Die Verfassungsbeschwerde betrifft das Spannungsfeld von umfassender gerichtlicher Aufklärung einerseits
und der Offenlegung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen gegenüber den am Verfahren Beteiligten
andererseits. Es verstößt gegen die durch Art. 12 Abs. 1 GG garantierte Berufsfreiheit, wenn die
Gerichte in einem gesetzlich dafür vorgesehenen gesonderten verwaltungsgerichtlichen Verfahren (Zwischenverfahren)
zur Überprüfung der Geheimhaltungswürdigkeit von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen
ein entsprechendes Schutzinteresse nur anerkennen, soweit existenzbedrohende oder nachhaltige
Nachteile aus einer Offenbarung der Informationen an Wettbewerber zu befürchten sind. Dies entschied
der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts.
Die Entscheidung ist mit 6 : 2 Stimmen ergangen. Der Richter Gaier hat der Entscheidung eine abweichende Meinung angefügt.
Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin – die Deutsche Telekom AG – ist ein Telekommunikationsunternehmen, das ein
bundesweites Telekommunikationsnetz in einer marktbeherrschenden Stellung betreibt. Nach dem Telekommunikationsgesetz
ist sie verpflichtet, anderen Nutzern Zugang zu ihrem Telekommunikationsnetz
gegen ein Entgelt zu ermöglichen. Die Festsetzung des Entgelts bedarf der Genehmigung der Regulierungsbehörde
für Telekommunikation und Post (jetzt Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation und Eisenbahnen). In dem Genehmigungsverfahren muss die Beschwerdeführerin betriebswirtschaftliche
Unterlagen vorlegen, insbesondere detaillierte und umfassende Nachweise ihrer Kosten.
Vorliegend haben mehrere Nutzer des Telekommunikationsnetzes, die zugleich Wettbewerber der Beschwerdeführerin
sind, den Bescheid der Behörde, mit dem diese das Entgelt für den Zugang zur Teilnehmeranschlussleitung
genehmigt hatte, vor dem Verwaltungsgericht angegriffen. Im Rahmen dieses
gerichtlichen Verfahrens begehren sie Einsicht in die Genehmigungsunterlagen. Nachdem das Verwaltungsgericht
bei der Genehmigungsbehörde die Unterlagen angefordert hatte, entschied diese, dass zahlreiche
Seiten aus den Verwaltungsvorgängen nicht und weitere Seiten nur in teilweise geschwärzter Fassung
offen gelegt werden dürften.
Gegen die Verweigerung der vollständigen Vorlage der Akten stellten die Wettbewerber beim Oberverwaltungsgericht
einen Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit. Gegenstand dieses Zwischenverfahrens
gem. § 99 Abs. 2 VwGO ist allein die Überprüfung der Entscheidung der Genehmigungsbehörde,
die Akten oder Urkunden aus Gründen überwiegenden Geheimnisschutzes nicht herauszugeben oder
Auskünfte nicht zu erteilen. Diese Konzeption des „in camera„-Verfahrens hat bei Feststellung der
Rechtmäßigkeit der Verweigerung der Aktenvorlage zur Folge, dass der Inhalt der betreffenden Unterlagen
im Hauptsacheverfahren nicht verwertet werden darf. Das Oberverwaltungsgericht gab den Anträgen
der Wettbewerber nur teilweise statt. Das Bundesverwaltungsgericht hingegen stellte fest, dass die
Verweigerung der vollständigen Vorlage der Verwaltungsakten rechtswidrig sei. Die gegen die Entscheidungen
des Bundesverwaltungsgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerden der Telekom AG hatten
Erfolg.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Die angegriffenen Entscheidungen greifen in die Berufsfreiheit der Beschwerdeführerin ein. Durch die
Verpflichtung der Beschwerdeführerin, dem Gericht sämtliche Akten umfassend und ohne Schwärzungen
offen zu legen, erhalten die an den Ausgangsverfahren beteiligten Wettbewerber der Beschwerdeführerin
die Möglichkeit, im Rahmen ihres Akteneinsichtsrechts Kenntnis von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen
der Beschwerdeführerin zu erlangen. Dieser Grundrechtseingriff ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.
1. Im Zuge der Entgeltgenehmigung ist eine Konfliktlage in einem mehrpoligen Rechtsverhältnis zu bewältigen,
an dem der Staat in Gestalt der Genehmigungsbehörde, die Wettbewerber als potentiell zur
Entgeltzahlung Verpflichtete mit ihrem Interesse an effektivem Rechtsschutz bei der Überprüfung der
Entgelthöhe und die Beschwerdeführerin als Trägerin der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse beteiligt
sind.
Die Ermächtigung in § 99 Abs. 2 VwGO zu Zwischenentscheidungen über die Aktenvorlage dient
der Verwirklichung des Ziels, effektiven Rechtsschutz durch Aufklärung des Sachverhalts und Gewährung
rechtlichen Gehörs in dem gerichtlichen Hauptsacheverfahren zu ermöglichen, aber zugleich
dem grundrechtlichen Schutz der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse Rechnung zu tragen. Die Regelung
lässt zu, dass die Zwischenentscheidung zu dem Ergebnis führt, die Berufsfreiheit des Geheimnisträgers
vollständig zurücktreten zu lassen, aber eventuell auch zu dem gegenläufigen Ergebnis
gelangt, dass die Geheimnisse geschützt werden und damit die entsprechenden Grundlagen für die
Berechnung des Entgelts bei der gerichtlichen Überprüfung der Richtigkeit der Entgeltfestsetzung
nicht herangezogen werden können. Je nach der Beweislastverteilung hinsichtlich der Entgeltkontrolle
kann dies die Markbeherrscherin oder ihre Wettbewerber benachteiligen. Der Gesetzgeber hat keinen
Lösungsweg bereitgestellt, der stets eine Verwirklichung der gegenläufigen Interessen in dem
mehrpoligen Rechtsverhältnis sichert. Die Entscheidung ergeht immer nur entweder zu Lasten des effektiven
Rechtsschutzes oder zu Lasten des Geheimhaltungsinteresses. Dies genügt den verfassungsrechtlichen
Anforderungen nur, wenn die mit der Rechtsanwendung betrauten Organe auf der
Grundlage des geltenden Rechts die Möglichkeit haben, zu einer der Verfassung entsprechenden
Zuordnung der kollidierenden Rechtsgüter zu kommen.
2. Für die zu treffende Abwägungsentscheidung gibt das Gesetz keinen Maßstab vor. Das Bundesverwaltungsgericht
hat als Maßstab den der existenzbedrohenden oder nachhaltigen Nachteile zugrunde
gelegt. Dieser Maßstab genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen jedoch nicht. Soweit es an
bestimmten Abwägungskriterien fehlt, leistet die Darstellung der die Abwägung leitenden Gesichtspunkte
in der gerichtlichen Entscheidung einen wesentlichen Beitrag zur Konkretisierung des Abwägungsprogramms,
zur Rationalisierung des Abwägungsvorgangs und zur Sicherung der Richtigkeit des Entscheidungsergebnisses. Dem werden die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts
nicht gerecht.
a) Nach den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts ist bei der Abwägung im Rahmen der
Zwischenentscheidung (§ 99 Abs. 2 VwGO) zu berücksichtigen, dass die behördliche Festsetzung
der Entgelte sowohl im Interesse aller Beteiligten als auch im öffentlichen Interesse gerichtlich
zu überprüfen ist, so dass dem Gericht (der Hauptsache) die dafür erforderlichen Unterlagen
grundsätzlich verfügbar sein müssen. Nach diesen Erwägungen ist die Vorlage sämtlicher Unterlagen
die gesetzlich gewollte Regel, die Verweigerung wegen des Geheimnisschutzes eine begründungsbedürftige
Ausnahme. Das Bundesverwaltungsgericht geht dementsprechend davon
aus, dass der Schutz der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der Marktbeherrscherin grundsätzlich
zurückzutreten habe. Eine Ausnahme von der grundsätzlichen Offenlegungspflicht soll nur
dann gelten, wenn nachhaltige oder gar existenzbedrohende Nachteile für das marktmächtige
Unternehmen zu besorgen sind.
b) Der Gesetzgeber hat den Gerichten nicht die Möglichkeit eröffnet, Geheimnisschutz und effektiven
Rechtsschutz auf andere Weise als durch eine Abwägungsentscheidung einander zuzuordnen,
die dazu führt, dass nur einem der betroffenen Rechtsgüter Schutz gewährt werden kann.
Zwar könnte das von der Beschwerdeführerin angeregte „in camera„-Verfahren in der Hauptsache,
bei dem die Kenntnisnahme des geheimhaltungsbedürftigen Teils der Unterlagen auf das
Gericht beschränkt bliebe, den Schutz der Berufsgeheimnisse vollständig sichern und würde ebenfalls
eine gerichtliche Überprüfung der Entgeltfestsetzung anhand aller Unterlagen ermöglichen.
Ob ein „in camera„-Verfahren in der Hauptsache in dem hier betroffenen multipolaren
Rechtsgüterkonflikt eine angemessene Kollisionsbewältigung bewirken könnte, braucht vorliegend
jedoch nicht entschieden zu werden; denn der Gesetzgeber hat dafür keine Ermächtigung
geschaffen, sondern das „in camera„-Verfahren auf das Zwischenverfahren begrenzt.
c) Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass auf der Grundlage der bestehenden verwaltungsgerichtlichen
Vorschriften praktische Konkordanz zwischen den kollidierenden Rechtsgütern durch
Abwägung hergestellt werden kann. Ist beispielsweise das Geheimhaltungsinteresse ohne erhebliches
Gewicht, wird es gerechtfertigt sein, es hinter das Interesse an effektivem Rechtsschutz zurücktreten zu lassen. Daher bedarf es stets zunächst einer Abwägung, ob Geheimnisschutz auch
angesichts des Interesses an effektivem Rechtsschutz, insbesondere an rechtlichem Gehör, zu
gewähren ist. Ob vorliegend eine Bewältigung des Interessenkonflikts durch Abwägung erreicht
werden kann, lässt sich auf der Grundlage der Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts
aber nicht beurteilen. Denn das Bundesverwaltungsgericht hat die Abwägung nicht in einer verfassungsrechtlichen
Anforderungen genügenden Weise vorgenommen:
Eine Abwägungsregel hat zu berücksichtigen, dass die Entgeltgenehmigung sich an den Kosten
der effizienten Bereitstellung des Netzzugangs orientieren muss. Die Genehmigung soll sichern,
dass die Beschwerdeführerin keine höheren Entgelte erhebt, als durch diese Kosten gerechtfertigt
ist. Die Entgeltkontrolle ist kein Mittel, um Wettbewerbern auf dem Telekommunikationsmarkt
Vorteile im Kampf gegen den bisherigen Marktbeherrscher durch Zugang zu geheimhaltungsbedürftigen
Unterlagen einzuräumen. Der grundsätzliche Erhalt von Geheimnisschutz entspricht
auch den in der Verwaltungsgerichtsordnung (§ 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO) niedergelegten
Vorkehrungen über die Verweigerung der Einsicht in Vorgänge, die „ihrem Wesen nach geheimgehalten
werden müssen„.
Auf die Außerachtlassung dieses Grundsatzes aber läuft die vom Bundesverwaltungsgericht
zugrunde gelegte Abwägungsregel hinaus, wonach eine Ausnahme von der grundsätzlichen Offenlegungspflicht
nur dann gelten soll, wenn nachhaltige oder gar existenzbedrohende Nachteile
für das marktmächtige Unternehmen zu besorgen sind. Das hierdurch bewirkte grundsätzliche
Zurücktreten des Geheimnisschutzes ist nicht Ergebnis einer angemessenen Zuordnung der kollidierenden
Rechtsgüter zueinander. Es ist schwer vorstellbar, dass die Offenlegung eines Betriebs-
oder Geschäftsgeheimnisses aus Anlass der Genehmigung eines Entgelts für den Netzzugang
ein marktstarkes oder gar marktbeherrschendes Unternehmen in existentielle Gefahr bringen
kann. Zum Begriff der Nachhaltigkeit führt das Bundesverwaltungsgericht nicht näher aus,
wie es diesen Begriff versteht. Im Übrigen leidet sowohl der Maßstab der nachhaltigen als auch
der der existenzbedrohenden Benachteiligung daran, dass er eine differenzierende Abwägung unter
Berücksichtigung der möglichen, eventuell nur geringfügigen, Nachteile an effektivem Rechtsschutz
für die Wettbewerber nicht vorsieht.
Die angegriffenen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts enthalten auch keine nachvollziehbaren
Ausführungen zur Abwägung der kollidierenden Rechtsgüter. Das Gericht hat lediglich
ausgeführt, es habe sich durch Akteneinsicht „in camera„ davon überzeugt, dass ein nachhaltiger
Nachteil für die Beschwerdeführerin nicht zu erwarten sei. Das „in camera„-Verfahren entbindet
das Gericht jedoch nicht von der Pflicht, die maßgebenden Erwägungen nachvollziehbar darzulegen.
In der Regel dürfte es möglich sein, die Entscheidung des Gerichts mit Gründen zu versehen,
ohne die konkreten Geheimnisse wiederzugeben, sie aber nach Typ und Art der betroffenen Daten
insoweit zu behandeln, dass jedenfalls das Abwägungsprogramm und die Plausibilität des
Abwägungsergebnisses erkennbar werden.
d) Da das Bundesverwaltungsgericht die seine Abwägung bestimmenden Gesichtspunkte nicht erläutert,
kann nicht festgestellt werden, dass sie zu einer angemessenen Zuordnung der Interessen
am Rechtsschutz einerseits und am Geheimnisschutz andererseits führt. Ist aber schon der Maßstab
der Angemessenheit nicht beachtet worden, kann die Beschränkung der Berufsfreiheit nicht
verhältnismäßig sein. Der Eingriff ist daher nicht gerechtfertigt.
Sondervotum des Richters Gaier:
Die Mehrheitsmeinung gehe nicht konsequent den Ursachen für das Abwägungsdefizit in der Entscheidung
des Bundesverwaltungsgerichts nach. Offen bleibe die Frage, ob es auf der Grundlage des geltenden
Rechts überhaupt möglich sei, den verfassungsrechtlichen Anforderungen zu genügen. Die im Gesetz
angelegte Alternativität zwischen dem Ausschluss von Tatsachenstoff bei Geheimhaltung und dessen
Berücksichtigung nur bei fehlendem Geheimhaltungsbedarf hindere zumindest in multipolaren Konstellationen
die notwendige Herstellung praktischer Konkordanz zwischen den kollidierenden Grundrechtspositionen.
Die Hinweise der Mehrheitsmeinung ermöglichten vor dem Hintergrund der gesetzlichen Regelung
keine Zuordnung, die beiden betroffenen Rechtsgütern Wirksamkeit verleihe. Es werde lediglich
(auf Kosten des effektiven Rechtsschutzes) die Gewichtung zugunsten des Geheimnisschutzes verschoben.
Dies lasse namentlich für die Verbraucher spürbare Nachteile bei der Wettbewerbsregulierung im
Bereich der Telekommunikations- und Energiewirtschaft oder aber wirtschaftlichen Schaden für das der
Regulierung unterworfene Unternehmen befürchten. Die Alternativität könne erst dann aufgelöst und eine
wirkungsoptimierte Zuordnung geschaffen werden, wenn das „in camera„-Verfahren nicht auf den Zwischenstreit
über die Aktenvorlage beschränkt bliebe, sondern auf den Rechtsstreit in der Hauptsache
selbst erstreckt würde. Bei dieser Lösung wären zwar aus Gründen des Geheimnisschutzes Einschränkungen
des Rechts auf Gewährung rechtlichen Gehörs nicht zu vermeiden. Dies wäre aber durch sachliche
Gründe hinreichend gerechtfertigt. Denn der begrenzte Verzicht auf Gehörsgewährung würde zu
einer Verbesserung des Rechtsschutzes des betroffenen Rechtsuchenden führen, da das Rechtsschutzbegehren
nicht nur in rechtlicher, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht umfassend geprüft werden könnte.
Nr. 27/2006 vom 5. April 2006
Beschluss vom 14. März 2006
1 BvR 2087/03; 1 BvR 2111/03