Die 1. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG hat einer
Verfassungsbeschwerde (Vb) stattgegeben, die sich gegen einen
Haftbefehl
zur Erzwingung der Anwesenheit des Angeklagten in der
Berufungshauptverhandlung richtete.
1. Der Beschwerdeführer (Bf) war vom Amtsgericht (AG) München wegen
Beleidigung, Nötigung und Hausfriedensbruchs zu einer Freiheitsstrafe
von sieben Monaten auf Bewährung und einer Geldstrafe verurteilt
worden.
Die Staatsanwaltschaft, die eine Freiheitsstrafe von zehn
Monaten auf Bewährung beantragt hatte, legte ebenso wie der Bf
Berufung
ein.
Eine vom Landgericht (LG) München I verfügte Ladung des Bf zur
Berufungshauptverhandlung unter der im amtsgerichtlichen Urteil
vermerkten Adresse misslang. Der formlos benachrichtigte Verteidiger
des
Bf teilte mit, ihm liege keine Ladungsvollmacht vor. Der Bf könne
aber
über seinen derzeitigen Wohnsitz in der Schweiz geladen werden. Eine
erneute Ladung des Bf über die schweizer Anschrift kam mit dem
Vermerk
“unbekannt” zurück. Vom LG angestellte Aufenthaltsermittlungen kamen
zu
dem Ergebnis, dass der Bf im Inland keine ladungsfähige Anschrift
(mehr)
habe. Das LG ordnete daraufhin Untersuchungshaft an.
Der Bf legte hiergegen Beschwerde ein. Sein Verteidiger legte eine
weitere Vollmachtsurkunde vor, die ihn u.a. zur Entgegennahme von
Ladungen ermächtigte. Diese war nach seinen Worten vom Bf
unwiderruflich
erteilt worden. Die Ladung an die schweizer Anschrift habe nicht
zugestellt werden können, weil das Schreiben nicht mit dem Rufnamen
des
Bf versehen gewesen sei.
Das LG half der Beschwerde nicht ab. Das Oberlandesgericht (OLG)
München
verwarf die Beschwerde als unbegründet. Das Erscheinen des Bf in der
Berufungshauptverhandlung sei erforderlich. Die in § 329 Abs. 1 und 2
StPO genannten Möglichkeiten (s. Anlage) schieden aus, weil der Bf
nicht
ordnungsgemäß geladen werden könne. Deswegen habe das LG zu Recht,
nach
§ 329 Abs. 4 Satz 1 StPO die Verhaftung angeordnet. Hiervon habe
nicht
abgesehen werden können. Nach dem bisherigen Verfahrensgang sei
nicht zu
erwarten, dass er ohne Zwangsmaßnahmen in der
Berufungshauptverhandlung
erscheinen werde.
2. Die Kammer hat den Haftbefehl des LG München I in der Gestalt des
Beschlusses des OLG München aufgehoben, weil er den Bf in seinem
Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt. Zur Begründung führt
sie im Wesentlichen aus:
Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG folgt, dass Anordnung und Vollzug von
Untersuchungshaft von dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
beherrscht
werden. Vornehmlicher Zweck und eigentlicher Rechtfertigungsgrund der
Untersuchungshaft ist es, die Durchführung eines geordneten
Strafverfahrens zu gewährleisten und die spätere Strafvollstreckung
sicherzustellen. Ist Untersuchungshaft zu einem dieser Zwecke nicht
mehr
nötig, so ist es unverhältnismäßig, sie anzuordnen,
aufrechtzuerhalten
oder zu vollziehen. Diese Grundsätze gelten auch für den Haftbefehl
nach
§ 329 Abs. 4 StPO. Seine Anordnung setzt voraus, dass die Berufung
des
Angeklagten nicht ohne Verhandlung zur Sache verworfen werden kann
und
die Berufung der Staatsanwaltschaft nicht ohne den Angeklagten
verhandelt werden kann. Zudem ist von einer Verhaftung oder
Vorführung
des Angeklagten abzusehen, wenn zu erwarten ist, dass er in der neu
anzuberaumenden Hauptverhandlung ohne Zwangsmaßnahmen erscheinen
wird.
Nur dies wird dem verfassungsrechtlichen Gebot gerecht, dass bei
einer
den Bürger belastenden Maßnahme Mittel und Zweck in angemessenem
Verhältnis zueinander stehen müssen.
Der Beschluss des OLG genügt diesen Anforderungen nicht; seine
Erwägungen verstoßen unter jedem denkbaren Gesichtspunkt gegen das
Gebot der Verhältnismäßigkeit.
Es ist bereits bedenklich, für Zwangsmaßnahmen nach § 329 Abs. 4 StPO
nicht das unentschuldigte Ausbleiben des Angeklagten in einem
ordnungsgemäß anberaumten Termin vorauszusetzen, sondern sie bereits
gleichsam zur Erzwingung einer ordnungsgemäßen Ladung anzuordnen.
Diese
Rechtsansicht ist mit Wortlaut und Systematik des Gesetzes kaum zu
vereinbaren. Jedenfalls die weitere Begründung des OLG, der Bf könne
nicht ordnungsgemäß geladen werden, kann nicht nachvollzogen werden.
Der
Verteidiger hatte ausdrücklich eine unwiderruflich erteilte Vollmacht
zur Entgegennahme von Ladungen zu den Gerichtsakten gereicht. Ob die
frühere Vollmacht für den Verteidiger überhaupt widerrufen worden ist
und ob ernstlich zu befürchten war, die erneute Vollmacht werde noch
vor
Zustellung einer Ladung widerrufen, ist vom OLG nicht aufgeklärt
worden.
Zudem blieb die Möglichkeit, den Bf persönlich in der Schweiz zu
laden.
Die Strafakten bestätigen insoweit das Vorbringen des Verteidigers,
dass
die erfolgte Ladung fehlgeschlagen ist, weil sie nicht mit dem
Rufnamen
des Bf versehen war. Das Gebot der Verhältnismäßigkeit hätte vor
Anordnung oder Aufrechterhaltung von Zwangsmaßnahmen die Prüfung
erfordert, ob die offenbar außerhalb des Verantwortungsbereichs des
Bf
liegenden Zustellungsschwierigkeiten behoben werden können.
Die Kammer legt weiter dar, warum es als unwahrscheinlich erscheint,
dass der Bf nicht zur Berufungsverhandlung erscheint, obgleich er
selbst
Berufung eingelegt hat und andererseits nicht zu befürchten ist, dass
die gewährte Bewährung selbst bei einer Erhöhung der sieben monatigen
Freiheitsstrafe entfallen sollte. Auch zu den in diesem Zusammenhang
sich stellenden Fragen hat das OLG sich nicht geäußert. Auch dadurch
verstößt der Haftbefehl gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit.
Beschluss vom 18. Dezember 2000 – 2 BvR 1706/00 –
Karlsruhe, den 19. Januar 2001
Hinweis: Die Entscheidungen des BVerfG werden in der Regel noch am
Tag
der Bekanntgabe in das Internet eingestellt und sind unter der
Adresse:
“http://www.bundesverfassungsgericht.de”
abrufbar.
Wir würden uns freuen, wenn die Bürgerinnen und Bürger auf diese
Möglichkeit hingewiesen werden.
Anlage zur Pressemitteilung Nr. 10/2001 vom 19. Januar 2001
§ 329 StPO [Ausbleiben des Angeklagten]
(1) Ist bei Beginn einer Hauptverhandlung weder der Angeklagte noch
in
den Fällen, in denen dies zulässig ist, ein Vertreter des Angeklagten
erschienen und das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt, so hat das
Gericht eine Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache zu
verwerfen. Dies gilt nicht, wenn das Berufungsgericht erneut
verhandelt,
nachdem die Sache vom Revisionsgericht zurückverwiesen worden ist.
Ist
die Verurteilung wegen einzelner von mehreren Taten weggefallen, so
ist
bei der Verwerfung der Berufung der Inhalt des aufrechterhaltenen
Urteils klarzustellen, die erkannten Strafen können vom
Berufungsgericht
auf eine neue Gesamtstrafe zurückgeführt werden.
(2) Unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 kann auf eine
Berufung der Staatsanwaltschaft auch ohne den Angeklagten verhandelt
werden. Eine Berufung der Staatsanwaltschaft kann in diesen Fällen
auch
ohne Zustimmung des Angeklagten zurückgenommen werden, es sei denn ,
daß
die Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 2 vorliegen.
(3) …
(4) Sofern nicht nach Absatz 1 oder 2 verfahren wird, ist die
Vorführung
oder Verhaftung des Angeklagten anzuordnen. Hiervon ist abzusehen,
wenn
zu erwarten ist, daß er in der neu anzuberaumenden Hauptverhandlung
ohne
Zwangsmaßnahmen erscheinen wird.