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In dubio pro reo – Historie, Bedeutung, Kritik, Beispiel (Pistazienfall)

Der Grundsatz “in dubio pro reo”, lateinisch für “im Zweifel für den Angeklagten”, ist ein zentraler Begriff des Strafrechts. Er besagt, dass ein Angeklagter nicht verurteilt werden darf, wenn nach der Beweisaufnahme noch Zweifel an seiner Schuld bestehen. Dieser Grundsatz hat große Bedeutung im Strafprozess und ist eng mit der Unschuldsvermutung verknüpft.

I. Historische Entwicklung

Der Grundsatz “in dubio pro reo” hat seine Wurzeln in der antiken Rechtsauffassung und wurde im Laufe der Geschichte weiterentwickelt. Bereits in der griechischen Rechtsphilosophie und im römischen Recht spielte das Prinzip der Zweifelhaftigkeit eine Rolle. Die prägnante Formulierung “in dubio pro reo” wurde jedoch erst im 16. Jahrhundert durch den Mailänder Rechtsgelehrten Egidio Bossi populär. In Deutschland fand die heute gebräuchliche Wendung durch Friedrich Spee von Langenfeld Verbreitung, der sie in seiner Schrift “Cautio Criminalis” gegen die Hexenverfolgungen einsetzte.

 

II. Anwendung von “in dubio pro reo” im deutschen Recht

Im deutschen Recht wird der Grundsatz “in dubio pro reo” aus Artikel 103 Absatz 2 Grundgesetz (GG), Artikel 6 Absatz 2 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und § 261 Strafprozessordnung (StPO) abgeleitet. Er hat den Status eines grundrechtsgleichen Rechts im Sinne des Artikel 93 I Nr. 4a GG.

In dubio pro reo Bedeutung: Es ist wichtig zu betonen, dass “in dubio pro reo” keine Beweisregel, sondern eine Entscheidungsregel ist. Er gibt dem Gericht keine Vorgaben, wann es Zweifel haben muss, sondern legt fest, wie zu entscheiden ist, wenn Zweifel bestehen. Nach § 261 StPO gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung, was bedeutet, dass das Gericht jedem Beweis frei eine Bedeutung zumessen darf. Erst wenn nach der Beweiswürdigung noch Zweifel verbleiben, kommt der Grundsatz “in dubio pro reo” zum Tragen.

Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung: Bevor ein Angeklagter nach “in dubio pro reo” freigesprochen werden kann, muss das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen aufklären und alle in Betracht kommenden Beweismittel ausschöpfen (Grundsatz der Amtsermittlung, § 244 Absatz 2 StPO). Eine Verletzung dieses Grundsatzes kann in der Revision zur Urteilsaufhebung führen, da der Zweifelssatz dem materiellen Recht zugeordnet wird.

Grenzen des Grundsatzes:

Der Grundsatz “in dubio pro reo” findet seine Grenzen in der Wahlfeststellung und bestimmten Tatbeständen, wie z.B. in § 186 StGB (Üble Nachrede), wo Zweifel zulasten des Angeklagten gehen. Zudem gilt der Zweifelssatz nicht für Rechtsfragen und wird nicht auf Prozessvoraussetzungen angewendet, was in der Literatur jedoch umstritten ist.

 

III. Kritische Betrachtung der Entscheidungsregel “in dubio pro reo”

Der Grundsatz “in dubio pro reo” ist nicht frei von Kritik. Einige Juristen, wie Gunther Arzt und Kyriakos N. Kotsoglou, hinterfragen die Selbstverständlichkeit und die logische Konsistenz des Satzes. Arzt argumentiert, dass der Zweifelssatz zu einer Verselbständigung als Verfassung-/ Staatsprinzip führt und andere Gestaltungsprinzipien des Strafrechtssystems relativiert. Kotsoglou hingegen betont, dass der Freispruch des Angeklagten kein Gunstbeweis eines gnädigen Richters sei, sondern der Aufrechterhaltung des Unschuldsstatus diene, wenn keine hinreichende Überzeugung von der Schuld besteht.

 

IV. Anwendungsbeispiel: Der Pistazieneisfall

Ein anschauliches Beispiel für die Anwendung des Grundsatzes “in dubio pro reo” ist der sogenannte Pistazieneisfall. Der Pistazieneisfall drehte sich um einen Vorwurf des Diebstahls, bei dem der Angeklagte beschuldigt wurde, aus einem Supermarkt mehrere Packungen Pistazieneis gestohlen zu haben. Die Anklage basierte auf verschiedenen Indizien, darunter die Aussage eines Zeugen und Videoaufzeichnungen aus dem Supermarkt. Auf den ersten Blick schienen die Beweise gegen den Angeklagten erdrückend zu sein, was zu seiner Anklage führte.

Im Verlauf des Verfahrens wurden die Beweise jedoch genauer untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass die Videoaufzeichnungen nicht eindeutig bewiesen, dass der Angeklagte tatsächlich das Eis gestohlen hatte. Die Qualität der Aufnahmen war schlecht, und es war unklar, ob die Person auf dem Video tatsächlich der Angeklagte war. Darüber hinaus gab es Unstimmigkeiten in der Zeugenaussage, die Zweifel an deren Zuverlässigkeit weckten.

Der Angeklagte bestritt die Tat vehement und erklärte, er habe sich zwar im Supermarkt aufgehalten, jedoch kein Pistazieneis gestohlen. Nach einer umfassenden Beweisaufnahme und -würdigung stellte das Gericht fest, dass erhebliche Zweifel an der Schuld des Angeklagten bestanden. Die vorgelegten Beweise reichten nicht aus, um die Schuld des Angeklagten zweifelsfrei nachzuweisen. Insbesondere die unsicheren Videoaufnahmen und die widersprüchlichen Zeugenaussagen führten dazu, dass das Gericht nicht mit der erforderlichen Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten ausgehen konnte.

In Anwendung des Grundsatzes “in dubio pro reo” entschied das Gericht, dass der Angeklagte freizusprechen sei. Der Bundesgerichtshof bestätigte in der Revision diese Entscheidung und betonte, dass die Entscheidungsregel in Fällen wie diesem, in denen die Beweislage unklar ist, konsequent anzuwenden sei.

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