BVerfG: Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht, den Arzt von Schweigepflicht zu entbinden, findet im Gesetz keine Grundlage

Der Beschwerdeführer war aufgrund strafgerichtlicher Anordnung sieben Jahre in einem psychiatrischen
Krankenhaus untergebracht. Nachdem das Oberlandesgericht die Unterbringung für
erledigt erklärt hatte, stellte es den Eintritt der Führungsaufsicht fest. Mit seiner Verfassungsbeschwerde
wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Führungsaufsicht sowie gegen die damit
verbundene gerichtliche Weisung, seinen – ihn im Rahmen einer ambulanten Therapie behandelnden
– Arzt von der Schweigepflicht gegenüber staatlichen Stellen zu entbinden. Die Verfassungsbeschwerde
war teilweise erfolgreich. Die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts
stellte fest, dass gegenwärtig keine gesetzliche Grundlage besteht, die eine Weisung
zur Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht ermöglicht. Der Eintritt der Führungsaufsicht
hingegen wurde von der Kammer nicht beanstandet.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer hatte im Zustand nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit aufgrund einer
Psychose einen versuchten Totschlag, eine Körperverletzung mit Todesfolge und eine versuchte
schwere räuberische Erpressung begangen. Das Landgericht ordnete daher 1998 seine Unterbringung
in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Im Juli 2005 erklärte das Oberlandesgericht die
Unterbringung des Beschwerdeführers für erledigt. Zugleich stellte das Gericht den Eintritt der
Führungsaufsicht fest, deren Dauer auf fünf Jahre festgesetzt wurde. Neben der Weisung, sich
unverzüglich in ambulante psychotherapeutische Behandlung zu begeben, mit welcher sich der
Beschwerdeführer ausdrücklich einverstanden erklärt hatte, wurde der Beschwerdeführer angewiesen,
den behandelnden Arzt von der Schweigepflicht hinsichtlich etwaiger mangelnder Mitarbeit oder im Falle des Abbruchs der Therapie gegenüber dem Bewährungshelfer, der Staatsanwaltschaft
und der Führungsaufsichtsstelle zu entbinden.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem allgemeinen
Persönlichkeitsrecht, soweit sie ihn verpflichtet, den jeweils behandelnden Arzt von der
Schweigepflicht teilweise zu entbinden. Wer sich in ärztliche Behandlung begibt, muss und
darf erwarten, dass alles, was der Arzt im Rahmen seiner Berufsausübung über seine gesundheitliche
Verfassung erfährt, geheim bleibt und nicht zur Kenntnis Unberufener gelangt. Nur
so kann zwischen Patient und Arzt jenes Vertrauen entstehen, das zu den Grundvoraussetzungen
ärztlichen Wirkens zählt. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt daher
grundsätzlich vor der Erhebung und Weitergabe von Befunden über den Gesundheitszustand,
die seelische Verfassung und den Charakter.

Durch die Verpflichtung zur Entbindung von der Schweigepflicht besteht die Gefahr, dass
staatlichen Stellen Befunde über den gesundheitlichen – insbesondere auch psychischen –
Zustand des Beschwerdeführers bekannt werden. Daran ändert auch die Beschränkung des
Umfangs der Entbindung auf die Fälle „mangelnder Mitarbeit„ oder „Abbruch der Therapie„
nichts. Die Frage der Kooperation des Probanden wird häufig ohne Kenntnis der ärztlichen
Therapieabsichten schwerlich zu beurteilen sein. Die angegriffene Entscheidung geht auch
nicht auf die vom Beschwerdeführer vorgeschlagene Verfahrensweise ein, Beginn und Fortdauer
der Behandlung durch vom Probanden vorzulegende Nachweise zu überwachen. Dieser
Modus, der auch ohne vorherige Zustimmung des Betroffenen nicht zu beanstanden wäre und
damit eine Entbindung von der Schweigepflicht erübrigen könnte, entspricht auch teilweise
der Praxis anderer Gerichte, wie eine Umfrage bei den Ländern zu entsprechenden Weisungen
gezeigt hat.

Zwar müssen Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht im überwiegenden Allgemeininteresse
hingenommen werden, sie bedürfen aber einer hinreichend bestimmten gesetzlichen
Ermächtigung. Eine solche Grundlage besteht hier gegenwärtig nicht; insbesondere bietet
§ 68 b Abs. 2 Strafgesetzbuch keine ausreichende Ermächtigungsgrundlage. Nach dem Wortlaut
der Vorschrift kann das Gericht dem Verurteilten „Weisungen„ erteilen. Mit den beispielhaft genannten Weisungen, die sich auf Ausbildung, Arbeit, Freizeit, die Ordnung der
wirtschaftlichen Verhältnisse oder die Erfüllung der Unterhaltspflichten beziehen, lässt sich
die hier im Zusammenhang mit einer psychotherapeutischen Behandlung zu erteilende Entbindung
von der Schweigepflicht schwerlich vergleichen. Zwar hat der Gesetzgeber auch die
Aufnahme einer ärztlichen Behandlung als Mittel der Führungsaufsicht gesehen. Eine Regelung
zur ärztlichen Schweigepflicht hat er jedoch nicht getroffen. Gegen die Annahme einer
bereits existierenden Ermächtigungsgrundlage spricht auch ein aktuelles gesetzgeberisches
Vorhaben der Bundesregierung. Der Gesetzentwurf zur Reform der Führungsaufsicht vom 7.
April 2006 sieht vor, dass sich ein bestimmter Personenkreis, unter anderem Ärzte, gegenüber
dem Gericht, der Aufsichtsstelle und dem Bewährungshelfer zu offenbaren haben, soweit dies
für deren Aufgabenerfüllung erforderlich ist.

2. Die Verfassungsbeschwerde hat dagegen keinen Erfolg, soweit sich der Beschwerdeführer
gegen den Eintritt der Führungsaufsicht wendet. Das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs.
2 GG steht dem Eintritt der Führungsaufsicht nicht entgegen, da dieses nur Maßnahmen mit
Strafcharakter, hingegen nicht die Maßregeln der Besserung und Sicherung umfasst. Unabhängig
davon ist nicht ersichtlich, dass die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Vertrauensschutzbelange
die mit dem Gesetz verfolgten Anliegen überwiegen würden. Der Übergang
des Betroffenen aus dem Maßregelvollzug in die Freiheit soll nach den
Vorstellungen des Gesetzgebers durch Hilfestellung und Kontrollen begleitet werden.
Beanstandungsfrei ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass hierfür im Interesse der
Wiedereingliederung des Entlassenen und letztlich im Interesse des Schutzes der
Bevölkerung ein zwingendes Bedürfnis besteht.

Nr. 56/2006 vom 23. Juni 2006

Beschluss vom 6. Juni 2006

2 BvR 1349/05