BAG: Anfechtung des Arbeitsvertrags gem. § 123 I BGB wegen unrichtiger Beantwortung der Frage nach Schwerbehinderteneigensch

BAG, AZ 2 AZR 923/94, Urteil vom 05.10.95

LEITSATZ “Die Frage des Arbeitgebers nach der Schwerbehinderteneigenschaft des Stellenbewerbers ist auch dann uneingeschränkt zulässig, wenn die Behinderung, auf der die
Anerkennung beruht, tätigkeitsneutral ist (Fortführung von BAG Urteil vom 11. November 1993 – 2 AZR 467/93 – AP Nr. 38 zu § 123 BGB). Die unrichtige Beantwortung der
Frage nach der Schwerbehinderteneigenschaft kann die Anfechtung des Arbeitsvertrages wegen arglistiger Täuschung nach § 123 BGB rechtfertigen.”

GRÜNDE

Tatbestand:

Die 1951 geborene Klägerin ist seit dem 20. Juni 1991 als Schwerbehinderte mit einem GdB von 50 anerkannt. Sie ist auf einem Auge blind. Sie bewarb sich bei der Beklagten,
die ein Rechenzentrum betreibt, als Reinigungskraft. Bei dem Vorstellungsgespräch sollte die Klägerin einen Personal- und Bewerbungsbogen ausfüllen. Die Frage, ob sie
Schwerbehinderte sei, ließ die Klägerin dabei unbeantwortet. Von dem Personalsachbearbeiter darauf angesprochen und ausdrücklich gefragt, ob sie schwerbehindert sei,
verneinte die Klägerin dies. Daraufhin wurde der Personalbogen entsprechend ergänzt und die Klägerin ab 15. Januar 1992 als Reinigungskraft mit einer Wochenarbeitszeit
von 15 Stunden eingestellt. Die Klägerin hatte im Bürobereich, in den Sozial- und in den Lagerräumen Reinigungsarbeiten auszuführen. Sie mußte die Teppichböden
reinigen und die Bürotische abwischen. An den EDV-Anlagen waren nur die Monitore zu säubern. Als die Klägerin der Beklagten ihre Schwerbehinderteneigenschaft offenbarte
und den Ausweis vorlegte, focht die Beklagte mit Schreiben vom 30. November 1992 das Arbeitsverhältnis wegen arglistiger Täuschung an. Hiergegen wendet sich die Klägerin
mit der Klage.

Die Klägerin macht geltend, die Frage nach ihrer Schwerbehinderteneigenschaft habe sie falsch beantworten dürfen, denn die Beklagte sei nicht berechtigt gewesen, bei dem
Einstellungsgespräch diese Frage zu stellen. Ihre B ehinderung sei für die auszuübende Reinigungstätigkeit ohne Bedeutung gewesen. Sie habe schon zuvor jahrelang in
einer Schule geputzt und versorge ihren fünfköpfigen Haushalt ohne fremde Hilfe. Sie besitze einen Führersch ein und fahre mit zwei zusätzlichen Spiegeln seit
Jahrzehnten unfallfrei. Ihre Arbeit sei von der Beklagten zu keiner Zeit beanstandet worden. Die Befürchtung, sie könne infolge mangelnden räumlichen Sehens die
EDV-Gerätebeschädigen, sei unberechtigt. Sie arbeite an den Monitoren nur mit einem ausgewrungenen Wischtuch. Da sie ihre Arbeitsleistung voll habe erbringen können, habe
sie die Beklagte durch die Verneinung der Frage nach ihrer Schwerbehinderung nicht täuschen wollen. Den Schwerbehindertenausweis habe sie der Beklagten im übrigen schon
Ende September/Anfang Oktober 1992 vorgelegt.

Die Klägerin hat beantragt,

1. festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Anfechtung der Beklagten vom 30. November 1992 nicht aufgelöst ist,

2. im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1 die Beklagte zu verurteilen, sie als Reinigungskraft weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat behauptet, das fehlende räumliche Sehvermögen der Klägerin erhöhe das Unfallrisiko und die Gefahr, daß EDV-Anlagen durch ungenaues Putzen infolge von
Feuchtigkeit beschädigt würden. Außerdem könne die Klägerin weg en ihrer Behinderung nicht so sauber putzen, wie es erforderlich sei. Tatsächlich hätten sich bei
ihrer Arbeit Mängel gezeigt, die – nachträglich betrachtet – auf ihre verminderte Sehkraft zurückzuführen seien. Es sei imm er wieder beanstandet worden, daß die
Klägerin nicht ordentlich um alle Geräte herum putze.

Die Ausübung des Fragerechts sei jedenfalls nicht rechtsmißbräuchlich gewesen. Bei schwerbehinderten Arbeitnehmern sei sie zusätzlichen Belastungen ausgesetzt.
Andererseits sei angesichts der geringen Beschäftigungszeit v on weniger als 18 Stunden nicht einmal eine Anrechnung auf die Pflichtquote möglich gewesen. Durch die
Falschbeantwortung der Frage nach ihrer Schwerbehinderteneigenschaft habe die Klägerin auch die genauere Prüfung unmög lich gemacht, ob sie wirklich in der Lage gewesen
sei, sämtliche im Betrieb anfallenden Tätigkeiten zu verrichten. In anderen Bereichen seien die Reinigungskräfte direkt an den EDV-Anlagen tätig und in Bereichen, in
denenwertvolles Datenmaterial lagere, müßten zur Vermeidung von Beschädigungen besonders hohe Anforderungen an die Sorgfalt der Reinigungskräfte gestellt
werden.

Das Arbeitsgericht hat nach den Klageanträgen erkannt, das Landesarbeitsgericht auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen. Hiergegen richtet sich die Revision der
Klägerin.

Entscheidungsgründe:

Die Revision ist unbegründet. Die Beklagte hat das Arbeitsverhältnis der Parteien wirksam wegen arglistiger Täuschung angefochten (§ 123 BGB).

A. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Klägerin habe die Beklagte durch arglistige Täuschung zum Abschluß des Arbeitsvertrages bewogen, indem sie die Frage
nach ihrer Schwerbehinderung bewußt verneint habe, obwoh l sie diese Frage wahrheitsgemäß hätte beantworten müssen. Zwar sei die Klägerin wegen ihrer
Behinderung in der Ausübung ihrer Tätigkeit nicht in einer den Vertrag störenden Weise beeinträchtigt gewesen. Weder die Begrenz ung des Gesichtsfeldes, noch das Fehlen
der Fähigkeit zum räumlichen Sehen könnten Einschränkungen der Sehkraft bewirken, die zu Fehlleistungen bei der ausgeübten einfachen Reinigungstätigkeit führen
könnten. Gleichwohl s ei die Täuschungsanfechtung berechtigt. Die vom Arbeitgeber ausdrücklich gestellte Frage nach der Schwerbehinderteneigenschaft müsse ein
Arbeitnehmer auch dann wahrheitsgemäß beantworten, wenn die Krankheit, die zu seinerAnerkennung als Schwerbehinderter geführt habe, nicht eine Verminderung seiner
Arbeitsleistung bewirke, also tätigkeitsneutral sei.

B. Dem folgt der Senat im Ergebnis und weitgehend auch in der Begründung.

I. Trotz der Säumnis der Beklagten in der Revisionsverhandlung war durch streitiges Urteil zu entscheiden. Erweist sich bei Säumnis des Revisionsbeklagten die Revision
aufgrund des festgestellten Sachverhalts, § 561 ZPO, und etwaigen neuen zulässigen und rechtzeitig mitgeteilten Vorbringens als unbegründet, ist sie durch streitiges
Urteil zurückzuweisen (BAG Urteil vom 10. April 1991 BAGE 68, 10 = AP Nr. 3 zu § 10 BBiG; Zöller/Schneider, ZPO, 18. Aufl., § 557 Rz 4).

II. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist beendet. Die Beklagte hat den Arbeitsvertrag nach § 123 BGB wirksam angefochten, denn sie ist von der Klägerin arglistig
getäuscht worden.

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (seit BAGE 5, 157 = AP Nr. 2 zu § 123 BGB; zuletzt BAG Urteil vom 11. November 1993 – 2 AZR 467/93 – AP Nr. 38
zu § 123 BGB, auch zur Veröffentlichung in der Amtl ichen Sammlung des Gerichts vorgesehen, m.w.N.) kann grundsätzlich der Arbeitsvertrag auch durch Anfechtung
gemäß § 123 Abs. 1 BGB beendet werden. Der Tatbestand der arglistigen Täuschung gemäß § 123 BGB setzt in objektiv er Hinsicht voraus, daß der
Täuschende durch Vorspiegelung oder Entstellung von Tatsachen beim Erklärungsgegner einen Irrtum erregt und ihn zur Abgabe einer Willenserklärung veranlaßt. Die
Täuschung kann auch in einem Ver schweigen von Tatsachen bestehen, wenn der Erklärende zur Offenbarung der entsprechenden Tatsache verpflichtet ist. Nicht jede falsche
Angabe des Arbeitnehmers bei den Einstellungsverhandlungen stellt danach bereits eine arglistige Täuschung i. S. des § 123 BGB dar, sondern nur eine falsche Antwort auf
eine zulässig gestellte Frage (Senatsurteil vom 21. Februar 1991 – 2 AZR 449/90 – AP Nr. 35 zu § 123 BGB). Ein Fragerecht des Arbeitgebersbei den Einstellungsverhandlungen
wird nur insoweit anerkannt, als der Arbeitgeber ein berechtigtes, billigenswertes und schutzwürdiges Interesse an der Beantwortung seiner Frage im Hinblick auf das
Arbeitsverhältnis hat . Ein solches berechtigtes Interesse ist nur dann gegeben, wenn das Interesse des Arbeitgebers so gewichtig ist, daß dahinter das Interesse des
Arbeitnehmers, seine persönlichen Lebensumstände zum Schutz seines Persönlich keitsrechts und zur Sicherung der Unverletzlichkeit seiner Individualsphäre geheimzuhalten,
zurückzutreten hat (vgl. Senatsurteil vom 7. Juni 1984 – 2 AZR 270/83 – AP Nr. 26 zu § 123 BGB).

Für den Bereich der Schwerbehinderten besteht sowohl in der Literatur als auch in der Rechtsprechung Einigkeit darüber, daß der Schwerbehinderte von sich aus nicht
über die bestehende Behinderung aufklären muß, soweit ihmdie Tätigkeit dadurch nicht unmöglich gemacht wird (BAG Urteil vom 25. März 1976 – 2 AZR 136/75 – AP Nr.
19 zu § 123 BGB). Dem Arbeitgeber wird jedoch das Recht zugestanden, nach der Schwerbehinderteneigenschaft zu frage n; der Arbeitnehmer hat die Pflicht, darauf
wahrheitsgemäß zu antworten (vgl. BAG Urteil vom 7. Juni 1984 – 2 AZR 270/83 – AP, aaO, zu II 4 der Gründe; BAGE 49, 214, 219 f. = AP Nr. 30 zu § 123 BGB, zu II 1
der Gründe; BA G Urteil vom 28. Februar 1991 – 2 AZR 515/90 – n.v., zu II I der Gründe). Dieses uneingeschränkte Fragerecht hat der Senat begründet mit den besonderen
gesetzlichen Verpflichtungen, die für den Arbeitgeber durch die Besch äftigung Schwerbehinderter entstehen; angesichts der rechtlichen und wirtschaftlichen Tragweite und
der betrieblichen Auswirkungen der Einstellung schwerbehinderter Arbeitnehmer sei ein berechtigtes Interesse des Arbeitge bers an der wahrheitsgemäßen Beantwortung
der Frage nach der Schwerbehinderteneigenschaft bzw. Gleichstellung anzuerkennen. An dieser in der Literatur teilweise kritisierten (Großmann, NZA 1989, 702; Düwell,
Praxishandbuc h Arbeitsrecht, Teil 8, Kap. 5. l) Rechtsprechung hat der Senat in seinem Urteil vom 11. November 1993 (- 2 AZR 467/93 – AP Nr. 38 zu § 123 BGB, auch zur
Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen) jedenfalls f ür die Fälle festgehalten, in denen die Schwerbehinderungserkrankung für die auszuübende Tätigkeit
von Bedeutung ist und nur offengelassen, ob der Arbeitgeber auch bei tätigkeitsneutralen Behinderungen ein uneingeschränkt es Fragerecht nach der
Schwerbehinderteneigenschaft bzw. Gleichstellung hat. Ein solcher Fall liegt hier vor, denn nach den bindenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts (§ 561 ZPO) wird die
von der Klägerin zu erbri ngende einfache Reinigungstätigkeit nicht wesentlich dadurch beeinträchtigt, daß die Klägerin auf einem Auge erblindet ist. Nach erneuter
Prüfung hält der Senat auch für die Fälle einer tätigkeitsneutralen Schwerbehinderu ngserkrankung an der bisherigen Rechtsprechung fest.

2. Auch wenn die Behinderung für die auszuübende Tätigkeit ohne Bedeutung ist, darf der Arbeitgeber den Arbeitnehmer vor der Einstellung nach dessen
Schwerbehinderteneigenschaft bzw. Gleichstellung fragen. Die wahrheitswi drige Beantwortung dieser Frage kann eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung begründen.

a) Es muß deutlich unterschieden werden zwischen der Frage des Arbeitgebers nach einer Behinderung des Arbeitnehmers und der Frage nach der
Schwerbehinderteneigenschaft (so schon Senatsurteil vom 7. Juni 1984 – 2 AZR 270/ 83 – AP Nr. 26 zu § 123 BGB). Behinderung im Sinne des Schwerbehindertengesetzes ist die
Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seeli schen Zustand beruht (§ 3 Abs. 1
SchwbG). Solche Behinderungen auch mit einem Grad von wenigstens 50 können bei einem Stellenbewerber vorliegen, ohne daß er seine Anerkennung als Schwerbehinderter
beantragt hat oder auch nur beantragen will, und ohne daß die Behinderung für die später auszuübende Tätigkeit von Bedeutung wäre. Da das Fragerecht nur
berechtigte Interessen des Arbeitgebers schützt, hat der Senat die Frage nach der Behinderun g nur zugelassen, wenn die Behinderung erfahrungsgemäß die Eignung des
Stellenbewerbers für die vorgesehene Tätigkeit beeinträchtigt (Senatsurteil vom 7. Juni 1984, aaO). Davon zu unterscheiden ist die Frage nach der Schw
erbehinderteneigenschaft: Ist der Stellenbewerber als Schwerbehinderter anerkannt oder nach § 2 SchwbG einem Schwerbehinderten gleichgestellt, so knüpfen sich daran für
den Arbeitgeber während der gesamten Dauer des Arbei tsverhältnisses zahlreiche gesetzliche Pflichten. Diese begründen ein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers, den
Stellenbewerber bei den Einstellungsverhandlungen nach dem Schwerbehindertenstatus zu fragen.

b) Mit dem Versuch, eine Einschränkung des Fragerechts des Arbeitgebers aus dem SchwbG herzuleiten, hat sich der Senat bereits in der Entscheidung vom 11. November 1993
(aaO) auseinandergesetzt.

Zwar ist den Kritikern, insbesondere Düwell (aaO) einzuräumen, daß das SchwbG dem Arbeitgeber nicht lediglich ein Wahlrecht einräumt, ob er die Pflichtquote
erfüllen oder die Ausgleichsabgabe zahlen will. Nach § 11 Abs. 1Satz 2 SchwbG hebt die Zahlung der Ausgleichsabgabe die Pflicht zur Beschäftigung Schwerbehinderter nicht
auf und der Arbeitgeber, der Schwerbehinderte nicht nach dem festgesetzten Pflichtsatz beschäftigt, handelt nach §68 Abs. 1 Nr. 1 SchwbG ordnungswidrig. Andererseits
gewährt das SchwbG den Behinderten aber auch keinen Einstellungsanspruch bei einem bestimmten Arbeitgeber, der z.B. seine Pflichtquote noch nicht erfüllt hat.

Auch § 14 Abs. 1 SchwbG, auf den teilweise abgestellt wird, enthält nur die Pflicht des Arbeitgebers, ggf. in Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt zu prüfen, ob freie
Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten besetzt werden können . Wer bei den Einstellungsverhandlungen seinen Schwerbehindertenstatus verschweigt, macht dem Arbeitgeber aber
gerade die Prüfung unmöglich, ob der Arbeitsplatz mit ihm als Schwerbehindertem bevorzugt besetzt werden kann;ebenso wird das Beteiligungsrecht der
Schwerbehindertenvertretung (§ 14 Abs. 1 SchwbG) und das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats unterlaufen, der bei Einstellungen in dem Verfahren nach § 99 BetrVG die
Interessen alle r schwerbehinderten Stellenbewerber bzw. der ihm von den zuständigen Stellen noch zu benennenden schwerbehinderten Stellenbewerber mitzuberücksichtigen hat
und ggf. dem Arbeitgeber gegenüber durchsetzen kann (BAG Beschlüs se vom 10. November 1992 – 1 ABR 21/92 – BAGE 71, 337 = AP Nr. 100 zu § 99 BetrVG 1972 und vom 14.
November 1989 – 1 ABR 88/88 – BAGE 63, 226 = AP Nr. 77 zu § 99 BetrVG 1972). Hat der Arbeitgeber im Vorfeld der Einstellun g mit dem Arbeitsamt Kontakt aufgenommen und ist
ihm kein geeigneter schwerbehinderter Arbeitnehmer benannt worden, so hat er seine Prüfungspflicht nach § 14 Abs. 1 SchwbG in vollem Umfang erfüllt. Eine
Pflichtverletzung,an die irgendwelche Rechtsfolgen angeknüpft werden könnten, kann ihm dann nicht vorgeworfen werden.

Im vorliegenden Fall hat sich die Klägerin nach dem vom Landesarbeitsgericht festgestellten Sachverhalt nicht einmal darauf berufen, die Beklagte habe ihre Prüfungspflicht
nach § 14 Abs. 1 SchwbG verletzt. Die Beklagte we ist im übrigen zu Recht darauf hin, daß bei der Prüfung, ob der Arbeitgeber nach § 14 Abs. 1 SchwbG einen
Arbeitsplatz mit einem Schwerbehinderten besetzen kann, auch die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit eine Rolle spi elt, da Schwerbehinderte mit einer Beschäftigungszeit
von weniger als 18 Stunden wöchentlich nur im Ausnahmefall auf einen vollen Pflichtplatz anzurechnen sind (§ 9 Abs. 2 SchwbG). Durch ihre wahrheitswidrige Antwort auf die
Frage nach ihrem Schwerbehindertenstatus hat die Klägerin der Beklagten damit auch die Prüfung unmöglich gemacht, ob sie die Arbeitszeit der Klägerin geringfügig
erhöhen und so eine Anrechnung auf einen vollen Pflicht platz erreichen konnte.

c) Die Frage des Arbeitgebers nach dem Schwerbehindertenstatus des Arbeitnehmers ist mit der Frage nach der Schwangerschaft einer Arbeitnehmerin nicht – wie teilweise
argumentiert wird – ohne weiteres vergleichbar. Hat de r Arbeitgeber eine schwangere Arbeitnehmerin eingestellt, die ihn bei der Einstellung über ihren Zustand getäuscht
hat, so löst allein die Tatsache der Schwangerschaft – ohne Antragstellung der Schwangeren und ohne behörd liches Verfahren – für einen vorübergehenden Zeitraum
finanzielle Belastungen des Arbeitgebers aus; da der Gesetzgeber geschlechtsbezogene Benachteiligungen bei der Begründung des Arbeitsverhältnisses ausdrücklich verbote n
hat (§ 611 a Abs. 1 Satz 1 BGB), hat die Rechtsprechung deshalb diese vorübergehenden finanziellen Belastungen des Arbeitgebers durch die Schwangerschaft der
Arbeitnehmerin nicht als ausreichend angesehen, das Arbeitsve rhältnis aufgrund der Täuschung endgültig zu lösen.

Liegt demgegenüber beim Arbeitnehmer eine Funktionsstörung vor, die möglicherweise eine Schwerbehinderung begründet, so hat es der Arbeitnehmer in der Hand, ob er seine
Anerkennung als Schwerbehinderter betreiben will (BS G Urteil vom 26. Februar 1986 – 9a RVs 4/83 – BehindR 1986, 43). Hat er dies getan, so ergeben sich für den Arbeitgeber
aus dem Schwerbehindertenstatus nachteilige Folgen, die regelmäßig während der gesamten Dauer des Arb eitsverhältnisses fortwirken.

d) In das System des gesetzlichen Schutzes der Schwerbehinderten paßt es nicht, wenn einzelne Schwerbehinderte gewissermaßen auf einem “zweiten Weg” die
Einstellung bei einem bestimmten Arbeitgeber durch falsche Angaben ü ber ihren Schwerbehindertenstatus erreichen, erst nach Ablauf der Sechs-Monats-Frist des § 20 Abs. 1
Ziff. 1 SchwbG dem Arbeitgeber ihre Schwerbehinderteneigenschaft offenbaren und entsprechende Ansprüche (Zusatzurlaub, esonderen Kündigungsschutz etc.) geltend machen. Wer
den gesetzlichen Schwerbehindertenschutz für sich in Anspruch nimmt, ist nicht darauf angewiesen, ihn auf der Basis einer Notlüge bei den Einstellungsverhandlungen bei
einem bestimmten Arbeitgeber zu realisieren. Der Gesetzgeber hat ein System geschaffen, das Schwerbehinderte auch dann nicht vom Arbeitsmarkt ausschließt, wenn sie
ihren Schwerbehindertenstatus bei der Einstellung offenba ren. Würde die Rechtsprechung als flankierende Maßnahme ein Recht zur falschen Beantwortung der Frage nach
dem Schwerbehindertenstatus anerkennen, so würde dies nur denen nützen, deren gesundheitliche Defizite nicht äußer lich erkennbar sind (so ausdrücklich Däubler,
Das Arbeitsrecht 2, S. 87), was Sinn und Zweck des SchwbG zuwiderliefe, das z.B. gerade auf Teilzeitarbeitsplätzen die Beschäftigung der Schwerbehinderten fördert, die
wegen A rt oder Schwere ihrer Behinderung auf solche Arbeitsplätze angewiesen sind (vgl. § 9 Abs. 2 Satz 2 SchwbG).

e) Die Antwort der Bundesregierung vom 23. April 1994 auf die große Anfrage zur Beschäftigungssituation Schwerbehinderter (BT-Drucks. 12/7139) läßt zwar
erkennen, daß noch Defizite bei der Umsetzung der Konzeption des Sch wbG bestehen. Andererseits ist aber die Beschäftigungsquote – berücksichtigt man die Tatsache,
daß die Vermittelbarkeit der Schwerbehinderten auf dem Arbeitsmarkt geringer sein dürfte als die der Nichtbehinderten – nicht so schlecht, daß es gerechtfertigt
oder gar erforderlich wäre, über den Weg der “unauffälligen Integration in den Arbeitsprozeß” letztlich einen Verdrängungswettbewerb zu fördern zwischen den nicht
erkennbar Behinderten, die über falsche Angaben bei der Einstellung einen Arbeitsplatz erzwingen können, und den schwerer Behinderten, die die Einschaltung der
Hauptfürsorgestelle nötig haben. Während der Gesetzgeber ersichtlich angestrebt hat,die Lasten der Eingliederung Schwerbehinderter in den Arbeitsprozeß
gesamtwirtschaftlich sinnvoll unter Berücksichtigung insbesondere der Schwerstbehinderten gleichmäßig auf alle Arbeitgeber zu verteilen, würde mit der v on der
Revision angestrebten Rechtsprechungsänderung eine Akzentverschiebung stattfinden: Unabhängig von den konkreten Umständen (ob der Arbeitgeber die Pflichtquote bereits
erfüllt hat, ob er bei der konkreten Einstellun g seinen Pflichten aus § 14 Abs. 1 SchwbG nachgekommen ist, ob er anstatt eines Teilzeitbeschäftigten lieber einen
schwerbehinderten Vollzeitbeschäftigten einstellen möchte) würden d i e Arbeitgeber ohne hinreichenden Gru nd stärker als alle anderen belastet, bei denen
überdurchschnittlich viele unerkannt schwerbehinderte Arbeitnehmer durch unzutreffende Angaben bei den Einstellungsverhandlungen einen Arbeitsplatz erlangt haben. Allein
dieTatsache, daß bundesweit die gesetzliche Pflichtquote nicht erfüllt wird, vermag eine solche Rechtsprechungsänderung nicht zu rechtfertigen.

3. Auch wenn man den durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 27. Oktober 1994 eingefügten Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG mitberücksichtigt, ist die von der
Revision begehrte Einschränkung des Fragerechts des Arbeitge bers nicht geboten. Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG darf zwar niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt
werden. Eine § 611 a BGB vergleichbare einzelgesetzliche Regelung zur Durchsetzung dieses Benachteiligungsverbots f ehlt aber.

a) Art. 3 Abs. 3 GG will verhindern, daß das Individuum durch die Einordnung in eine durch Diskriminierung gefährdete Gruppe stigmatisiert und benachteiligt wird
(Pfarr, NZA 1995, 809, 810). Von daher war durchaus zu prüf en, ob die Grundgesetzänderung durch ausdrückliche Aufnahme des Verbots der Diskriminierung Behinderter in
Art. 3 Abs. 3 GG es nicht erforderlich macht, den Behindertenschutz beim Zugang zu einem Arbeitsverhältnis vorzuve rlegen und das Fragerecht einzuschränken.

b) Die Gesetzesmaterialien zum Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes weisen aber nicht darauf hin, daß durch die Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG
hinsichtlich des Fragerechts des Arbeitgebers eine Änderung der Rechtslage eingetreten ist (anders wohl Käppler, ZfA 1995, 274, 276). Der Gesetzgeber stellt auf eine
Diskriminierung der Behinderten im Alltagsleben in Form von Vorurteilen, Stigmatisierung und Kontaktvermeidung ab. Das durch die Verfassungsergänzung eingeführte spezielle
Diskriminierungsverbot soll ein deutliches Signal in der Öffentlichkeit setzen und damit einen gewichtigen Anstoß für einen Bewußtseinswandel in der
Bevölkerung geben (BT-Drucks. 12/6323, S. 11, 12). Damit zielt die Grundgesetzänderung in erster Linie auf den Schutz der Behinderten, die – unabhängig von der Frage
ihrer Anerkennung – in der Gefahr stehen, derart in der Form von Vorurteilen, Stigmatisierung und Kontaktvermeidung diskriminiert zu werden. Dies bedeutet nicht, daß
neben dem durch das SchwbG geförderten offiziellen Weg des Zugangs Schwerbehinderter zum Arbeitsmarkt ein weiterer Weg der “unauffälligen Integration in den
Arbeitsprozeß” gerade d e r Behinderten gefördert werden muß, deren Behinderung nicht ohne weiteres erkennbar und auch für die auszuübende Tätigkeit nicht
von Bedeutung ist. Hat sich ein Behinderter entschlossen – was stets seiner freien Entscheidung überlassen bleibt -, den Schutz des SchwbG in Anspruch zu nehmen und seine
Anerkennung als Schwerbehinderter zu beantragen, so ist es ihm zumutbar, den Zugang zu einem Beschäftigungsverhältnis über das gesetzlich geregelte System des SchwbG zu
suchen.