BGH: Zur Widerruflichkeit des Erwerbs von “Lehman-Zertifikaten” im Fernabsatz

Der für das Bankrecht zuständige XI. Zivilsenat hat heute in zwei Fällen entschieden, dass Anleger, die insbesondere “Lehman-Zertifikate” per Telefon oder E-Mail erworben
haben, ihre auf Abschluss der Erwerbsverträge mit der Bank gerichtete Willenserklärung nicht nach den Regeln über den Fernabsatz widerrufen können. 

In beiden Fällen erwarben die Anleger von derselben beklagten Bank – in der Sache XI ZR 439/11 zusammen mit weiteren Finanzprodukten anderer Emittenten – jeweils “Global
Champion”-Zertifikate. Hierbei handelt es sich um Inhaberschuldverschreibungen der niederländischen Lehman Brothers Treasury Co. B.V., deren Rückzahlung von der
US-amerikanischen Lehman Brothers Holdings Inc. garantiert wurde. 

In der Sache XI ZR 384/11 erteilten die Klägerin und ihr Ehemann aufgrund eines mit einem Mitarbeiter der Beklagten geführten Beratungsgesprächs am 8. Februar 2007 den
Auftrag zum Kauf von 16 Zertifikaten, wobei zwischen den Parteien streitig ist, ob das Verkaufsgespräch ganz oder teilweise telefonisch erfolgte. Das Geschäft wurde von der
Beklagten im Eigenhandel zu einem Festpreis ausgeführt. Nach der Insolvenz der Emittentin und der Garantin wurden die Zertifikate weitgehend wertlos. Im Februar 2010
erklärten die Eheleute den Widerruf aller von ihnen im Zusammenhang mit dem Kauf abgegebenen Erklärungen. Mit der in beiden Vorinstanzen erfolglosen Klage verlangt die
Klägerin aus eigenem und abgetretenem Recht ihres Ehemannes im Wesentlichen die Rückzahlung des Anlagebetrages von 16.069,60 ? nebst Zinsen abzüglich einer
Bonuszahlung. 

In der Sache XI ZR 439/11 erwarb der Ehemann der Klägerin auf Empfehlung von Mitarbeitern der beklagten Bank teilweise aufgrund von Telefonaten und teilweise per E-Mail
verschiedene Zertifikate – darunter auch “Global Champion”-Zertifikate – sowie Anteile eines u.a. in Zertifikate investierenden Fonds. Im Juli 2011 widerrief der Zedent
sämtliche Vertragserklärungen gegenüber der beklagten Bank. Mit der ebenfalls in beiden Vorinstanzen erfolglosen Klage begehrt die Klägerin aus abgetretenem Recht ihres
Ehemannes zuletzt noch die Rückerstattung verlorener Anlagebeträge in Höhe von 72.394,37 ?. 

Der XI. Zivilsenat hat die von den Berufungsgerichten zugelassenen Revisionen der Klägerinnen zurückgewiesen. Dabei waren im Wesentlichen folgende Überlegungen für
seine Entscheidung maßgeblich: 

Nach § 312d Abs. 4 Nr. 6 BGB kann eine auf Abschluss eines Fernabsatzvertrages gerichtete Willenserklärung dann nicht widerrufen werden, wenn Gegenstand des Vertrages die
Verschaffung von Finanzdienstleistungen ist, deren “Preis” innerhalb der Widerrufsfrist – dem Einfluss des Unternehmers, hier der Bank, entzogenen – Schwankungen auf dem
Finanzmarkt unterliegt. Dabei ist der Begriff des Preises nach der Systematik und der Gesetzgebungsgeschichte weit zu verstehen. “Preis” ist nicht nur ein Börsen- oder
Marktpreis, der für das Produkt selbst auf dem Finanzmarkt gezahlt wird. “Preis” im Sinne des § 312d Abs. 4 Nr. 6 BGB können vielmehr auch die Parameter sein, von denen der
Wert des Finanzprodukts abhängt. 

So sollten etwa Bonuszahlungen und die Rückzahlung der “Lehman-Zertifikate” in Abhängigkeit von der Entwicklung dreier Aktienindizes (Dow Jones EuroSTOXX 50, Standard &
Poor´s 500 sowie Nikkei 225) während dreier aufeinander folgender Beobachtungszeiträume ab dem 7. Februar 2007 erfolgen. Entsprechend hing der innere Wert der Zertifikate
mit Beginn der Beobachtungszeiträume von Parametern (“Basiswerten” oder “Underlyings”), nämlich der Entwicklung der drei Aktienindizes, ab, die von der beklagten Bank nicht
beeinflussbaren Schwankungen auf den Finanzmärkten unterworfen waren. 

Der Ausschluss des Widerrufsrechts nach § 312d Abs. 4 Nr. 6 BGB bei dem Erwerb solcher Papiere soll das Risiko eines wenigstens mittelbar finanzmarktbezogen spekulativen
Geschäfts mit seinem Abschluss in gleicher Weise auf beide Parteien verteilen. Der Anleger, der wie in den entschiedenen Fällen zugleich Verbraucher ist, soll einen
drohenden Verlust aufgrund fallender Basiswerte innerhalb der Widerrufsfrist nicht durch Ausübung des Widerrufsrechts auf den Unternehmer abwälzen können.

Weil ein Widerrufsrecht schon nach § 312d Abs. 4 Nr. 6 BGB nicht in Betracht kam, konnte das Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen eines Fernabsatzvertrages
dahinstehen. 

Urteil vom 27. November 2012 – XI ZR 384/11

LG Mönchengladbach – Urteil vom 1. Juni 2010 – 3 O 328/09 

OLG Düsseldorf – Urteil vom 22. Juli 2011 – I-17 U 117/10

ZIP 2012, 419 ff.

und

Urteil vom 27. November 2012 – XI ZR 439/11

LG Mannheim – Urteil vom 7. April 2010 – 8 O 282/09 

OLG Karlsruhe – Urteil vom 13. September 2011 – 17 U 104/10

WM 2012, 213 ff.

Karlsruhe, den 27. November 2012

* § 312b BGB (Auszug) 

Fernabsatzverträge 

(1) Fernabsatzverträge sind Verträge über die Lieferung von Waren oder über die Erbringung von Dienstleistungen, einschließlich Finanzdienstleistungen, die zwischen
einem Unternehmer und einem Verbraucher unter ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikationsmitteln abgeschlossen werden, es sei denn, dass der Vertragsschluss nicht
im Rahmen eines für den Fernabsatz organisierten Vertriebs- oder Dienstleistungssystems erfolgt. Finanzdienstleistungen im Sinne des Satzes 1 sind Bankdienstleistungen sowie
Dienstleistungen im Zusammenhang mit einer Kreditgewährung, Versicherung, Altersversorgung von Einzelpersonen, Geldanlage oder Zahlung. 

(2) ? 

** § 312d BGB (Auszug) 

Widerrufs- und Rückgaberecht bei Fernabsatzverträgen 

(1) Dem Verbraucher steht bei einem Fernabsatzvertrag ein Widerrufsrecht nach § 355 zu. Anstelle des Widerrufsrechts kann dem Verbraucher bei Verträgen über die Lieferung
von Waren ein Rückgaberecht nach § 356 eingeräumt werden. 

(2) ? 

(4) Das Widerrufsrecht besteht, soweit nicht ein anderes bestimmt ist, nicht bei Fernabsatzverträgen 

1. ? 

6. die die Lieferung von Waren oder die Erbringung von Finanzdienstleistungen zum Gegenstand haben, deren Preis auf dem Finanzmarkt Schwankungen unterliegt, auf die der
Unternehmer keinen Einfluss hat und die innerhalb der Widerrufsfrist auftreten können, insbesondere Dienstleistungen im Zusammenhang mit Aktien, Anteilsscheinen, die von
einer Kapitalanlagegesellschaft oder einer ausländischen Investmentgesellschaft ausgegeben werden, und anderen handelbaren Wertpapieren, Devisen, Derivaten oder
Geldmarktinstrumenten oder 

7.?”