Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hatte sich mit der Frage
zu befassen, ob die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe über
den durch die besondere Schwere der Schuld bedingten Zeitpunkt hinaus
aus Gründen der Gefährlichkeit des Straftäters mit dem Grundgesetz
vereinbar ist. Der Senat stellte fest, dass die gesetzlichen Regelungen
weder die Garantie der Menschenwürde noch das Freiheitsgrundrecht
verletzten. Das zunehmende Gewicht des Freiheitsanspruchs bei sehr lang
dauerndem Freiheitsentzug wirke sich aber auf die verfahrensrechtlichen
Anforderungen an die Entscheidung über die Aussetzung der lebenslangen
Freiheitsstrafe aus.
Sachverhalt:
1. Der 1940 geborene Beschwerdeführer 1 wurde 1974 wegen Mordes an einer
jungen Frau mit versuchter Notzucht zu lebenslanger Freiheitsstrafe
verurteilt. 1992 stellte das Landgericht fest, dass die besondere
Schwere der Schuld eine weitere Vollstreckung der lebenslangen
Freiheitsstrafe nicht mehr gebiete, die durch die Tat zutage
getretene Gefährlichkeit aber fortbestehe. Die Vollstreckungsgerichte
lehnten es daher ab, die Vollstreckung des Restes der lebenslangen
Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen. Im Jahr 2000 wurde der
Beschwerdeführer in den offenen Vollzug verlegt. Kurze Zeit später
wurde er wieder in den geschlossenen Vollzug zurückverlegt, weil er
an seinem ersten Arbeitstag im Rahmen eines freien
Beschäftigungsverhältnisses gegenüber einem dreizehnjährigen Mädchen
den Wunsch geäußert hatte, ihm intime Frage zu seinem Sexualleben zu
stellen. In der Folgezeit lehnten die Gerichte auf der Grundlage
psychiatrischer Gutachten die Aussetzung der Vollstreckung der
lebenslangen Freiheitsstrafe ab, da sich die Gefahr schwerwiegender
Rückfalltaten nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausschließen
lasse.
2. Der 1944 geborene Beschwerdeführer 2 wurde 1972 wegen sexuell
motivierter Morde an einem jungen Mädchen und deren Mutter zu
lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. 1997 stellte das Landgericht
fest, dass die besondere Schwere der Schuld die weitere Vollstreckung
nicht mehr gebiete, wegen des verbleibenden Restrisikos aber die
Freiheitsstrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt werden könne. Die
eingeholten Sachverständigengutachten kamen zu dem Ergebnis, dass die
Gefährlichkeit des sich mittlerweile im offenen Vollzug befindlichen
Beschwerdeführers weiterhin nicht sicher ausgeschlossen werden könne.
Die Gerichte lehnten in der Folgezeit die Aussetzung der
Strafvollstreckung des Beschwerdeführers ab.
3. Die gegen die Ablehnung der Aussetzung der Strafvollstreckung
erhobenen Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführer waren im
Ergebnis ohne Erfolg.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
1. Die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe über den durch die
besondere Schwere der Schuld bedingten Zeitpunkt hinaus aus Gründen
der Gefährlichkeit des Straftäters verletzt weder die Garantie der
Menschenwürde noch das Freiheitsgrundrecht.
Die Garantie der Menschenwürde und das Rechtsstaatsprinzip fordern,
dass der Verurteilte eine konkrete und grundsätzlich auch
realisierbare Chance hat, zu einem späteren Zeitpunkt die Freiheit
wiederzugewinnen. Diese Chance wird durch eine strikte Beachtung des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Entscheidung über die
Fortdauer des Freiheitsentzugs sichergestellt. Je länger der
Freiheitsentzug andauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für
die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs. Der nachhaltige
Einfluss des gewichtiger werdenden Freiheitsanspruchs des Betroffenen
stößt jedoch dort an Grenzen, wo es wegen der Art der von ihm
drohenden Gefahren, deren Bedeutung und Wahrscheinlichkeit vor dem
staatlichen Schutzauftrag für die Rechtsgüter des Einzelnen und der
Allgemeinheit unvertretbar erscheint, den Betroffenen in die Freiheit
zu entlassen.
Die Verantwortbarkeit der Vollstreckungsaussetzung unter
Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit schließt
es mit ein, dass ein vertretbares Restrisiko eingegangen wird. Die
Vertretbarkeit des Restrisikos ist dabei nicht allein von den im
Falle eines Rückfalls bedrohten Rechtsgütern abhängig, sondern auch
vom Grad der Wahrscheinlichkeit erneuter Straffälligkeit. Auch bei
schweren Gewalt- oder Sexualdelikten steht aber die bloße
theoretische Möglichkeit eines Rückfalls, die angesichts der
Begrenztheit jeder Prognosemöglichkeit nie sicher auszuschließen ist,
der Aussetzung nicht von vorne herein entgegen. Vielmehr ist die
Ablehnungsentscheidung durch konkrete Tatsachen zu belegen, die das
Risiko als unvertretbar erscheinen lassen. Auf der anderen Seite
verlangt die zu treffende Prognose die Verantwortbarkeit der
Aussetzung mit Rücksicht auf unter Umständen zu erwartende
Rückfalltaten. Bei Straftaten, die wie der Mord mit lebenslanger
Freiheitsstrafe bedroht sind, kommt dem Sicherungsbedürfnis der
Allgemeinheit naturgemäß eine besonders hohe Bedeutung zu. Daher
kommt hier wegen der Art der im Versagensfall zu befürchtenden Taten
eine bedingte Entlassung aus der lebenslangen Freiheitsstrafe nur
unter strengen Voraussetzungen in Betracht. Bestehen konkrete
Anhaltspunkte dafür, dass der Verurteilte ein neues schweres
Verbrechen begehen werde, so kommt eine Aussetzung nicht in Betracht.
2. Das zunehmende Gewicht des Freiheitsanspruchs bei sehr lang dauerndem
Freiheitsentzugwirkt sich auf die verfahrensrechtlichen Anforderungen
an die Entscheidung über die Aussetzung der lebenslangen
Freiheitsstrafe aus.
a) Wegen der zeitlichen Unbestimmtheit bedarf es einer regelmäßigen
Überprüfung der weiteren Vollstreckung einer lebenslangen
Freiheitsstrafe. Nach der gegenwärtigen gesetzlichen Regelung
haben Staatsanwaltschaft und Verurteilter die Möglichkeit,
jederzeit die bedingte Entlassung aus der lebenslangen
Freiheitsstrafe zu beantragen.
b) Die Voraussetzungen der Aussetzung sind frühzeitig zu prüfen, um
Raum für eine sachgerechte Entlassungsvorbereitung zu geben.
Vollzugslockerungen kommt in diesem Zusammenhang eine besondere
Bedeutung zu. Für den Richter erweitert und stabilisiert sich die
Basis der prognostischen Beurteilung, wenn dem Gefangenen zuvor
Vollzugslockerungen gewährt worden sind.
c) Je länger der Freiheitsentzug dauert, desto höher sind die
Anforderungen an die Sachaufklärung durch die Gerichte. Im Rahmen
des unbefristet wirkenden Freiheitsentzugs gebietet das Gebot der
bestmöglichen Sachaufklärung, einen erfahrenen Sachverständigen zu
Rate zu ziehen, der die richterliche Prognose durch ein
hinreichend substantiiertes und zeitnahes Gutachten vorbereitet.
d) Darüber hinaus wachsen die Anforderungen an die Begründung der
richterlichen Entscheidung. Der Richter darf sich nicht mit
allgemeinen Wendungen begnügen, sondern muss seine Bewertung
substantiiert offen legen. Zudem ist dem Verurteilten im Regelfall
ein Pflichtverteidiger beizuordnen.
e) Wird der Freiheitsentzug im Wesentlichen mit dem
Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit begründet, ist zu prüfen,
ob den besonderen Belastungen des lang andauernden
Freiheitsentzuges durch einen privilegierten Vollzug Rechnung
getragen werden kann. Insbesondere in Fällen, in denen der
Freiheitsentzug schon über Jahrzehnte andauert, dienen Privilegien
im Strafvollzug dazu, dem Verurteilten einen Rest an
Lebensqualität zu gewährleisten.
3. Die von den Beschwerdeführern angegriffenen Beschlüsse werden den
dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen gerecht. Sie
verletzen sie nicht in ihrer Menschenwürde, entsprechen dem
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und genügen den verfahrensrechtlichen
Anforderungen, die bei der Entscheidung über die Aussetzung der
lebenslangen Freiheitsstrafe zu beachten sind.
Pressemitteilung Nr. 115/2006 vom 1. Dezember 2006
Zum Beschluss vom 8. November 2006 – 2 BvR 578/02; 2 BvR 796/02 –