Wirecard-Bilanzskandal: Haftet die BaFin für Anlegerverluste?

In seinem Urteil vom 10. Januar 2024 hat der Bundesgerichtshof (BGH) eine grundlegende Entscheidung zur Frage nach der Haftung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) im Kontext des Wirecard-Bilanzskandals getroffen (Az.: III ZR 57/23). Der Bilanzskandal der Wirecard AG, welcher ein einst renommiertes deutsches Technologieunternehmen betrifft und 2020 für Erschütterungen in der Finanzwelt sorgte, war Auslöser für umfassende juristische Auseinandersetzungen. Im Zentrum dieser juristischen Debatten stand insbesondere die Rolle der BaFin und die damit verbundene Frage, inwiefern sie für die durch den Zusammenbruch von Wirecard entstandenen Anlegerverluste haftbar gemacht werden könnte. Die hierzu gegenständliche Bilanzkontrolle im relevanten Zeitraum vom 21. Dezember 2004 bis zum 31. Dezember 2021 erfolgte auf Basis eines zweistufigen „Enforcement-Verfahrens“ gemäß §§ 106 ff. Wertpapierhandelsgesetz (WpHG).

Das jüngste BGH-Urteil bedeutet für die Klagen von Wirecard-Aktionären gegen die BaFin gleichwohl einen schweren Dämpfer. Mit der Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde eines betroffenen Anlegers setzte der BGH ein deutliches juristisches Signal, das weitreichende Folgen für ähnlich gelagerte Fälle hat.

1. Was waren die Ursachen hinter dem Bilanzskandal der Wirecard AG?

Die Wirecard AG, einst als strahlender Stern am Himmel der deutschen FinTech-Industrie gefeiert, erlangte rasch Bedeutung als Zahlungsabwickler und avancierte später zu einem globalen Akteur im Bereich der elektronischen Zahlungs- und Risikomanagementlösungen. Mit seinem fulminanten Aufstieg erreichte das Unternehmen im September 2018 einen Meilenstein: die Aufnahme in den Deutschen Aktienindex (DAX), womit Wirecard in die Riege der 30 wertvollsten börsennotierten Unternehmen Deutschlands aufstieg. Doch die scheinbar unaufhaltsame Erfolgsgeschichte nahm eine dramatische Wendung, als die „Financial Times” eine Reihe von Enthüllungen veröffentlichte, die auf finanzielle Unregelmäßigkeiten und betrügerische Aktivitäten im Unternehmen hinwiesen, insbesondere im Hinblick auf Vertragsfälschungen und Bilanzmanipulationen in seinen asiatischen Niederlassungen.

Die Situation eskalierte am 18. Juni 2020, als Wirecard in einer Ad-hoc-Mitteilung einräumen musste, dass es keine hinreichenden Prüfungsnachweise für die Existenz von 1,9 Milliarden Euro an Bankguthaben auf Treuhandkonten gab, die einen wesentlichen Teil der Konzernbilanz darstellten. Dies führte zu einem massiven Vertrauensverlust bei Investoren und Geschäftspartnern. Nur Tage später, am 22. Juni, veröffentlichte die Wirecard AG in einer weiteren Ad-hoc-Mitteilung, dass die besagten 1,9 Milliarden Euro aller Wahrscheinlichkeit nach nicht existierten, woraufhin am 25. August 2020 das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Wirecard AG eröffnet wurde.

Die schockierenden Enthüllungen hatten tiefgreifende Auswirkungen. Sie führten nicht nur zu erheblichen finanziellen Einbußen für die Aktionäre, sondern erschütterten auch das Vertrauen in die deutsche Finanzaufsicht und die Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Insbesondere gerieten die BaFin und die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young (EY) ins Kreuzfeuer der Kritik, da sie über Jahre die Jahresabschlüsse von Wirecard testiert hatten, ohne die Bilanzunregelmäßigkeiten aufzudecken. Die rechtliche Aufarbeitung des Skandals umfasste eine Vielzahl von Klagen gegen das Unternehmen selbst, seine Führungskräfte, die Wirtschaftsprüfer und die BaFin als deutsche Finanzdienstleistungsaufsichtsbehörde. Als zuständige Anstalt des öffentlichen Rechts obliegt der BaFin die Aufsicht über die Einhaltung der Vorschriften des Wertpapierhandelsgesetzes (WpHG), insbesondere im Bereich der Bilanzkontrolle und der Marktmissbrauchsüberwachung. Die Anschuldigungen konzentrierten sich auf Vorwürfe der Bilanzfälschung, des Betrugs, der Marktmanipulation und der Verletzung von Aufsichtspflichten. Der Bilanzskandal der Wirecard AG entwickelte sich somit zu einem der größten Wirtschaftsskandale in der deutschen Nachkriegsgeschichte und wurde zu einem Weckruf für die Finanzindustrie und Regulierungsbehörden, um ihre Überwachungs- und Kontrollmechanismen zu überdenken und zu stärken, damit ähnliche Ereignisse in der Zukunft verhindert werden können.

 

2. Haftet die BaFin für Verluste von Aktionären der Wirecard AG?

Im Zentrum der juristischen Aufarbeitung des Wirecard-Skandals stand die Frage, inwiefern die BaFin eine rechtliche Verantwortung gegenüber Anlegern trägt, die durch den Zusammenbruch der Wirecard AG finanzielle Einbußen erlitten. Als börsennotiertes Unternehmen war Wirecard der Finanzmarktaufsicht und Bilanzkontrolle durch die BaFin unterworfen. Nunmehr bezog der BGH mit seinem richtungsweisenden Urteil eine klare Stellung zur Haftungsfrage der BaFin.

Ein von Wirecards Niedergang betroffener Aktionär verklagte die BaFin auf Schadensersatz, gestützt auf Amtshaftungsansprüche gemäß § 839 Absatz 1 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in Verbindung mit Art. 34 Grundgesetz (GG) und unionsrechtliche Staatshaftungsansprüche. Er argumentierte, die BaFin hätte über Jahre hinweg ihre gesetzlichen Pflichten zur Aufklärung und Prävention von Marktmanipulationen vernachlässigt und somit die Öffentlichkeit sowie den Kapitalmarkt unzureichend informiert. Der Kläger, der vor Aufdeckung des Skandals Wirecard-Aktien erworben hatte, sah sich durch den dramatischen Kursverfall geschädigt. Vor dem Bekanntwerden des Bilanzskandals der Wirecard AG erwarb der Kläger 500 Inhaberaktien der Wirecard AG zu einem Kurs von 132,97 Euro für insgesamt 66.475,00 Euro, die er nach dem Bekanntwerden des fehlenden Bankguthabens am 25. Juni 2020 nur noch für insgesamt 1.648,25 EUR veräußern konnte. Er forderte daher Schadensersatz aus Amtshaftung in Höhe von 64.833,75 EUR. Diese Klage wurde jedoch in allen Instanzen abgewiesen.

Sowohl das Landgericht Frankfurt am Main als auch das Oberlandesgericht Frankfurt am Main und schließlich der Bundesgerichtshof verneinten einen Schadensersatzanspruch aus Amtshaftung sowie einen unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch. Das Landgericht Frankfurt am Main betonte, dass die Aufgaben der BaFin sich auf das allgemeine öffentliche Interesse konzentrieren und nicht speziell auf den Schutz individueller Aktionärsinteressen ausgerichtet sind. Daher besteht kein Drittschutz für einzelne Anleger. Auch die Tatsache, dass Angestellte der BaFin mit Wirecard-Aktien Handel betrieben, wurde vom Gericht nicht als Verstoß gegen die guten Sitten bewertet.

Ebendem wies der Bundesgerichtshof die Klage zurück und stellte in seiner Urteilsbegründung fest, dass die BaFin in ihrer Funktion als Aufsichtsbehörde nicht direkt für Anlegerverluste haftet. Der BGH hob ferner hervor, dass die Aufgaben und Pflichten der BaFin primär im öffentlichen Interesse liegen und ein direkter Schutz einzelner Aktionäre (Drittschutz) nicht vorgesehen ist. Das Handeln der BaFin in der Marktmissbrauchsüberwachung und Bilanzkontrolle im Zusammenhang mit dem Bilanzskandal der Wirecard AG wurde als konform mit den gesetzlichen Vorgaben des Wertpapierhandelsgesetzes, der Richtlinie 2013/50/EU (Transparenz-Richtlinie) und der Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 (Marktmissbrauchsverordnung) beurteilt. Damit wird verdeutlicht, dass der individuelle Anlegerschutz in Deutschland vorrangig durch regulatorische Rahmenbedingungen und weniger durch direkte Haftungsansprüche gegenüber Aufsichtsbehörden gewährleistet wird.

Die Entscheidung des BGH stärkt das Verständnis der Grenzen der Haftung von Aufsichtsbehörden und etabliert einen präzedenzschaffenden Rahmen für zukünftige juristische Auseinandersetzungen in ähnlich gelagerten Fällen. Die Maßnahmen der BaFin waren mithin „bei voller Wahrung der Belange einer effektiven Bilanzkontrolle jedenfalls vertretbar“, so der BGH.

 

3. Fazit

Der Bundesgerichtshof setzte am 10. Januar 2024 mit seinem Urteil (Az.: III ZR 57/23) einen juristischen Schlusspunkt in Bezug auf die Haftungsfrage der BaFin im Bilanzskandal der Wirecard AG. Das Urteil des Bundesgerichtshofs manifestiert die rechtlichen Grenzen der Amtshaftung von Aufsichtsbehörden und dämpft signifikant die Erwartungen von Aktionären der Wirecard AG, Schadensersatzansprüche gegen die BaFin durchzusetzen. Dieses Urteil besticht nicht nur durch seine direkten Auswirkungen auf die betroffenen Aktionäre, sondern ebenso durch seine tiefgreifenden Konsequenzen für die Rechtsprechung im Bereich des Anlegerschutzes sowie für die Verantwortlichkeit von Aufsichtsbehörden, und zeichnet damit ein klares Bild für deren zukünftige Rolle und Verantwortung in vergleichbaren Fällen.

Der BGH stellt in seiner Urteilsbegründung klar, dass eine direkte Haftung der BaFin für Anlegerverluste nicht besteht. Somit wird kein Schadensersatzanspruch des Klägers aus Amtshaftung gemäß § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG oder aus einem unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch anerkannt. Diese Klarstellung der Rolle der BaFin als primär im öffentlichen Interesse agierende Behörde, die nicht speziell dem Schutz einzelner Aktionäre dient, markiert eine wichtige Weichenstellung für den individuellen Anlegerschutz und definiert die Verantwortungsgrenzen von Aufsichtsbehörden in Finanzmarktskandalen. Die Handlungen der BaFin in Bezug auf Marktmissbrauchsüberwachung und Bilanzkontrolle im relevanten Zeitraum waren rechtlich unanfechtbar und standen im Einklang mit den Bestimmungen des Wertpapierhandelsgesetzes sowie den europäischen Vorgaben, insbesondere der Transparenz-Richtlinie und der Marktmissbrauchsverordnung.

Insgesamt unterstreicht dieser Fall erneut die Komplexität und die Herausforderungen, die sich im Zusammenhang mit dem Bilanzskandal der Wirecard AG ergeben haben, und wirft Fragen zur Effektivität bestehender Kontrollmechanismen auf. Er signalisiert, dass der Schutz von Anlegern in Deutschland vorrangig durch regulatorische Rahmenbedingungen sichergestellt wird, während direkte Haftungsansprüche gegenüber Aufsichtsbehörden eine nachrangige Rolle spielen. Obwohl dieses Urteil eine rechtliche Klarheit schafft, bleibt die moralische Debatte über Verantwortung und Aufsichtspflichten in ähnlichen Fällen weiterhin diskussionswürdig.

Parallel dazu wurden die Jahres- und Konzernabschlüsse sowie die Lageberichte von Wirecard bis einschließlich für das Geschäftsjahr 2018 von Ernst & Young (EY) mit uneingeschränkten Bestätigungsvermerken testiert. Im Bemühen um Kompensation ihrer Verluste haben geschädigte Wirecard-Aktionäre daher rechtliche Schritte gegen den Bilanzprüfer EY eingeleitet. So reichte die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) Klagen für über 13.000 Wirecard-Anleger gegen EY ein. Es bleibt abzuwarten, ob die Anleger in dieser Hinsicht noch auf eine Entschädigung hoffen können. Eine kontinuierliche Überprüfung und Anpassung der Überwachungs- und Kontrollmechanismen ist allerdings unerlässlich, um ähnliche Ereignisse in der Zukunft zu verhindern und das Vertrauen in die Integrität der Finanzmärkte zu stärken.

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