Lina E. – BGH bestätigt Urteil: Das Ende eines umstrittenen Falls?

Leipzig/Karlsruhe – Das letzte Wort ist gesprochen: Der Bundesgerichtshof (BGH) hat die Verurteilung von Lina E in seinem Urteil bestätigt und damit den Schlusspunkt unter einen der aufsehenerregendsten Prozesse zu politisch motivierter Gewalt in Deutschland gesetzt (Urt. v. 19.03.2025, Az.: 3 StR 173/24). Die militante Antifaschistin muss für fünf Jahre und drei Monate ins Gefängnis. Gleichzeitig wies das Gericht die Revision der Bundesanwaltschaft ab, die eine noch härtere Strafe angestrebt hatte. Damit ist das Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Dresden nun rechtskräftig.

Da Lina E bereits zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft saß, bleibt ihr noch eine Reststrafe von etwa einem Jahr und neun Monaten. Eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe ist möglich, sodass sie unter Umständen bereits in wenigen Monaten freikommen könnte.

Lina E

Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe – hier wurde die Verurteilung von Lina E endgültig bestätigt. Doch beendet das Urteil die gesellschaftliche Debatte?

Dass der Fall insofern eine der härtesten Verurteilungen gegen linksradikale Strukturen seit Jahrzehnten markiert, ist kein Zufall. Vielmehr scheint er zu einem Präzedenzfall für die strafrechtliche Bewertung politisch motivierter Gewalt erwachsen zu sein – insbesondere im targetierten linken Spektrum.

Während linksgerichtete Gruppen verstärkt staatlicher Repression ausgesetzt seien, blieben rechtsextreme Netzwerke oft unbehelligt. So lautet die Kritik vieler Aktivisten, die in dem Prozess ein Musterbeispiel asymmetrischer Strafverfolgung sehen. Auch am Tag der mündlichen Revisionsverhandlung in Karlsruhe war diese Kritik auf der Straße zu hören. Dutzende Personen versammelten sich vor dem Bundesgerichtshof, skandierten „Free Lina!“ und hielten Transparente in die Höhe. Für sie steht das Urteil weniger für einen juristischen Schlusspunkt als für einen politischen Präzedenzfall, der die Frage nach doppelten Standards in der Strafverfolgung neu entfacht. Doch wie gerechtfertigt ist dieser Vorwurf? Hat der Rechtsstaat hier lediglich konsequent gehandelt, oder wurden an verschiedene politische Lager unterschiedliche Maßstäbe angelegt?

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1. Wer ist Lina E?

Der heute 30-jährige Leipzigerin wurde gemeinsam mit drei Mitangeklagten vorgeworfen, zwischen 2018 und 2020 gezielt Angriffe auf Rechtsextreme in Leipzig, Eisenach und Wurzen verübt zu haben. Die Gruppe soll dabei mit äußerster Gewalt vorgegangen sein, bewaffnet mit Schlosserhämmern und Teleskop-Schlagstöcken.

Lina E wurde 2023 vom Oberlandesgericht Dresden wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und mehrfacher gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Der Vorwurf, sie sei die Rädelsführerin gewesen, konnte jedoch nicht bewiesen werden – der Bundesgerichtshof bestätigte das Urteil, wies aber die entsprechende Forderung der Bundesanwaltschaft zurück. Dennoch sahen die Gerichte es als erwiesen an, dass Lina E eine zentrale Rolle in der Gruppe gespielt habe. Laut Ermittlungsbehörden waren die Attacken systematisch geplant: Opfer wurden ausspioniert, anonyme Prepaid-Handys genutzt und die Angriffe maskiert ausgeführt. Betroffen waren bekannte rechtsextreme Aktivisten wie Neonazi Leon R und Mitglieder der Kampfsportgruppe „Knockout 51“.

2. Das Urteil – Gewalt als politisches Mittel?

Dass der Fall Lina E. ein Präzedenzfall für die strafrechtliche Bewertung politisch motivierter Gewalt ist, hat sich nun bestätigt. Der Bundesgerichtshof hat mit seinem Urteil eine klare Linie gezogen: Gewalt bleibt Gewalt – unabhängig davon, aus welcher politischen Richtung sie kommt. „Das Zusammenschlagen und Zusammentreten von Menschen ist durch politische Motive gleich welcher Art nicht zu rechtfertigen und zu entschuldigen“, erklärte der Vorsitzende Richter Jürgen Schäfer unmissverständlich in der Urteilsverkündung. Ein Satz, der die Grundfesten des Rechtsstaats betont und zugleich eine Antwort auf die politisch aufgeheizte Debatte um den Fall Lina E liefert.

Die Gruppe um Lina E war eine kriminelle Vereinigung. Organisiert, konspirativ und mit dem erklärten Ziel, Rechtsextreme anzugreifen. Der BGH bestätigte die Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) Dresden, das Lina E 2023 wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie mehrfacher gefährlicher Körperverletzung verurteilt hatte. Die Angriffe seien nicht spontane Auseinandersetzungen gewesen, sondern gezielt vorbereitet – mit verdeckter Kommunikation, Ausspähungen und kalkulierter Gewalt. Opfer wurden gezielt auf dem Heimweg abgepasst oder an ihren Treffpunkten überfallen. Maskierte Täter, die mit Hämmern und Schlagstöcken zuschlugen, organisierte Rückzugsrouten, die Konspiration bis ins Detail – all das sei Teil eines durchdachten Plans gewesen.

Was ist eine kriminelle Vereinigung?

In der Praxis führt die strafrechtliche Einordnung einer Gruppe als kriminelle Vereinigung zu weitreichenden Ermittlungsmöglichkeiten – einschließlich verdeckter Überwachungsmaßnahmen wie etwa durch V-Personen. Dies wird von Kritikern als Türöffner für übermäßige Strafverfolgung gesehen, während Befürworter auf die Notwendigkeit verweisen, Gruppen frühzeitig zu zerschlagen, bevor sie gefährliche Taten begehen.

Die juristische Definition erfordert vier zentrale Kriterien:1

  1. Personelle Struktur – Mindestens drei Mitglieder müssen sich mit einer gewissen Dauerhaftigkeit zusammenschließen.
  2. Organisatorische Struktur – Eine rudimentäre, aber funktionale Organisation, die über rein spontane Zusammenkünfte hinausgeht.
  3. Zielsetzung – Die Gruppe muss darauf ausgerichtet sein, Straftaten zu begehen, die im Höchstmaß mit mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind.
  4. Ernsthafte Tatplanung – Die Verwirklichung der Straftaten muss konkret intendiert sein, nicht bloß als vage Möglichkeit bestehen.

BGH bestätigt: Tatbeteiligung rechtsfehlerfrei belegt

Mit dem heutigen Urteil steht fest: Die Verurteilung von Lina E bleibt bestehen. Der Bundesgerichtshof sah keine Rechtsfehler in der Beweisführung und verwarf die Revision der Verteidigung. Die Tatbeteiligung sei „rechtsfehlerfrei“ festgestellt worden, erklärte der 3. Strafsenat. Damit bleibt das Urteil des Oberlandesgerichts Dresden nahezu unangetastet.

Kein Erfolg für die Bundesanwaltschaft: Keine Einstufung als Rädelsführerin

Doch nicht nur die Verteidigung scheiterte mit ihrer Revision. Auch die Bundesanwaltschaft konnte sich mit ihrer Forderung nach einer höheren Strafe nicht durchsetzen. Sie hatte angestrebt, Lina E als Rädelsführerin einzustufen, um eine schwerwiegendere strafrechtliche Bewertung zu erreichen.

Blickpunkt Protest: Ein Polizist steht der Antifa-Demo gegenüber.

Zwar bestritt der BGH nicht, dass Lina E innerhalb der Gruppe eine besondere Rolle spielte, doch für eine Rädelsführerschaft fehlten die entscheidenden Beweise. Nach dem BGH konnte nicht belegt werden, dass Lina E tatsächlich die zentrale Steuerung der Gruppe übernahm, Anweisungen gab oder strategische Entscheidungen traf. Für eine Verurteilung als Rädelsführerin hätte sie nachweislich eine führende Funktion innehaben müssen – das jedoch sei nicht hinreichend bewiesen.

Damit bleibt es bei der ursprünglichen Verurteilung: fünf Jahre und drei Monate Haft. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Ein Urteil mit Signalwirkung

Die Botschaft ist unmissverständlich: Politische Gewalt bleibt strafbar, unabhängig von ihrer ideologischen Ausrichtung. Das Strafrecht zieht hier keine politischen Grenzen. Damit ist der juristische Teil des Falls nun abgeschlossen, doch die gesellschaftliche Debatte über politische Gewalt, asymmetrische Strafverfolgung und die Rolle des Staates dürfte noch lange andauern.

Wer gilt als Rädelsführer?

Laut Rechtsprechung ist Rädelsführer, wer:

  • eine maßgebliche Führungsrolle innerhalb der Gruppe innehat,
  • geistig oder wirtschaftlich erheblichen Einfluss besitzt, und
  • über ideologische, organisatorische oder strukturelle Fragen entscheidet.2

Dabei kommt es nicht auf eine offizielle Stellung an – auch wer durch sein Handeln de facto an der Führung beteiligt ist, kann als Rädelsführer gelten. Allerdings ist es nicht erforderlich, dass sich alle Mitglieder seinem Willen unterordnen. Entscheidend ist der bestimmende Einfluss auf zentrale Entscheidungen der Vereinigung.

3. “Free Lina” – Politische Märtyrerin oder zu Recht verurteilt?

Mit dem Urteil ist klar: Die Verurteilung von Lina E bleibt bestehen, ihr Schuldspruch ist rechtskräftig. Doch die Auseinandersetzung um ihre Person und den Umgang des Staates mit politisch motivierter Gewalt geht weit über das Gerichtsurteil hinaus.

Bereits vor dem Urteilsspruch warnte Bundesinnenministerin Nancy Faeser vor einer wachsenden Bedrohung durch linksextreme Gewalttäter.3 Noch deutlicher und mit fast schon apodiktischer Schärfe warnte der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang, dass die Grenze zum Linksterrorismus gefährlich nahe gerückt sei.4

Auf der anderen Seite wird Lina E als eine Ikone der linken Szene zelebriert. „Free Lina“-Graffitis prangen in Leipzig-Connewitz, Solidaritätskundgebungen fanden bundesweit statt und es kam zu zahlreichen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und der Polizei. Ihre Unterstützer argumentieren: Rechte Gewalt werde systematisch verharmlost, linke Gewalt verfolge man jedoch mit aller Härte. 

Doch die Gegenüberstellung dieser Sichtweisen greift zu kurz. Tatsächlich zeigt der Fall Lina E, dass Justiz und Strafverfolgung in politisch aufgeladenen Verfahren immer auch einer gesellschaftlichen Wertung unterliegen. Besonders in Deutschland mit seiner Geschichte politischer Extremismen – sei es im links- oder rechtsextremen Spektrum – haben Strafverfahren eine über das Juristische hinausgehende Dimension.

4. Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit

Asymmetrische Strafverfolgung?

Die zentrale Frage bleibt: Wird in Deutschland mit zweierlei Maß gemessen, wenn es um politisch motivierte Gewalt geht? Die Verteidigung von Lina E sieht sich bestätigt, wenn sie auf die lange Liste ungesühnten rechten Terrors verweist. Das NSU-Netzwerk konnte ein Jahrzehnt lang morden, ohne dass die Behörden seine Existenz erkannten.5 Auch der Mord an Walter Lübcke zeigte, dass die Gefahr von rechts zu lange unterschätzt wurde.6 Die Chronik rechtsextremer Gewalt ist lang, und die aufgeführten Beispiele sind nur ein Ausschnitt. Die Blutspur von rechts zieht sich unaufhaltsam weiter und reicht von Hanau bis Halle, von Neukölln bis Freital. Ein Ende? Kaum in Sicht.

Auch die Zahlen des BKA untermauern die Kritik: 1.170 rechtsextreme Gewalttaten wurden 2023 registriert – ein Anstieg um 12 Prozent. Linksextreme Gewalttaten gingen hingegen um 30 Prozent zurück und lagen bei 842 Fällen.7 Dennoch wurde in Sachsen mit der Soko Linx eine eigene Sonderkommission gegründet, um mutmaßlich linke Täter mit großem Aufwand zu verfolgen. Rechtsextreme Strukturen hingegen, wie die Kampfsportgruppe „Knockout 51“, konnten über Jahre hinweg agieren, bevor Ermittlungen eingeleitet wurden.8

Lina E als Exempel?

Für viele Beobachter ist der Fall Lina E daher ein Sinnbild dafür, dass der Staat mit ungleicher Härte gegen verschiedene Formen politischer Gewalt vorgeht. Während Rechtsextreme häufig nur milde Strafen erhielten oder gar nicht erst angeklagt wurden, sei im Fall von Lina E bewusst ein Exempel statuiert worden. Der mediale und juristische Aufwand – von der Soko Linx bis hin zur Spektakel-Verhaftung per Hubschrauber – werde als Versuch gewertet, linke Gewalt zu dämonisieren.

Doch die Brutalität der Angriffe von Lina E und ihrer Gruppe lässt sich selbst im Kontext einer unzureichenden Verfolgung rechter Gewalt nicht als legitimer Widerstand verklären. Hier geht es nicht um Protest, sondern um gezielt ausgeführte, potenziell lebensgefährliche Überfälle. Zwar mag der Unterschied diskutabel sein, dass rechte Gewalt häufiger zu Todesopfern führt, während linke Gewalt sich oft auf Sachbeschädigungen und gezielte Angriffe beschränkt,9 doch genau hier liegt ein widersprüchliches Paradoxon: Antifaschismus ist der Kampf gegen Menschenverachtung, doch wenn er selbst in menschenverachtende Gewalt umschlägt, untergräbt er seine eigene Legitimation.

Wo endet Widerstand?

Wer Selbstjustiz duldet, riskiert eine Eskalationsspirale, in der die Grenzen zwischen Täter und Opfer verwischen. In der Konsequenz wird die Antifa in der öffentlichen Wahrnehmung oft auf das Klischee der “Krawallmacher, Störenfriede oder Chaoten”10 reduziert. Doch diese Zuschreibung verkennt ihre tatsächliche Funktion: ein Schutzwall gegen rechte Gewalt, der zwischen politischem Aktivismus und praktischer Verteidigung demokratischer Werte changiert.

Dass dieser Widerstand nicht nur symbolisch bleibt, sondern konkrete Auswirkungen hat, zeigte sich jüngst in Berlin-Mitte. Dort gelang es über 1.200 Gegendemonstranten, einen Aufmarsch von etwa 170 Neonazis durch Sitzblockaden und Protestzüge mehrfach zu stoppen und umzuleiten.11

Doch während diese Form des zivilgesellschaftlichen Protests zweifellos ein wirksames Mittel gegen rechtsextreme Präsenz im öffentlichen Raum ist, kann ein demokratischer Rechtsstaat nicht hinnehmen, dass sich einzelne Gruppen das Recht nehmen, politische Gegner zu attackieren und damit das Gewaltmonopol des Staates in Frage stellen. Wenn sich in einer Gesellschaft extremistische Phänomene vermischen, führt es unweigerlich zu einer gegenseitigen Radikalisierung und der Delegitimierung staatlicher Institutionen. Gerade deshalb muss der Rechtsstaat seine Maßstäbe konsequent und in alle Richtungen wahren, ohne politische Präferenzen und ohne blinde Flecken.

5. Umgang mit politisch motivierter Gewalt

Während die Justiz in Fällen wie dem von Lina E hart durchgreift und linke Gewalt konsequent verfolgt, bleibt das Vertrauen vieler in eine gleichmäßige Strafverfolgung erschüttert. Zu oft mussten rechte Netzwerke, von militanten Kameradschaften bis hin zu gut organisierten Neonazi-Strukturen, kaum mit vergleichbarer Verfolgung rechnen.

Doch der Staat steht nicht nur vor der Herausforderung, Extremismus zu bekämpfen, sondern auch vor der Aufgabe, seine eigenen Institutionen glaubwürdig zu halten. Exemplarisch steht der Verfassungsschutz immer wieder in der Kritik, weil er nicht nur bei der Aufklärung rechtsextremer Strukturen versagt, sondern durch seine V-Leute-Praxis teils selbst zur Abschirmung extremistischer Netzwerke beiträgt.12 Zu oft wurden Fälle bekannt, in denen Mitarbeiter der Behörde Verbindungen zu rechtsextremen Netzwerken hatten oder Informationen an diese weitergaben. In jüngerer Vergangenheit sorgten unter anderem Berichte über rechte Chatgruppen innerhalb von Sicherheitsbehörden13 sowie vernichtete Akten im NSU-Komplex14 für Aufsehen und Stimmen unterschiedlicher politischer Lager kritisieren, dass der Verfassungsschutz sich instrumentalisieren lasse und mitunter eher politischen Erwartungshaltungen folge, als neutral verfassungsfeindliche Strukturen zu analysieren.15

Währenddessen wird gegen linke Gruppen mit voller Härte durchgegriffen – sei es bei Antifa-Strukturen oder bei Klimaaktivisten der Letzten Generation, denen der Vorwurf der „kriminellen Vereinigung“ gemacht wird.16 Diese Diskrepanz geht folglich mit einer zunehmenden zunehmenden Verhärtung des politischen Diskurses einher. Die Auseinandersetzung um Extremismus – von rechts wie von links – wird längst nicht mehr nur auf juristischer Ebene geführt, sondern hat sich zu einem ideologischen Kampf ausgeweitet, der sich in den Straßen und Parlamenten gleichermaßen abspielt. Auch der CDU-Chef Friedrich Merz hat dabei in den letzten Wochen eine Schlüsselrolle eingenommen.

Während sich Zehntausende in Deutschland friedlich gegen eine Annäherung der CDU an die AfD positionierten, versuchte Merz, diese Proteste zu delegitimieren. In einer Rede verurteilte er die Demonstrierenden der Demonstrationen für die Demokratie als “grüne und linke Spinner” und appellierte an SPD und Grüne, zur Mäßigung aufzurufen.17 Doch diese Darstellung ignorierte die Realität der Proteste: Bislang haben sich mehr als 1,6 Millionen Menschen an jenen kritisierten Demonstrationen beteiligt18 und die Mehrheit dieser verlief friedlich. Sie waren Ausdruck eines breiten gesellschaftlichen Widerstands gegen die politische Normalisierung rechtsextremer Positionen. Merz Äußerungen verdeutlichen indes nicht nur ein fragwürdiges Demokratieverständnis, sondern zeigen auch eine gefährliche Verschiebung der politischen Maßstäbe.

München, 8. Februar 2025: Proteste gegen Friedrich Merz und rechte Strukturen – Zehntausende demonstrieren für Demokratie und Zusammenhalt.

Die Konsequenzen dieser Entwicklung sind gleichwohl absehbar: Wer legitimen Protest delegitimiert, stärkt radikale Kräfte. Wer friedliche Demonstrationen mit einer Bedrohung gleichsetzt, provoziert eine Gegenbewegung, die sich jedenfalls zum Teil nicht länger im demokratischen Rahmen aufgehoben fühlt. Es ist daher kein Zufall, dass der politische Diskurs in Deutschland zunehmend von Eskalation geprägt ist. Je mehr konservative Kräfte friedliche Proteste kriminalisieren, desto mehr fühlen sich radikalere Gruppen darin bestätigt, dass politische Auseinandersetzungen nicht mehr auf dem demokratischen Spielfeld geführt werden können.

In der Konsequenz entsteht ein gefährlicher Teufelskreis, der in seiner Dynamik brandgefährlich ist: Ein demokratischer Staat darf nicht nur fordern, dass sein Gewaltmonopol respektiert wird, er muss es auch rechtfertigen. Die Verhärtung der politischen Fronten, die Entfremdung zwischen Staat und gesellschaftlichen Gruppen und eine Justiz, die jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung nicht immer mit gleicher Konsequenz handelt, treiben aktuell die Radikalisierung voran. Wer linke Gewalt nur als Spiegel rechter Gewalt betrachtet, verkennt die eigentliche Gefahr: dass eine Demokratie, die ihre Institutionen nicht glaubwürdig verteidigt, an Legitimität verliert. Und genau diese Legitimität ist es, die den Unterschied zwischen Protest und blindem Aktionismus, zwischen Widerstand und Selbstjustiz markiert.

6. Literaturverzeichnis

  1. Singelnstein/Winkler, NJW 2023, 2815, 2816.
  2. MüKoStGB-Schäfer/Anstötz § 129 StGB Rn. 147.
  3. Spiegel Online, „Fall Lina E.: Nancy Faeser sieht wachsende Gefahr durch Linksextremismus“, abrufbar unter: spiegel.de (zuletzt abgerufen am 5. März 2025).
  4. Bundesamt für Verfassungsschutz, „Urteil gegen Lina E.: Einordnung des Verfassungsschutzes“, abrufbar unter: verfassungsschutz.de (zuletzt abgerufen am 5. März 2025).
  5. Das rechtsextreme NSU-Netzwerk konnte über ein Jahrzehnt hinweg ungehindert morden, bevor es 2011 durch einen Zufall aufgedeckt wurde, siehe: Bundeszentrale für politische Bildung, „Der Weg zum NSU-Urteil“, abrufbar unter: bpb.de (zuletzt abgerufen am 6. März 2025).
  6. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, „Rechtsextremismus in Deutschland: Fünf Jahre nach dem Mord an Walter Lübcke“, abrufbar unter: freiheit.org (zuletzt abgerufen am 6. März 2025).
  7. Bundeskriminalamt, „Vorstellung der Fallzahlen zur Politisch motivierten Kriminalität 2023“, abrufbar unter: bka.de (zuletzt abgerufen am 6. März 2025).
  8. Knockout 51 soll spätestens im Jahr 2019 gegründet worden sein und war bis zur Anklageerhebung durch den Generalbundesanwalt am 2. Mai 2023 aktiv, siehe: Tagesschau, „Anklage gegen mutmaßliche Rechtsextremisten“, abrufbar unter: tagesschau.de (zuletzt abgerufen am 6. März 2025).
  9. Anna Brausam von der Amadeu Antonio Stiftung beklagt mindestens 220 Todesopfer durch rechtsextreme und rassistische Gewalt seit 1990, „Todesopfer rechter Gewalt: Diskrepanz bleibt weiter bestehen“, abrufbar unter: amadeu-antonio-stiftung.de (zuletzt abgerufen am 6. März 2025).
  10. Sebastian Leber, Tagesspiegel, „Chaoten oder Heilsbringer? Danke, liebe Antifa!“, abrufbar unter: tagesspiegel.de (zuletzt abgerufen am 6. März 2025).
  11. rbb24 Abendschau, „Neonazi-Aufmarsch in Berlin-Mitte wird mehrfach durch Gegendemos gestoppt“, abrufbar unter: rbb24.de (zuletzt abgerufen am 6. März 2025).
  12. Vgl. hierzu bspw.: Renner/Wehrhan, Humanistische Union, „Das Problem Verfassungsschutz“, abrufbar unter: humanistische-union.de (zuletzt abgerufen am 6. März 2025).
  13. Der Verfassungsschutz zählt mittlerweile 327 rechtsextreme oder „Reichsbürger“-Verdachtsfälle in deutschen Sicherheitsbehörden, siehe: Bundesamt für Verfassungsschutz, „Lagebericht Rechtsextremisten, Reichsbürger und Selbstverwalter in Sicherheitsbehörden“, abrufbar unter: verfassungsschutz.de (zuletzt abgerufen am 6. März 2025).
  14. Maximilian Pichl, Verfassungsblog, „Skandal ohne öffentlichen Aufschrei: Verfassungsschutz hat im NSU-Komplex vorsätzlich Akten vernichtet“, abrufbar unter: verfassungsschutz.de (zuletzt abgerufen am 6. März 2025); Verfassungsblog, „Skandal ohne öffentlichen Aufschrei: Verfassungsschutz hat im NSU-Komplex vorsätzlich Akten vernichtet“, abrufbar unter: verfassungsblog.de (zuletzt abgerufen am 6. März 2025).
  15. Martin Wagener, „Der Bundesverfassungsschutz lässt sich politisch instrumentalisieren“, abrufbar unter: nzz.ch (zuletzt abgerufen am 6. März 2025).
  16. Singelnstein/Winkler, NJW 2023, 2815, 2815 ff.
  17. Tagesschau, „Wahlkampfabschluss von Merz“, abrufbar unter: tagesschau.de (zuletzt abgerufen am 6. März 2025).
  18. Gurol/Bader, RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), „Demos gegen Rechts 2025“, abrufbar unter: rnd.de (zuletzt abgerufen am 6. März 2025).
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Jurawelt Redaktion

Christopher Molter

Studium:

  • Student der Rechtswissenschaften an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht
  • Schwerpunktbereich: Bank- und Kapitalmarktrecht
  • Auslandsaufenthalt an der University of Alberta (Kanada)

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  • Redakteur & Studentischer Mitarbeiter