BGB § 626 Abs. 1; BetrVG § 87 Abs. 1 Nr. 1
Leitsätze:
1. Der dringende Verdacht eines Diebstahls bzw. einer Unterschlagung auch geringwertiger Gegenstände aus dem Eigentum des Arbeitgebers stellt an sich einen wichtigen Grund
zur außerordentlichen Kündigung dar (Prüfung auf der ersten Stufe des § 626 Abs. 1 BGB). Erst die Würdigung, ob dem Arbeitgeber deshalb außerdem die Fortsetzung des
Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist bzw. der vertragsgemäßen Beendigung des Arbeitsverhältnisses unter Abwägung der Interessen beider
Vertragsteile unzumutbar ist (Prüfung auf der zweiten Stufe des § 626 Abs. 1 BGB), kann zur Feststellung der Nichtberechtigung der außerordentlichen Kündigung führen (Best.
d. st. Rspr. des BAG, u. a. im sog. Bienenstichurteil vom 17.5.1984 – 2 AZR 3/83, DB 1984 S.2702).
2. Zur Mitbestimmung (§ 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG) bei Taschenkontrollen innerhalb einer Gruppe von Arbeitnehmern.
Tatbestand:
Die bekl. Partei betreibt die Zugrestaurants der Deutschen Bahn AG. Der Kl. war seit dem 15.6.1979 als sog. ICE-Steward in den Zugrestaurants beschäftigt. Bei einer
stichprobenartigen Routinekontrolle am 13.10.1996 wurde u.a. die Tasche des Kl. nach seinem Dienstschluß und Verlassen des Zuges durchsucht. In dieser befanden sich drei
Kaffeebecher aus Porzellan des Modells Carat (im Wert von je 3,28 DM), zwei Packungen Stockmeyer Westfälischer Knochenschinken von je 100 g (im Wert von je 2,69 DM) und eine
1-Liter-Dose Livio-Pflanzenöl (im Wert von 4,75 DM). Aufgrund des Fundes und des dringenden Verdachts unredlichen Verhaltens, des Diebstahls bzw. der Unterschlagung, wurde
das Beschäftigungsverhältnis des Kl. von der Bekl. nach Anhörung des Betriebsrates mit Schreiben vom 22.10.1996 fristlos aufgelöst. Dagegen richtete sich die Klage des
Arbeitnehmers. Nach dessen Darstellung hatte er sich die Schinken für das Abendessen aufgespart, da er aufgrund des hohen Gästebetriebes keine Zeit zum Essen gefunden habe.
Wie die Tassen in seine Tasche gekommen seien, könne er sich auch nicht erklären. Das Olivenöl wiederum sei ihm von einem Bekannten während des dreistündigen Aufenthaltes in
München für seine Frau mitgegeben worden; es entstamme insoweit nicht aus der Bordküche.
Die Kündigungsschutzklage und das Verlangen auf Weiterbeschäftigung des Kl. wurde in erster Instanz abgewiesen. Das LAG Hamburg hat der Klage auf Berufung nach
Beweisaufnahme entsprochen. Die hiergegen gerichtete Revision war erfolgreich.
Entscheidungsgründe:
I. … II. 2. b) bb) Im Ansatz zutreffend ist das LAG davon ausgegangen, Eigentums- oder Vermögensdelikte zum Nachteil des Arbeitgebers seien grundsätzlich geeignet, eine
außerordentliche Kündigung zu stützen. Das heißt: solche Delikte stellen an sich einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung dar. Das gilt auch für den
Diebstahl oder die Unterschlagung von Sachen mit nur geringem Wert. Die entgegenstehende Ansicht, wonach der Diebstahl oder die Unterschlagung geringwertiger Sachen bereits
nicht die Schwelle des wichtigen Grunds erreicht teilt der Senat nicht. Das von Schwerdtner angesprochene Ungleichgewicht zwischen der Störung der Hauptleistungspflicht
durch Arbeitsverweigerung, die beharrlich sein muss, um einen wichtigen Grund bilden zu können, und der Verletzung der Nebenpflicht, Eigentum und Vermögen des Arbeitgebers
zu wahren, besteht in Wirklichkeit nicht. Während sich ein Arbeitnehmer auch irrtümlich für berechtigt halten kann, die Arbeit zu verweigern, und gerade aus diesem Grunde
das Moment des bewussten und nachhaltigen Handelns hinzutreten muss, setzen die Tatbestände des Diebstahls und der Unterschlagung Rechtswidrigkeit sowie Vorsatz voraus und
sind strafbewehrt. Dem Arbeitnehmer muss die Widerrechtlichkeit seines Verhaltens folglich bewusst sein. Aufgrund der durch den Arbeitsvertrag begründeten Nebenpflicht zur
Loyalität hat er auf die berechtigten Interessen des Arbeitgebers Rücksicht zu nehmen. Diese Verpflichtung beinhaltet zugleich das Verbot, den Arbeitgeber rechtswidrig und
vorsätzlich durch eine Straftat zu schädigen. Der Arbeitnehmer bricht durch die Eigentumsverletzung unabhängig vom Wert des Schadens in erheblicher Weise das Vertrauen des
Arbeitgebers.
Weiter widerspricht es der der Rechtssicherheit dienenden systematischen Zweiteilung des § 626 Abs. 1 BGB in den wichtigen Grund an sich und die nachfolgende
Zumutbarkeitsprüfung unter Interessenabwägung, wenn rechtswidrigen und vorsätzlichen Verletzungen des Eigentums oder Vermögens des Arbeitgebers von vornherein die Eignung
für eine außerordentliche Kündigung abgesprochen wird, weil die Schädigung des Arbeitgebers geringfügig ist. Um Geringfügigkeit zu bejahen, ist eine Wertung erforderlich,
was dafür spricht, die Schadenshöhe der Zumutbarkeitsprüfung im Rahmen der Interessenabwägung zuzuordnen. Der Umfang des dem Arbeitgeber zugefügten Schadens kann vor allem
im Hinblick auf die Stellung des Arbeitnehmers, die Art des entwendeten Guts und die besonderen Verhältnisse des Betriebs unterschiedliches Gewicht für die Beurteilung der
Zumutbarkeit des Pflichtverstoßes aufweisen. Objektive Kriterien für eine allein am Wert des entwendeten Gegenstands ausgerichtete Abgrenzung in ein für eine
außerordentliche Kündigung grundsätzlich geeignetes und ein nicht geeignetes Verhalten lassen sich nicht aufstellen. Die weitaus überwiegende Literaturmeinung teilt die
Auffassung des BAG, dass grundsätzlich auch der Diebstahl oder die Unterschlagung geringwertiger Sachen als wichtiger Grund für eine fristlose Kündigung in Betracht
kommen.
cc) Erschwerend kommt hinzu, wenn die Straftat mit der vertraglich geschuldeten Tätigkeit des Arbeitnehmers zusammenhängt, der Arbeitnehmer namentlich eine sich aus dem
Arbeitsvertrag ergebende Obhutspflicht verletzt und das Delikt nicht nur außerhalb seines konkreten Aufgabenbereichs bei Gelegenheit der Arbeitsleistung verübt. Eine solche
Obhutspflicht oblag dem Kläger bezüglich des Schinkens und der Kaffeebecher, da er als Steward die ihm anvertrauten Lebensmittel zu verarbeiten sowie zu verkaufen und das
Geschirr der Beklagten für die Gäste zu verwenden hatte. Ob die Mitnahme der Sachen strafrechtlich den Verdacht des Diebstahls und damit des Gewahrsamsbruchs in
Zueignungsabsicht oder vielmehr den der Unterschlagung, d. h. der Zueignung von im (Allein)Gewahrsam des Klägers stehenden Sachen der Beklagten begründet, kann auf sich
beruhen. Auf die strafrechtliche Bewertung des Verhaltens kommt es für seine kündigungsrechtliche Bedeutung ohnehin nicht entscheidend an zumal der Senat wegen § 14 Abs. 2
Nr. 1 EGZPO nicht an die tatsächlichen Feststellungen einer strafgerichtlichen Entscheidung gebunden ist.
dd) Was die mitgenommenen Porzellanbecher und Schinkenpackungen anbelangt, besteht der dringende Verdacht, dass der Kläger zumindest unmittelbar dazu ansetzte, den
(Mit)Gewahrsam der Beklagten zu brechen bzw. sich die seinem Gewahrsam anvertrauten Gegenstände zuzueignen, als er mit der Tasche aus dem Zug stieg. (wird ausgeführt)
Dem Kläger war bewusst, dass er sich, indem er den Schinken ohne Bezahlung entnahm, nicht an die Dienstanweisung zur Personalverpflegung ohne Entgelt hielt, wie das LAG
zutreffend erkannt hat. Weder hatte er im Hinblick auf seine Arbeitszeit bis 17.16 Uhr ein Abendessen zu beanspruchen, für das er ersatzweise zwei Schinkenbrote hätte
mitnehmen können, noch war ihm erlaubt, statt der nicht eingenommenen Vesper den Schinken mitzunehmen (Ziff. 2 Alt. 4 und 5, Ziff. 3 Alt. 4, Ziff. 4 bis 6 der genannten
Dienstanweisung). Da aufgrund des Verstoßes gegen die Dienstanweisung ein tatbestandsausschließendes Einverständnis der Beklagten mit dem Gewahrsamsbruch bzw. der Zueignung
ausscheidet und dem Kläger dies bewusst war, besteht auch insofern der dringende Verdacht zumindest eines Diebstahls- bzw. Unterschlagungsversuchs . . . . Ob dem Kläger bei
dieser Sachlage die etwas wunderbar anmutende Geschichte des Livio-Öl-Geschenks seines Freundes T geglaubt werden kann, kann dahingestellt bleiben. Den Rügen der Revision,
das LAG habe insoweit nicht alle wesentlichen Umstände bei seiner Beweiswürdigung berücksichtigt, braucht der Senat nicht mehr nachzugehen, da schon der bisher festgestellte
dringende Verdacht eines Diebstahls bzw. einer Unterschlagung der Porzellanbecher und der Schinkenpackungen aus dem Eigentum der Beklagten kündigungsrelevant ist.
c) Die am 13. 10. 1996 vorgenommene Taschenkontrolle ist auch nicht mitbestimmungswidrig erfolgt, ohne dass hier geklärt werden müsste, ob nicht ggf. auch
mitbestimmungswidrig gewonnene Ergebnisse verwertbar wären.
aa) … bb) Soweit der Arbeitgeber durch von ihm eingesetzte Hilfspersonen stichprobenartige Taschenkontrollen anordnet, um Arbeitnehmer oder Gruppen von ihnen
Untersuchungen zu unterziehen, die Eigentumsdelikte zu seinem Nachteil aufdecken sollen, ist eine solche Anordnung mit der einer allgemeinen Torkontrolle zu vergleichen, die
ganz überwiegend für eine gem. § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG mitbestimmungspflichtige Maßnahme der Ordnung des Betriebs und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb gehalten
wird”). Durch die der Beklagten in Ziff. 4 der Gesamtbetriebsvereinbarung über die Durchführung von Kontrollen der Arbeitnehmerlinnen vom 6. 7.1995 i. V. mit ihren Anlagen 1
und 2 verliehene Befugnis zu Stichprobenkontrollen wird das Verhalten der Arbeitnehmer insoweit geregelt, als sie verpflichtet werden, die Taschenkontrollen zu dulden.
Obgleich der Zweck der Überprüfung darin besteht festzustellen, ob die Arbeitnehmer sich im Zusammenhang mit ihrer Arbeitsleistung so verhalten, wie es ihnen ihre
arbeitsvertragliche Nebenpflicht, das Eigentum des Arbeitgebers zu wahren, ohnehin gebietet ‘2t, berühren die Kontrollen nicht nur das Verhältnis des einzelnen Arbeitnehmers
zum Arbeitgeber. Vielmehr reichen sie (anders als die bloße Überwachung einzelner bestimmter Arbeitnehmer durch Detektive) über dieses hinaus, indem sie die körperliche
Überprüfung der Arbeitnehmer – hier einer durch Los bestimmten Gruppe von Arbeitnehmern – einlässlich des Verlassens des Zuges und damit nicht allein das individuelle
Arbeitsverhalten des einzelnen Arbeitnehmers, sondern das kollektive Ordnungsverhalten der Belegschaft bzw. Teilen von ihr umfassen.
cc) Da die getroffene Regelung notwendig das Gesamtunternehmen, nicht nur den Hamburger Beschäftigungsbetrieb des Klägers betrifft und nicht durch die einzelnen örtlichen
Betriebsräte getroffen werden konnte, unterfiel ihr Abschluss der originären Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats aufgrund ausdrücklicher Kompetenzzuweisung durch § 50 Abs.
1 Satz 1 BetrVG. Überbetrieblich ist die Angelegenheit, weil sich die Stichprobenkontrollen auf alle Züge und Schiffe, d. h. auf mehrere Betriebe und Geschäftsbereiche der
Beklagten beziehen. Da die jeweils betroffene Niederlassung erst entsprechend dem Auswahlverfahren der Anlage 2 der Gesamtbetriebsvereinbarung ausgelost werden muss,
erfordert der Gehalt der Vereinbarung aus der Natur der Sache heraus zwingend eine einheitliche Regelung auf Unternehmensebene.
dd) Die Stichprobenkontrolle vom 13. 10. 1996 verletzte demnach, obwohl sie dem Hamburger Einzelbetriebsrat vor ihrer Durchführung nicht bekannt gegeben wurde, nicht das
bezeichnete Mitbestimmungsrecht. Dieses stand nicht dem örtlichen Betriebsrat, sondern dem Gesamtbetriebsrat zu. Soweit Ziff. 8 der Gesamtbetriebsvereinbarung die Beklagte
verpflichtet, den (Einzel)Betriebsrat über jede Stichprobenkontrolle unverzüglich zu unterrichten, hat die Beklagte dem Rechnung getragen; der Regelung lässt sich das
Erfordernis einer vorherigen Unterrichtung nicht entnehmen.
d) Die vom LAG vorgenommene Interessenabwägung hält der eingeschränkten revisionsgerichtlichen Überprüfung ebenfalls nicht stand, weil sie nicht alle wesentlichen Umstände
in sich widerspruchsfrei berücksichtigt. Vielmehr ist es auf der Basis der durch das ArbG getroffenen Abwägung der Beklagten nicht zuzumuten, das Arbeitsverhältnis bis zum
Eintritt des Klägers in das Rentenalter fortzusetzen.
aa) Die Beklagte war unter den gegebenen Umständen nicht auf das mildere Mittel einer Abmahnung vor Ausspruch der außerordentlichen Kündigung verwiesen ….
Im vorliegenden Fall konnte der Kläger mit vertretbaren Überlegungen nicht davon ausgehen, die Beklagte werde die Mitnahme der drei Kaffeebecher und der beiden
Schinkenpackungen dulden. Das folgt aus seiner Vertrauensstellung als Steward, dem trotz geringer Überwachungsmöglichkeiten der Beklagten eine Vielzahl der in ihrem Eigentum
stehenden Güter zum Verkauf und zur Obhut anvertraut waren. Ungeachtet seiner nicht besonders hohen Vergütung war es der Beklagten wegen des Verdachts des schweren
Mißbrauchs des in ihn gesetzten Vertrauens nicht zuzumuten, ihn vor Ausspruch der Kündigung durch eine Abmahnung zu einer Rückkehr zu vertragsgerechtem Verhalten zu bewegen
14).
bb) Wegen der genannten Rechtsfehler ist das angefochtene Urteil aufzuheben (§ 564 Abs. 1 ZPO), wobei der Senat in der Sache selbst entscheiden konnte (§ 565 Abs. 3 Nr. 1
ZPO). (wird ausgeführt.)