Die Vollstreckung gegen einen rechtskräftig zur Zahlung verurteilten Schuldner ist verfassungswidrig,
wenn das zu Grunde liegende Urteil auf der Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe
beruht, die vom Bundesverfassungsgericht wie im Fall der Bürgschaftsentscheidung vom
19. Oktober 1993 (BVerfGE 89, 214) für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist. Dies
entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts. Damit hatte die Verfassungsbeschwerde einer
vermögenslosen Bürgin, die sich gegen die Zwangsvollstreckung in ihr Vermögen wandte, Erfolg.
Rechtlicher Hintergrund und Sachverhalt:
Am 19. Oktober 1993 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Zivilgerichte verpflichtet sind,
bei der Auslegung und Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffes der Sittenwidrigkeit im Sinne des
§ 138 BGB die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie zu beachten. Der damalige Fall
betraf eine 21-jährige, vermögenslose Bürgin, die gegenüber einer Sparkasse für die Schulden ihres Vaters
eine Bürgschaft übernommen hatte. Das Bundesverfassungsgericht kam zu dem Ergebnis, dass
Bürgschaftsverträge, die das Ergebnis strukturell ungleicher Verhandlungsstärke sind, sittenwidrig sind.
Für die Beurteilung, wann ein solcher Vertrag vorliegt, setzte es nähere Maßstäbe.
Die Beschwerdeführerin des vorliegenden Verfahrens, Hausfrau und Mutter zweier Kinder, hatte eine
Bürgschaft für ihren Ehemann in Höhe von 200.000 DM übernommen. Sie wurde 1992 rechtskräftig zur
Zahlung von 70.000 DM verurteilt. Als die Bank bei der inzwischen geschiedenen Frau vollstrecken wollte, berief sich diese auf die inzwischen aufgrund der Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts
eingetretene Änderung der Rechtsprechung. Danach wäre der Bürgschaftsvertrag nach §
138 Abs. 1 BGB nichtig gewesen. Ihre Klage wurde trotzdem in letzter Instanz vom Bundesgerichtshof
abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts
hob das Urteil des Bundesgerichtshofs auf und verwies die Sache an ihn zur erneuten
Entscheidung zurück.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
§ 79 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) regelt die Folgen von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts,
durch die eine Rechtsnorm für verfassungswidrig erklärt wird, auf deren Grundlage
nicht mehr anfechtbare Entscheidungen ergangen sind. Es gilt gemäß § 79 Abs. 2 BVerfGG der Grundsatz,
dass nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen, in
ihrer Existenz nicht mehr in Frage gestellt werden. Doch gilt für sie, soweit aus ihnen noch nicht vollstreckt
worden ist, das Verbot der Vollstreckung. Diese Regelung findet entsprechende Anwendung,
wenn das Bundesverfassungsgericht nicht auf Nichtigkeit einer Norm erkannt, sondern sich darauf beschränkt
hat, deren Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz festzustellen.
§ 79 Abs. 2 BVerfGG ist aber auch dann entsprechend anzuwenden, wenn das Bundesverfassungsgericht
nicht die Norm selbst, sondern eine bestimmte Auslegungsvariante der Norm für unvereinbar mit
dem Grundgesetz erklärt hat. Auf diese Weise kann ein inhaltlicher Widerspruch zu § 79
Abs. 1 BVerfGG vermieden werden. Diese Norm, die für das Strafrecht einen zusätzlichen Wiederaufnahmegrund
enthält, bezieht auch den Fall der verfassungswidrigen Auslegung neben der Nichtig- und
der Unvereinbarerklärung in ihren Anwendungsbereich ein.
(Insoweit erging die Entscheidung mit 7 zu 1 Stimmen).
Entsprechende Anwendung findet § 79 Abs. 2 BVerfGG aber auch auf nicht mehr anfechtbare Entscheidungen,
die auf einer Auslegung und Anwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe beruhen, die
vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist. Dies gilt allerdings
nur, wenn das Bundesverfassungsgericht, wie in der Bürgschaftsentscheidung vom
19. Oktober 1993, für die Auslegung des bürgerlichen Rechts über den Einzelfall hinausgehende Maßstäbe setzt, an welche die Zivilgerichte bei ihrer künftigen Rechtsprechung in gleich gelagerten Fällen
gebunden sind. Das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Entscheidung den Begriffen „gute Sitten„,
„Verkehrssitte„ sowie „Treu und Glauben„ in den §§ 138 und § 242 BGB mit Bezug auf Bürgschaftsverträge
auch für die Rechtsanwendung in anderen Fällen reproduzierbare – und für die Zivilgerichte
verbindliche – Konturen gegeben. Dies hat dazu geführt, dass im Rahmen der Generalklausel des § 138
Abs. 1 BGB rechtssatzmäßig typisierbare Fallgruppen gebildet worden sind, die der weiteren Rechtsanwendung
zu Grunde gelegt werden können. Dies unterscheidet sich, auch wenn die abschließende
Festlegung und Normausfüllung Sache der Zivilgerichte bleibt, hinsichtlich des Grundrechtsschutzes nicht
von der verfassungskonformen Auslegung einer Rechtsvorschrift im herkömmlichen Sinne. Im Lichte des
allgemeinen Gleichheitssatzes ist es deshalb verfassungsrechtlich geboten, auch den Fall der die Ausstrahlungswirkung
der Grundrechte sichernden Auslegung von zivilrechtlichen Generalklauseln und unbestimmten
Rechtsbegriffen in den Anwendungsbereich des § 79 Abs. 2 BVerfGG einzubeziehen.
Der analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG steht auch nicht entgegen, dass das zum Nachteil
der Beschwerdeführerin ergangene Urteil im Jahre 1992 mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
in Einklang stand. Die von § 79 Abs. 2 BVerfGG eröffnete Möglichkeit der Vollstreckungsabwehrklage
setzt gerade voraus, dass die Einwendungen des Vollstreckungsschuldners erst später entstanden sind
und vor Erlass des Urteils noch nicht geltend gemacht werden konnten.
(Insoweit erging die Entscheidung mit 5 zu 3 Stimmen).
Sondervotum der Richterin Haas:
Nach Auffassung der Richterin Haas ist die angegriffene Entscheidung des Bundesgerichtshofs verfassungsrechtlich
nicht zu beanstanden. Eine verfassungsrechtliche Pflicht zur analogen Anwendung des §
79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG bestehe im vorliegenden Fall nicht. Für die Analogie fehle es an der erforderlichen
planwidrigen Gesetzeslücke. Der Senat bleibe die methodologisch erforderliche positive Begründung
für die von ihm angenommene planwidrige Gesetzeslücke schuldig. Den Ausführungen des
Senats fehle es an einem Bezug zur Gesamtrechtsordnung. Die Erwägungen der Senatsmehrheit zur der
von ihm empfundenen Ungereimtheit der Norm vermöchten daher eine planwidrige Gesetzeslücke methodologisch
nicht zu begründen. Darüber hinaus fehle es aber auch an der für eine Analogie erforderlichen
Ähnlichkeit der zu vergleichenden Tatbestände. Die Nichtigerklärung eines Gesetzes sei nicht vergleichbar
mit dem Fall der vom Bundesverfassungsgericht erklärten Verfassungswidrigkeit einer Auslegungsvariante
einer Norm. Der Gesetzgeber habe die Rechtsfolgen deshalb auch in unterschiedlicher
Weise in § 79 BVerfGG geregelt und auch regeln dürfen.
Erst recht bestehe keine verfassungsrechtliche Pflicht zur (doppelten) analogen Anwendung des § 79
Absatz 2 BVerfGG auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, mit denen die Ausstrahlungswirkung
der Grundrechte auf das einfache Recht durchgesetzt werde. Die Senatsmehrheit verkenne insoweit
schon die Unterschiede zwischen einer verfassungskonformen Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht
und Entscheidungen, in denen lediglich die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte maßgeblich
sei. Darüber hinaus aber habe das Bundesverfassungsgericht in seiner Bürgschaftsentscheidung
(BVerfGE 89, 214ff) nur Minimalstandards für die Berücksichtigung der Ausstrahlungswirkung auf die
Generalklauseln der §§ 138, 242 BGB gesetzt, keineswegs aber eine Auslegung der §§ 138, 242 BGB
als verfassungsrechtlich geboten vorgegeben. Das Bundesverfassungsgericht habe damit nur einen Anstoß
zu einer näheren, verfassungsrechtlich nicht im Einzelnen vorgezeichneten Konkretisierung durch die
Rechtsprechung der Fachgerichte gegeben. Die Bildung normgleich typisierbarer Fallgruppen sei erst
durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geleistet worden.
Pressemitteilung Nr. 129/2005 vom 23. Dezember 2005
Beschluss vom 6. Dezember 2005
1 BvR 1905/02