Die zentrale Frage bleibt: Wird in Deutschland mit zweierlei Maß gemessen, wenn es um politisch motivierte Gewalt geht? Die Verteidigung von Lina E sieht sich bestätigt, wenn sie auf die lange Liste ungesühnten rechten Terrors verweist. Das NSU-Netzwerk konnte ein Jahrzehnt lang morden, ohne dass die Behörden seine Existenz erkannten. Auch der Mord an Walter Lübcke zeigte, dass die Gefahr von rechts zu lange unterschätzt wurde. Die Chronik rechtsextremer Gewalt ist lang, und die aufgeführten Beispiele sind nur ein Ausschnitt. Die Blutspur von rechts zieht sich unaufhaltsam weiter und reicht von Hanau bis Halle, von Neukölln bis Freital. Ein Ende? Kaum in Sicht.
Auch die Zahlen des BKA untermauern die Kritik: 1.170 rechtsextreme Gewalttaten wurden 2023 registriert – ein Anstieg um 12 Prozent. Linksextreme Gewalttaten gingen hingegen um 30 Prozent zurück und lagen bei 842 Fällen. Dennoch wurde in Sachsen mit der Soko Linx eine eigene Sonderkommission gegründet, um mutmaßlich linke Täter mit großem Aufwand zu verfolgen. Rechtsextreme Strukturen hingegen, wie die Kampfsportgruppe „Knockout 51“, konnten über Jahre hinweg agieren, bevor Ermittlungen eingeleitet wurden.
Für viele Beobachter ist der Fall Lina E daher ein Sinnbild dafür, dass der Staat mit ungleicher Härte gegen verschiedene Formen politischer Gewalt vorgeht. Während Rechtsextreme häufig nur milde Strafen erhielten oder gar nicht erst angeklagt wurden, sei im Fall von Lina E bewusst ein Exempel statuiert worden. Der mediale und juristische Aufwand – von der Soko Linx bis hin zur Spektakel-Verhaftung per Hubschrauber – werde als Versuch gewertet, linke Gewalt zu dämonisieren.
Doch die Brutalität der Angriffe von Lina E. und ihrer Gruppe lässt sich selbst im Kontext einer unzureichenden Verfolgung rechter Gewalt nicht als legitimer Widerstand verklären. Hier geht es nicht um Protest, sondern um gezielt ausgeführte, potenziell lebensgefährliche Überfälle. Zwar mag der Unterschied diskutabel sein, dass rechte Gewalt häufiger zu Todesopfern führt, während linke Gewalt sich oft auf Sachbeschädigungen und gezielte Angriffe beschränkt, doch genau hier liegt ein widersprüchliches Paradoxon: Antifaschismus ist der Kampf gegen Menschenverachtung, doch wenn er selbst in menschenverachtende Gewalt umschlägt, untergräbt er seine eigene Legitimation.
Der entscheidende Punkt: Wer Selbstjustiz duldet, riskiert eine Eskalationsspirale, in der die Grenzen zwischen Täter und Opfer verwischen. In der Konsequenz wird die Antifa in der öffentlichen Wahrnehmung oft als das Klischee der “Krawallmacher, Störenfriede oder Chaoten” reduziert. Doch diese Zuschreibung verkennt ihre tatsächliche Funktion: ein Schutzwall gegen rechte Gewalt, der zwischen politischem Aktivismus und praktischer Verteidigung demokratischer Werte changiert.
Dass dieser Widerstand nicht nur symbolisch bleibt, sondern mitunter konkrete Auswirkungen hat, zeigte sich jüngst in Berlin-Mitte. Dort gelang es über 1.200 Gegendemonstranten, einen Aufmarsch von etwa 170 Neonazis durch Sitzblockaden und Protestzüge mehrfach zu stoppen und umzuleiten.
Doch während diese Form des zivilgesellschaftlichen Protests zweifellos ein wirksames Mittel gegen rechtsextreme Präsenz im öffentlichen Raum ist, bleibt die Frage, wo legitimer Widerstand endet und rechtswidrige Selbstjustiz beginnt. Ein demokratischer Rechtsstaat kann nicht hinnehmen, dass sich einzelne Gruppen das Recht nehmen, politische Gegner zu attackieren und damit das Gewaltmonopol des Staates in Frage stellen. Wenn sich in einer Gesellschaft extremistische Phänomene vermischen, führt es unweigerlich zu einer gegenseitigen Radikalisierung, der Delegitimierung staatlicher Institutionen und einem Bruch des Vertrauens in die Justiz. Gerade deshalb muss der Rechtsstaat seine Maßstäbe konsequent und in alle Richtungen wahren, ohne politische Präferenzen und ohne blinde Flecken.