezielt aus, was ihm die Tatherrschaft über das Geschehen verlieh.

 

2. Die Einwilligungs- und Schuldlösung

In der juristischen Diskussion wird die Eigenverantwortlichkeit des Opfers oft anhand der sogenannten Einwilligungs- und Schuldlösung beurteilt.

  • Schuldlösung: Diese Lösung zieht Analogien zu den §§ 3 JGG, 16, 19, 20, 35 StGB heran und besagt, dass eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung vorliegt, wenn das Opfer, hätte es einen Dritten getötet, strafbar gewesen wäre. Da H. im Sirius Fall nicht vorsätzlich handelte und nicht strafbar gewesen wäre, konnte keine Eigenverantwortlichkeit angenommen werden.
  • Einwilligungslösung: Diese orientiert sich an den Rechtsgedanken der rechtfertigenden Einwilligung. Danach ist die Eigenverantwortlichkeit gegeben, wenn das Opfer verantwortungsfähig ist und keine wesentlichen Willensmängel aufweist. Im Sirius Fall war H. nicht eigenverantwortlich, da sie durch Täuschung handelte und die Tragweite ihres Handelns nicht erkannte.

 

3. Rechtliche Wertung des BGH zum Sirius Fall

Der BGH entschied, dass Fred Gaster wegen versuchten Mordes in mittelbarer Täterschaft verurteilt werden muss. Der Kern der Entscheidung liegt in der Feststellung, dass H. aufgrund der Täuschung durch Gaster nicht eigenverantwortlich handelte. Diese Täuschung verschleierte die Tatsache, dass H. eine Handlung vornahm, die ihren Tod herbeiführen sollte. Somit hatte Gaster die Tatherrschaft kraft überlegenen Wissens, wodurch er H. als „Werkzeug“ gegen sich selbst einsetzte.

Der BGH argumentierte weiter, dass auch ein bloßer Motivirrtum des Opfers zur Annahme der Tatherrschaft führen könne, wenn dieser das Opfer dazu bringt, das Geschehen nicht vollständig zu durchschauen und dem Täter die Kontrolle über das Tatgeschehen ermöglicht.

 

III. Fazit zum Sirius Fall und Bedeutung für die Rechtswissenschaft

In der juristischen Ausbildung wird der Sirius-Fall häufig herangezogen, um die Prinzipien der Tatherrschaft und die Anforderungen an die Eigenverantwortlichkeit des Opfers zu erläutern. Er bleibt ein exemplarisches Beispiel dafür, wie das Strafrecht auch in komplexen und außergewöhnlichen Fällen angewendet wird, um Gerechtigkeit zu gewährleisten und Missbrauch durch Täuschung zu verhindern.

 

IV. Neuere Entwicklungen im Umfeld von Fred Gaster

Recherchen und Ermittlungen des ARD haben gezeigt, dass der Sirius Fall möglicherweise nur die Spitze des Eisbergs im kriminellen Leben von Fred Gaster war. Neue Erkenntnisse haben zusätzliche Todesfälle in seinem Umfeld ans Licht gebracht. Diese Untersuchungen deuten darauf hin, dass Fred Gaster möglicherweise ein Serientäter / Serienmörder war.

Anlass für diese jüngsten Erkenntnisse ist eine umfassende Recherche von Holger Schmidt und Marie-Claire Schneider, Dokumentarin im SWR-Archiv in Baden-Baden, die den Sirius Fall erneut ins Rampenlicht gerückt haben. In ihrem Podcast “Mord vom anderen Stern – Die Toten des Sirius” und der Doku-Serie “Tödliche Verführung – Das Geheimnis des Sirius-Mörders” beleuchten sie das Umfeld von Fred Gaster.

Die Recherchen deuten darauf hin, dass im persönlichen Umfeld von Fred Gaster in den späten 1970er Jahren mehrere ungeklärte Todesfälle aufgetreten sind. Diese Todesfälle, darunter die seiner vermögenden Ehefrau, die angeblich Suizid beging, sowie anderer Bekannter, werfen ein düsteres Licht auf Gaster. Seine Ehefrau, die beim Südwestfunk beschäftigt war, hatte sich wenige Wochen vor dem Badewannen-Ereignis erschossen; Fred Gaster gab an, geschlafen zu haben und durch den Schuss aufgewacht zu sein.

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