Das Konzept der multikulturellen Gesellschaft behauptet, dass die Bundesrepublik Deutschland eine Heimat für verschiedene Kulturen ist, die mit hoher Toleranz gleichwertig nebeneinander existieren. Doch die Realität offenbart oft komplexe Strukturen, in denen Parallelgesellschaften entstehen.
Eine multikulturelle Gesellschaft zeichnet sich durch eine hohe Toleranz gegenüber verschiedenen Kulturen aus. Jede Kultur sollte gleichwertige Integrationsmöglichkeiten haben, die von Neuankömmlingen angenommen werden. Dennoch zeigt die Analyse, dass es innerhalb solcher Gesellschaften Mehrheiten und Minderheiten gibt, die sich gegenseitig abgrenzen. Hierdurch entstehen Parallelgesellschaften.
Mit “Parallelgesellschaft” versteht man gemeinhin eine ethnisch homogene Bevölkerungsgruppe, die sich räumlich, sozial und kulturell von der Mehrheitsgesellschaft isoliert. Oft wird der Begriff im öffentlichen Diskurs kritisch verwendet, insbesondere im Zusammenhang mit Migranten und deren kultureller Integration.
Thomas Meyer liefert eine genauere Definition des Begriffs und nennt fünf Hauptindikatoren für das Vorhandensein parallelgesellschaftlicher Strukturen:
Ein konkretes Beispiel für eine Parallelgesellschaft in Deutschland ist die türkische Gemeinschaft. Die Soziologin Necla Kelek schätzt, dass etwa 2,6 Millionen Menschen türkischer Herkunft in Deutschland leben. Ein Großteil dieser Bevölkerungsgruppe ist gut integriert, während ein kleinerer Teil, schätzungsweise 1 Million Menschen, sich gegen die Integration entschieden hat. Diese Gruppe lebt nach ihren eigenen Traditionen und hat sich in einer eigenen Parallelgesellschaft organisiert.
Kelek beschreibt das Phänomen weiter und betont, dass viele in Deutschland lebende Türken noch nach den Regeln ihres ursprünglichen anatolischen Dorfes leben. Sie haben sich in ihrem Glauben und ihrer Kultur isoliert und perpetuieren diese Isolation, indem sie ihre Kinder innerhalb ihrer Gemeinschaft verheiraten. Dies führt oft zu verschiedenen sozialen Problemen, wie mangelnder Bildungsbereitschaft und einer starken Betonung von Respekt und Ehre in Familienstrukturen, bei denen Männer die dominierende Rolle spielen.
Es ist wichtig zu beachten, dass das traditionelle islamische Gesellschaftsmodell von der westlichen Vorstellung von Gesellschaft, Staat und Familie abweicht. Im traditionellen islamischen Modell gibt es eine klare Trennung zwischen Männern und Frauen, wobei Männer die Öffentlichkeit repräsentieren und Frauen den privaten Bereich. Dieser grundlegende Unterschied in der Wahrnehmung von Gesellschaft und Individuum führt zu Spannungen und Missverständnissen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und der türkischen Parallelgesellschaft in Deutschland.
Zweitens und vielleicht am bedeutsamsten ist die Tatsache, dass der Begriff “Parallelgesellschaft” oft als Werkzeug benutzt wird, um bestimmte Gruppen zu stigmatisieren und auszugrenzen. Er kann als Instrument dienen, um Vorurteile und rassistische Tendenzen in der Gesellschaft zu verstärken. Es ist nicht zu leugnen, dass es Gruppen gibt, die sich willentlich von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzen. Aber zu behaupten, dass alle Mitglieder einer bestimmten ethnischen oder religiösen Gruppe Teil einer Parallelgesellschaft sind, ist eine grobe Verallgemeinerung und trägt zur Spaltung statt zur Integration bei.
Die Darstellung von Necla Kelek wirft ebenfalls einige kritische Fragen auf. Während Keleks Argumente durch ihre Untersuchungen und Beobachtungen untermauert sind, können sie nicht als repräsentativ für alle Migrantinnen und Migranten türkischer Herkunft in Deutschland angesehen werden. Generalisierungen über große Gruppen können zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen führen, insbesondere wenn diese Generalisierungen negative Stereotypen oder Vorurteile verstärken.
Es ist auch wichtig zu betonen, dass das deutsche Recht und das deutsche Gesellschaftssystem nicht das Recht eines jeden Bürgers auf kulturelle Identität und religiöse Freiheit verneinen. Das Recht auf kulturelle und religiöse Identität ist durch das Grundgesetz und internationale Abkommen geschützt, solange es nicht gegen andere Gesetze oder die Rechte anderer verstößt.
Abschließend muss betont werden, dass der Begriff “Parallelgesellschaft” in der öffentlichen Diskussion oft mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet. Anstatt zu vereinfachen und zu polarisieren, sollte der Fokus darauf liegen, die tieferen Ursachen und Dynamiken zu verstehen, die zu solchen Phänomenen führen. Eine integrative und inklusive Gesellschaft kann nur dann erreicht werden, wenn wir die Vielfalt als eine Bereicherung und nicht als eine Bedrohung betrachten.
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