BVerfG: Kapitalbildende Lebensversicherung mit Überschussbeteiligung – Schutzdefizit für Versicherungsnehmer bei der Ermittlung des Schlussüberschusses

Die gesetzlichen Regelungen für den Bereich der kapitalgebundenen Lebensversicherung mit
Überschussbeteiligung genügen nicht den verfassungsrechtlichen Schutzanforderungen. Es fehlen hinreichende
rechtliche Vorkehrungen dafür, dass bei der Berechnung des bei Vertragsende zu zahlenden
Schlussüberschusses die durch die Prämienzahlungen geschaffenen Vermögenswerte angemessen berücksichtigt
werden. Insbesondere gibt es keine Möglichkeit der Klärung, ob der Schlussüberschuss
etwa durch die Nichtberücksichtigung stiller Reserven und durch nicht gerechtfertigte Querverrechnungen
zu gering festgesetzt worden ist. Der Gesetzgeber hat bis zum 31. Dezember 2007 eine Regelung zu
treffen, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen gerecht wird. Bis zur Neuregelung bleibt es bei
der gegenwärtigen Rechtslage.

Dies entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom 26. Juli 2005.
Damit war die nach Art eines Musterprozesses mit Unterstützung des Bundes der Versicherten erhobene
Verfassungsbeschwerde eines Versicherungsnehmers, der eine kapitalbildende Lebensversicherung mit
Überschussbeteiligung abgeschlossen hatte, jedenfalls im Kern erfolgreich. Der Versicherungsnehmer
hatte – ohne Erfolg – die Zivilgerichte angerufen, um zu erreichen, dass bei der Berechnung seiner Überschussbeteiligung
insbesondere stille Reserven des Versicherungsunternehmens berücksichtigt werden
(siehe auch Pressemitteilung Nr. 89/2004 vom 24. September 2004).

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Führen gesetzliche Regelungen dazu, dass Versicherte ihre
rechtlich erheblichen Belange nicht selbst

und eigenständig effektiv verfolgen können, bewirkt der verfassungsrechtliche Schutz der Privatautonomie
durch Art. 2 Abs. 1 GG eine Pflicht des Gesetzgebers, für eine Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses
der davon betroffenen Vertragsparteien zu sorgen, die ihren Belangen hinreichend Rechnung trägt.
Bezieht sich das Defizit privatautonomer Interessendurchsetzung auf eine Position, die objektivrechtlich auch vom Schutz der Eigentumsgarantie erfasst wird, folgt die gesetzliche Schutzpflicht zugleich aus Art.
14 Abs. 1 GG.

2. Ein solches Schutzdefizit betrifft im Rahmen der kapitalbildenden Lebensversicherung die
Überschussermittlung. Die Versicherungsnehmer übertragen den Versicherungsunternehmen durch ihre
Prämienzahlungen Vermögen, das vollständig in das unternehmerische Eigentum
übergeht. Die Versicherungsunternehmen sind in der Anlage der Vermögenswerte grundsätzlich frei.
Hinsichtlich der Bilanzierung haben sie allerdings die handelsrechtlichen Bewertungsregeln über Vermögensanlagen
zu beachten. Diese Regeln erlauben die Schaffung stiller Reserven. Solche Reserven bestehen
auf der Aktivseite in der Differenz zwischen dem Buchwert und dem Zeitwert. Nach den Bewertungsregeln
bleiben stille Reserven für die Überschussberechnung vollständig außer Ansatz, soweit sie
nicht realisiert werden, etwa durch Veräußerung einer Immobilie. Die Versicherten haben keine Möglichkeit,
die Einbeziehung nicht realisierter stiller Reserven in die Überschussberechnung insoweit zu bewirken,
als die Vermögenswerte auf den von ihnen erbrachten Prämienzahlungen beruhen. Die Berücksichtigung
der stillen Reserven wird vielmehr pauschal unter Verweis auf das Realisationsprinzip des
handelsrechtlichen Bewertungsrechts verneint.

Darüber hinaus können die Überschussbildung und damit die Überschussbeteiligung auch durch Querverrechnungen
berührt werden, ohne dass die Versicherten darauf Einfluss nehmen können. Gemeint ist
insbesondere die Verrechnung der durch die Prämienkalkulation nicht gedeckten Kosten mit Überschüssen,
die etwa aufgrund günstigerer Risiko- oder Kapitalergebnisse entstehen.
Der Wettbewerb um das Produkt Lebensversicherung funktioniert für die Versicherten nur in beschränkter
Weise. Ihnen fehlen praktisch realisierbare Möglichkeiten, selbst und eigenständig auf Änderungen
der Praxis zu ihren Gunsten hinzuwirken. Die Vertragsbedingungen der Lebensversicherer sind
praktisch nicht verhandelbar. Der Versicherungsnehmer hat keine Chance, einen Versicherungsvertrag
mit Überschussbeteiligung so abzuschließen, dass die stillen Reserven jedenfalls teilweise auch ohne
Realisierung berücksichtigt und Möglichkeiten der Querverrechnung transparent gemacht und inhaltlich
begrenzt werden. Nach Vertragsschluss sind die Möglichkeiten, auf das Vertragsverhältnis Einfluss zu
nehmen, noch beschränkter. Insbesondere ist die Kündigung des Vertrages keine wirtschaftlich sinnvolle
Option, da sie regelmäßig mit erheblichen Nachteilen verbunden ist.
3. Angesichts der fehlenden Möglichkeiten der Versicherungsnehmer, ihre Belange selbst und eigenständig
effektiv zu verfolgen, trifft den Gesetzgeber ein verfassungsrechtlicher Schutzauftrag. Er hat hinreichende
rechtliche Vorkehrungen dafür vorzusehen, dass bei der Ermittlung eines bei Vertragsende zuzuteilenden
Schlussüberschusses die Vermögenswerte angemessen berücksichtigt werden, die durch die
Prämienzahlungen geschaffen worden sind. Diesem Auftrag ist der Gesetzgeber nicht in ausreichendem
Maße nachgekommen. Er hat weder im Versicherungsvertragsrecht noch im Versicherungsaufsichtsrecht
für hinreichende Schutzvorkehrungen gesorgt.

Das (zivilrechtliche) Versicherungsvertragsrecht regelt – jedenfalls in der Auslegung durch den Bundesgerichtshof
– nicht die Feststellung des Überschusses selbst, sondern dessen Verteilung an die Versicherten.
Der Bundesgerichtshof verweist für die Ermittlung des Überschusses auf die Kontrollmöglichkeiten
des Versicherungsaufsichtsrechts. Der Maßstab des (öffentlichrechtlichen) Versicherungsaufsichtsrechts
ist der der Missstandsaufsicht. Die aufsichtliche Tätigkeit orientiert sich nicht am einzelnen
Versicherungsverhältnis, sondern an den Belangen der Versicherten in ihrer Gesamtheit und an der Sicherung
der Funktionsfähigkeit des Versicherungswesens. Der Blick auf die Funktionsfähigkeit legt es
nahe, stille Reserven möglichst für zukünftige Zeiten zu halten; den Belangen einzelner aus dem Versicherungsverhältnis
ausscheidender Versicherten kann dies aber widersprechen.

Die Rechtslage wird den verfassungsrechtlichen Schutzpflichten nicht gerecht. Während die Zivilgerichte
darauf verweisen, dass die Versicherungsaufsicht Missstände beseitigt, stellen sie insoweit eine eigene
Prüfung der hinreichenden Berücksichtigung der Belange der Versicherten zurück. Das Versicherungsaufsichtsrecht
ist andererseits nicht in positiver Weise auf die Wahrung der Belange der Versicherten
ausgerichtet. Es gibt für die Versicherten insbesondere keine rechtlichen Möglichkeiten zur Überprüfung,
ob eine angemessene Berücksichtigung der Vermögenswerte vorliegt, die bei den Versicherungsunternehmen
mit den gezahlten Versicherungsprämien gebildet worden sind.
4. Die seit Ablauf des vorliegend maßgeblichen Vertrages erfolgten Neuregelungen haben die aufgezeigten
Probleme noch nicht bewältigt. Der Gesetzgeber wird im Rahmen des ihm zukommenden Gestaltungsspielraums
Lösungen zur Beseitigung des Schutzdefizits bereitzustellen haben. Auf die bisherigen im Versicherungsaufsichtsrecht und Versicherungsvertragsrecht vorgesehenen Instrumente ist er nicht beschränkt.
In die Prüfung angemessener Lösungen können Möglichkeiten zur Sicherung größerer Transparenz
hinsichtlich der Entwicklung von Überschussquellen und der Auskehrung von Überschüssen und
zur Verbesserung des Informationszugangs ebenso einbezogen werden wie neue verfahrensmäßige Wege
zum Schutz der betroffenen Belange. Auch kann die Funktionsweise des Wettbewerbs zu Gunsten
der Versicherten verbessert werden, etwa durch Erleichterungen beim Wechsel des Versicherers. In
Betracht kommen auch versicherungsspezifische Arten der Bilanzierung.

Urteil vom 26. Juli 2005 – 1 BvR 80/95 –

Karlsruhe, den 26. Juli 2005