BVerfG: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Unterhaltsverzichtsvertrag – Urteil aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 8. November 2000

BVerfG: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen
Unterhaltsverzichtsvertrag – Urteil aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 8. November
2000

Mit Urteil vom heutigen Tag hat der Erste Senat des BVerfG
aufgrund
einer Verfassungsbeschwerde (Vb) ein Urteil des
Oberlandesgerichts (OLG)
Stuttgart aufgehoben, durch welches die Beschwerdeführerin
(Bf)
verpflichtet worden war, ihren Ehemann von
Unterhaltsansprüchen des
gemeinsamen Kindes über 150,- DM monatlich hinaus
freizustellen. Das OLG
hatte den zugrunde liegenden Ehevertrag, in dem neben dieser
Freistellungsverpflichtung ein Verzicht auf nachehelichen
Ehegattenunterhalt vereinbart worden war, für wirksam
gehalten. Die
Hintergründe des Verfahrens sind in der Pressemitteilung
Nr. 130/2000
vom 10. Oktober dargestellt, die auf Anfrage gern übersandt
wird.

Das BVerfG stellt fest, dass die Entscheidung des OLG
Stuttgart die Bf
in ihren Rechten aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 4 GG
sowie aus
Art. 6 Abs. 2 GG verletzt. Zur Begründung führt es im
Wesentlichen aus:

1. Das OLG hat seine Entscheidung auf die ehevertragliche
Scheidungsfolgenvereinbarung zwischen der Bf und dem Vater
des Kindes
gestützt. Die Berufung auf diese Vereinbarung sei nicht
rechtsmissbräuchlich; ebenso wenig sei die Vereinbarung als
sittenwidrig
zu bewerten.
Damit hat das OLG das Recht der Bf aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m.
Art. 6 Abs.
4 GG auf Schutz vor unangemessener Benachteiligung durch
den Ehevertrag
verkannt.
a) Im Zivilrecht obliegt es den Gerichten, den Schutz der
Grundrechte
des Einzelnen durch Auslegung und Anwendung des Rechts zu
gewähren und
im Einzelfall zu konkretisieren. Dabei haben sie die in
Art. 2 Abs. 1 GG
gewährleistete Privatautonomie zu achten und grundsätzlich
den in einem
Vertrag zum Ausdruck gebrachten übereinstimmenden Willen der
Vertragsparteien zu respektieren, der in der Regel auf
einen durch den
Vertrag hergestellten sachgerechten Interessenausgleich
schließen lässt.
Bei besonders einseitiger Lastenverteilung und einer
erheblich
ungleichen Verhandlungsposition der Vertragspartner muss
das Recht
jedoch auf die Wahrung der Grundrechtspositionen beider
Vertragspartner
hinwirken, um zu verhindern, dass sich für einen
Vertragsteil die
Selbstbestimmung in Fremdbestimmung verkehrt. Dies gilt
auch für
Eheverträge. Der Staat hat der Freiheit der Ehegatten, ihre
ehelichen
und rechtlichen Beziehungen durch Vertrag zu gestalten,
dort Grenzen zu
setzen, wo der Vertrag nicht Ausdruck und Ergebnis
gleichberechtigter
Lebenspartnerschaft ist, sondern eine einseitige Dominanz
eines
Ehepartners widerspiegelt. Unrichtig ist die Annahme des
OLG, die
Eheschließungsfreiheit stehe einer Inhaltskontrolle von
Eheverträgen
entgegen. Die Eheschließungsfreiheit umfasst nicht die
Freiheit zu
unbegrenzter Ehevertragsgestaltung, insbesondere nicht zu
einseitiger
ehevertraglicher Lastenverteilung.
b) Enthält ein Ehevertrag eine erkennbar einseitige
Lastenverteilung zu
Ungunsten der Frau und ist er vor der Ehe und in
Zusammenhang mit ihrer
Schwangerschaft geschlossen worden, gebietet auch der
Anspruch der
werdenden Mutter auf Schutz und Fürsorge aus Art. 6 Abs. 4
GG eine
besondere richterliche Inhaltskontrolle des Vertrages. Eine
Situation
von Unterlegenheit ist regelmäßig anzunehmen, wenn eine
nicht
verheiratete Frau schwanger ist und sich vor die
Alternative gestellt
sieht, in Zukunft entweder allein für das erwartete Kind
Verantwortung
und Sorge zu tragen oder durch Eheschließung den Vater in
die
Verantwortung einzubinden, wenn auch um den Preis eines mit
ihm zu
schließenden, sie aber stark belastenden Ehevertrages: Zum
einen
bedeutet Schwangerschaft für jede Frau einen existentiellen
Umbruch in
ihrem Leben. Sie durchläuft einen Entwicklungsprozess, der
sie
körperliche Veränderungen erfahren lässt und der für ihre
eigene
Gesundheit sowie die des Kindes Risiken in sich birgt. Sie
muss ihre
Lebensführung und Lebensplanung umstellen; neue Aufgaben,
Pflichten und
Verantwortlichkeiten entstehen. Gerade bei unverheirateten
Müttern geht
dies häufig mit dem Scheitern der Beziehung zum Vater
einher. Darüber
hinaus bestehen auch heute noch gesellschaftliche und
soziale Zwänge,
aufgrund derer sich eine werdende Mutter für ihre
Nichtheirat unter
Rechtfertigungsdruck fühlen kann. 1976 – als der hier
strittige
Ehevertrag geschlossen wurde – war die ledige Mutter noch
deutlich
stigmatisiert. Hinzu kommt für die nicht verheiratete Schwangere die
Gewissheit, die
alleinige Verantwortung und Sorge für das Kind tragen zu
müssen. Ist der
Vater zur gemeinsamen Sorge nicht bereit, bleibt sie allein
für das Kind
verantwortlich. Ein Unterhaltsanspruch gegen den Mann
besteht nur
eingeschränkt. Schon im frühen Alter des Kindes muss sie
Kinderbetreuung
und eigene Existenzsicherung gleichermaßen sicherstellen.
Besonders gravierend ist in der Regel die ökonomische
Perspektive für
Mütter nichtehelicher Kinder. Meist sinkt ihr Einkommen
nach der Geburt
des Kindes auf weniger als die Hälfte des vorherigen
Einkommens. Etwa
ein Drittel der allein erziehenden Mütter mit Kindern lebt
auf oder
unter Sozialhilfeniveau, während lediglich 15% der
ehelichen Kinder in
ebenso beengten Verhältnissen aufwachsen. Eine deutlich
schlechtere
Zahlungsmoral von Vätern gegenüber nichtehelichen Kindern
führt häufig
zur Notwendigkeit, Leistungen nach dem
Unterhaltsvorschussgesetz in
Anspruch nehmen zu müssen.

Schwangerschaft bei Abschluss eines Ehevertrages ist
allerdings nur ein
Indiz für ein vertragliches Ungleichgewicht. Die
Vermögenslage der
Schwangeren, ihre berufliche Qualifikation und Perspektive
sowie die von
den zukünftigen Eheleuten geplante Aufteilung von Erwerbs-
und
Familienarbeit in der Ehe müssen ebenfalls berücksichtigt
werden. Im
Einzelfall können diese Umstände die dargelegte
Unterlegenheit
ausgleichen, auch wenn die Frau im Ehevertrag auf
gesetzlich garantierte
Rechte verzichtet.

Bringt aber auch der Inhalt eines Ehevertrags eine solche
Unterlegenheitsposition der Schwangeren zum Ausdruck, wird
die
Schutzbedürftigkeit offenkundig. Dies ist der Fall, wenn
der Vertrag sie
einseitig belastet und ihre Interessen keine angemessene
Berücksichtigung finden. Ob dem so ist, hängt wesentlich
auch von der
Lebensplanung der Ehepartner ab. Soll danach einer der
Eheleute sich im
Wesentlichen der Kinderbetreuung und Haushaltsführung
widmen, bedeutet
ein Verzicht auf nachehelichen Unterhalt eine
Benachteiligung dieser
Person.
Das in dem Ehevertrag enthaltene Eheversprechen wiegt die
einseitige
Belastung eines Vertragspartners nicht auf. Die Partner
sind frei in der
Entscheidung, ob sie eine Ehe eingehen wollen. Entschließen
sie sich
dafür, bringt die Ehe beiden gleichermaßen Rechte und
Pflichten. Das
Eheversprechen als solches begründet keine einseitige
Belastung eines
der Versprechenden.
c) Das OLG hat in der angegriffenen Entscheidung weder die
besondere
Situation der Bf als Schwangere mit bereits einem Kind bei
Vertragsabschluss gesehen noch ist es der Frage
nachgegangen, ob der
Ehevertrag die Bf in unangemessener Weise belastet. Hierfür
bot der
Inhalt des Vertrages allerdings Anlass: Der gegenseitige
Verzicht auf
nachehelichen Unterhalt schwächt die wirtschaftliche Lage
der Bf
nachhaltig. Sie sollte für den Fall der Scheidung die Sorge
für das
gemeinsame Kind tragen und konnte nicht damit rechnen, mit
zwei Kindern
ihre Einkommenslage aus eigener Kraft wesentlich zu
verbessern. Hingegen
gab der Ehemann mit seinem eigenen Verzicht nichts auf; er
konnte nicht
erwarten, im Falle der Scheidung Unterhalt von der Bf zu
erlangen. Zudem
hat die Bf trotz ihrer vergleichsweise schlechten
wirtschaftlichen Lage
den Vater weit gehend von der Unterhaltspflicht dem
gemeinsamen Kind
gegenüber freigestellt. Damit ist ihr die Aufgabe der
alleinigen
Kinderbetreuung und die Sorge für den eigenen Unterhalt
sowie den des
gemeinsamen Kindes zugewiesen worden. Dieser deutlichen
Belastung der Bf
steht die Entlastung des Ehemannes von ihrem etwaigen
Unterhaltsanspruch
wie auch dem des Kindes (über 150,- DM hinaus) gegenüber.
Damit wurde er
sogar besser gestellt als der Vater eines nichtehelichen
Kindes. Das
Gericht hat diese Vertragskonstellation unter Hinweis auf
die
Eheschließungsfreiheit nicht zum Anlass für eine Kontrolle
des
Vertragsinhalts genommen und dadurch verkannt, dass die
Eheschließungsfreiheit nicht die Freiheit zur
unangemessenen einseitigen
vertraglichen Interessendurchsetzung eröffnet.

2. Die Entscheidung des OLG verstößt zudem gegen Art. 6
Abs. 2 GG. Die
darin den Eltern zugewiesene Verantwortung für die Pflege
und Erziehung
ihrer Kinder ist ein Grundrecht im Interesse des Kindes. Bei
nachhaltiger Gefährdung des Kindeswohls hat das Kind als
Grundrechtsträger Anspruch auf Schutz des Staates vor
verantwortungsloser Ausübung des Elternrechts.
Zur Elternverantwortung gehört auch, für einen ihrem
eigenen Vermögen
gemäßen und zugleich angemessenen Unterhalt des Kindes zu
sorgen und
seine Betreuung sicherzustellen. Wie die Eltern diese
Aufgabe erfüllen,
liegt in ihrer Entscheidungsfreiheit. Treffen sie eine
Vereinbarung für
den Fall der Scheidung, müssen sie dafür sorgen, dass die
regelmäßig mit
der Trennung verbundene seelische Belastung gemildert und
für die Pflege
und Erziehung des Kindes eine interessengerechte Lösung
gefunden wird.
Soll nach dem Elternwillen bei einer Scheidung ein
Elternteil die
alleinige Sorge für das gemeinsame Kind tragen und es
betreuen und
vereinbaren die Eltern darüber hinaus eine Freistellung des
anderen
Elternteils vom Kindesunterhalt durch den Betreuenden,
werden sie ihrer
Verantwortung dem Kinde gegenüber nicht gerecht und
gefährden dessen
Wohl, wenn dadurch eine den Interessen des Kindes
entsprechende
Betreuung und ein angemessener Barunterhalt nicht mehr
sichergestellt
sind. Der Unterhaltsanspruch des Kindes richtet sich nach
dem
Leistungsvermögen des Unterhaltspflichtigen und dem
Bedürfnis des
Kindes. Seine Höhe wird damit auch durch die soziale Lage
der Eltern
bestimmt und ist als solche kein Anhaltspunkt für eine
Kindeswohlgefährdung. Wird der Kindesunterhalt jedoch nur
deshalb in
nachhaltiger Weise eingeschränkt, weil zumindest ein
Elternteil sich der
Sorge um sein Kind auch finanziell entziehen will, ist dies
keine
elterliche Interessenwahrnehmung für das Kind mehr. Will
der Elternteil
sich der Aufgabe, die Interessen des Kindes zu wahren,
entledigen,
gebietet es Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, staatlicherseits zum
Schutze des
Kindeswohls tätig zu werden.
Zwar hat die Freistellung eines Elternteils vom
Kindesunterhalt durch
den anderen rechtlich keine Auswirkungen auf den
Unterhaltsanspruch des
Kindes gegen seine Eltern. Tatsächlich verändert sich die
wirtschaftliche Lage des Kindes jedoch wesentlich, wenn der
betreuende
Elternteil nicht über erhebliche finanzielle Mittel
verfügt. Dieser
erhält dann nicht nur keine Zahlungen für den
Kindesunterhalt, sondern
sein für ihn selbst zur Verfügung stehendes Einkommen wird
durch die
Verpflichtung zur Abdeckung des Kindesunterhalts gemindert.
Das dem
gemeinsamen Haushalt von Elternteil und Kind zur Verfügung
stehende
Einkommen sinkt hierdurch deutlich. Zudem ist die
Möglichkeit einer
Berufstätigkeit durch die Betreuung des Kindes
eingeschränkt. Führt die
Vereinbarung der Eltern dazu, dass der sorgende Elternteil
im Fall der
Scheidung wegen der vollen Übernahme des Kindesunterhalts
seinen eigenen
Unterhalt und den des Kindes nicht mehr durch Einkünfte
decken oder aus
Vermögen bestreiten kann, beeinträchtigt dies die
Lebensumstände des
Kindes in einer der Elternverantwortung zuwider laufenden
Weise. Der
sorgende Elternteil muss dann entweder die Betreuung des
Kindes in
fremde Hände geben, um das benötigte Einkommen zu verdienen
oder mit dem
Kind unter Verhältnissen leben, die die
Entwicklungsmöglichkeiten des
Kindes weit mehr einschränken, als es dem gemeinsamen
elterlichen
Vermögen entsprechen würde. Nur wenn dem sorgenden
Elternteil ein
Einkommen verbleibt, das den angemessenen Lebensunterhalt
des Kindes,
den eigenen Unterhalt und die Betreuungskosten deckt, ist
eine
Beeinträchtigung der Kindesinteressen auszuschließen. Ist
dies bei
Vereinbarung der Freistellung erkennbar nicht
gewährleistet, gefährdet
die elterliche Vertragsabrede das Kindeswohl. Dies hat das
OLG nicht
berücksichtigt, obwohl bei der Situation der Bf dazu Anlass
gewesen
wäre. Das OLG hat nicht geprüft, ob die Mutter den
Unterhaltsanspruch
des Kindes ohne übermäßige Anstrengungen oder erhebliches
Absinken des
familiären Lebensstandards erfüllen kann. Es hat letztlich
nicht
bedacht, dass die Freistellung Einfluss auf die
Realisierung dieses
Anspruchs und damit auf die Interessen des Kindes nehmen
kann.
Angesichts der recht bescheidenen Verdienstmöglichkeit der
Bf als
kaufmännische Angestellte und der Verpflichtung, neben dem
mit in die
Ehe gebrachten Kind auch für das eheliche Kind alleine
finanziell zu
sorgen sowie den eigenen Lebensunterhalt verdienen zu
müssen, hätte sich
dem OLG die Frage aufdrängen müssen, ob die Freistellung
des Vaters
unter solchen Umständen nicht die Interessen des
gemeinsamen Kindes
verletzt.

Urteil vom 6. Februar 2001 – 1 BvR 12/92 –

Karlsruhe, den 6. Februar 2001