BVerfG: Europäisches Haftbefehlsgesetz nichtig

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit Urteil vom 18. Juli 2005 das Europäische
Haftbefehlsgesetz für nichtig erklärt. Das Gesetz greife unverhältnismäßig in die Auslieferungsfreiheit (Art.
16 Abs. 2 GG) ein, da der Gesetzgeber die ihm durch den Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl
eröffneten Spielräume nicht für eine möglichst grundrechtsschonende Umsetzung des Rahmenbeschlusses
in nationales Recht ausgeschöpft habe. Zudem verstoße das Europäische Haftbefehlsgesetz
aufgrund der fehlenden Anfechtbarkeit der (Auslieferungs-) Bewilligungsentscheidung gegen die Rechtsweggarantie
(Art. 19 Abs. 4 GG). Solange der Gesetzgeber kein neues Ausführungsgesetz zu Art. 16
Abs. 2 Satz 2 GG erlässt, ist die Auslieferung eines deutschen Staatsangehörigen daher nicht möglich.
Damit war die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers, der auf Grund eines Europäischen
Haftbefehls zur Strafverfolgung an Spanien ausgeliefert werden soll (Pressemitteilung Nr. 20/2005 vom
24. Februar 2005), erfolgreich. Der Beschluss des Oberlandesgerichts und die Bewilligungsentscheidung
der Justizbehörde wurden aufgehoben.

Der Richter Broß, der die Entscheidung im Ergebnis mitträgt, der Richter Gerhardt und die Richterin
Lübbe-Wolff haben der Entscheidung jeweils eine abweichende Meinung angefügt.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu
Grunde:

1. Das Europäische Haftbefehlsgesetz verstößt gegen Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG (Auslieferungsverbot),
weil der Gesetzgeber bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl die
Anforderungen des qualifizierten Gesetzesvorbehalts aus Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG nicht erfüllt hat.
Grundlage des Verbots der Auslieferung Deutscher ist Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG. Das Grundrecht gewährleistet
die besondere Verbindung der Bürger zu der von ihnen getragenen Rechtsordnung. Der Beziehung
des Bürgers zu einem freiheitlichen demokratischen Gemeinwesen entspricht es, dass der Bürger
von dieser Vereinigung grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden kann. Der Schutz deutscher Staatsangehöriger vor Auslieferung kann allerdings nach Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG unter bestimmten Voraussetzungen
durch Gesetz eingeschränkt werden. Die Einschränkung des Auslieferungsschutzes ist kein Verzicht
auf eine für sich genommen essentielle Staatsaufgabe. Die in der „Dritten Säule„ der Europäischen
Union (polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen) praktizierte Zusammenarbeit in Form
einer begrenzten gegenseitigen Anerkennung ist gerade auch mit Blick auf den Grundsatz der Subsidiarität
ein Weg, um die nationale Identität und Staatlichkeit in einem einheitlichen europäischen Rechtsraum
zu wahren.

Der Gesetzgeber war beim Erlass des Umsetzungsgesetzes zum Rahmenbeschluss über den Europäischen
Haftbefehl verpflichtet, das Ziel des Rahmenbeschlusses so umzusetzen, dass die Einschränkung
des Grundrechts auf Auslieferungsfreiheit verhältnismäßig ist. Insbesondere hatte er dafür Sorge zu tragen,
dass der Eingriff in den Schutzbereich des Art. 16 Abs. 2 GG schonend erfolgt. Mit dem Auslieferungsverbot
sollen gerade auch die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes für den
von einer Auslieferung betroffenen Deutschen gewahrt werden. Der Grundrechtsberechtigte muss sich
darauf verlassen können, dass sein dem jeweils geltenden Recht entsprechendes Verhalten nicht nachträglich
als rechtswidrig qualifiziert wird. Das Vertrauen in die eigene Rechtsordnung ist dann in besonderer
Weise geschützt, wenn die dem Auslieferungsersuchen zu Grunde liegende Handlung einen maßgeblichen
Inlandsbezug hat. Wer als Deutscher im eigenen Rechtsraum eine Tat begeht, muss grundsätzlich
nicht mit einer Auslieferung an eine andere Staatsgewalt rechnen. Anders fällt die Beurteilung hingegen
aus, wenn die vorgeworfene Tat einen maßgeblichen Auslandsbezug hat. Wer in einer anderen
Rechtsordnung handelt, muss damit rechnen, hier auch zur Verantwortung gezogen zu werden.
Diesem Maßstab wird das Europäische Haftbefehlsgesetz nicht gerecht. Es greift unverhältnismäßig in
die Auslieferungsfreiheit ein. Der Gesetzgeber hat es versäumt, den grundrechtlich besonders geschützten
Belangen deutscher Staatsangehöriger bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses hinreichend Rechnung
zu tragen, insbesondere hat er die durch das Rahmenrecht vorgegebenen Spielräume nicht ausgeschöpft.
Er hätte eine grundrechtsschonendere Umsetzung wählen können, ohne gegen die bindenden Ziele des
Rahmenbeschlusses zu verstoßen. So etwa erlaubt der Rahmenbeschluss den vollstreckenden Justizbehörden,
die Vollstreckung des Haftbefehls zu verweigern, wenn er sich auf Straftaten erstreckt, die im
Hoheitsgebiet des ersuchten Mitgliedstaates begangen worden sind. Für solche Taten mit maßgeblichem Inlandsbezug hätte der Gesetzgeber die Möglichkeit schaffen müssen, die Auslieferung Deutscher zu
verweigern. Darüber hinaus weist das Haftbefehlsgesetz eine Schutzlücke hinsichtlich der Möglichkeit
auf, die Auslieferung wegen eines in gleicher Sache im Inland laufenden strafrechtlichen Verfahrens oder
deshalb abzulehnen, weil ein inländisches Verfahren eingestellt oder schon die Einleitung abgelehnt worden
ist. In diesem Zusammenhang hätte der Gesetzgeber die Regelungen der Strafprozessordnung daraufhin
überprüfen müssen, ob Entscheidungen der Staatsanwaltschaft, von einer Strafverfolgung abzusehen,
im Hinblick auf eine mögliche Auslieferung gerichtlich überprüfbar sein müssen. Die Defizite der
gesetzlichen Regelung werden auch nicht dadurch hinreichend kompensiert, dass die Regelungen des
Europäischen Haftbefehlsgesetzes die Verbüßung einer im Ausland verhängten Freiheitsstrafe im Heimatstaat
vorsehen. Dies ist zwar grundsätzlich eine Schutzmaßnahme für die eigenen Staatsbürger, aber
sie betrifft lediglich die Verbüßung der Strafe und nicht bereits die Strafverfolgung.

2. Durch den Ausschluss des Rechtsweges gegen die Bewilligung einer Auslieferung in einen Mitgliedstaat
der Europäischen Union verstößt das Europäische Haftbefehlsgesetz gegen Art. 19 Abs. 4 GG
(Rechtsweggarantie).

Das Europäische Haftbefehlsgesetz übernimmt teilweise die im Rahmenbeschluss vorgesehenen Gründe,
aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann. Dabei hat sich der
deutsche Gesetzgeber im Wesentlichen für eine Ermessenslösung entschieden. Die Ergänzung des Bewilligungsverfahrens
um benannte Ablehnungsgründe führt dazu, dass die Bewilligungsbehörde bei Auslieferungen
in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht mehr nur über außen- und allgemeinpolitische
Aspekte des Auslieferungsersuchens entscheidet, sondern in einen Abwägungsprozess eintreten muss,
der insbesondere die Strafverfolgung im Heimatstaat zum Gegenstand hat. Die Anreicherung des Bewilligungsverfahrens
um weitere ermessensgebundene Tatbestände bewirkt eine qualitative Veränderung der
Bewilligung. Die zu treffende Abwägungsentscheidung dient dem Schutz der Grundrechte des Verfolgten
und darf richterlicher Prüfung nicht entzogen werden.

3. Das Europäische Haftbefehlsgesetz ist nichtig. Der Gesetzgeber wird die Gründe für die Unzulässigkeit
der Auslieferung Deutscher neu zu fassen haben und die Einzelfallentscheidung über die Auslieferung als abwägenden Vorgang der Rechtsanwendung ausgestalten. Des Weiteren sind Änderungen bei der
Ausgestaltung der Bewilligungsentscheidung und ihres Verhältnisses zur Zulässigkeit notwendig.
Solange der Gesetzgeber kein neues Ausführungsgesetz zu Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG erlässt, ist die
Auslieferung eines deutschen Staatsangehörigen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht
möglich. Im Übrigen können Auslieferungen auf der Grundlage des Gesetzes über die Internationale
Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) in der Fassung vor dem Inkrafttreten des Europäischen Haftbefehlsgesetzes
erfolgen.

Zum Sondervotum des Richters Broß

Richter Broß folgt der Senatsmehrheit im Ergebnis, nicht aber in der Begründung. Das Europäische
Haftbefehlsgesetz sei bereits deshalb nichtig, weil es nicht dem Subsidiaritätsprinzip (Art. 23 Abs. 1 Satz
1 GG) Rechnung trage. Eine Auslieferung deutscher Staatsangehöriger komme nur insoweit in Betracht,
als eine Verwirklichung des staatlichen Strafverfolgungsanspruchs im Inland aus tatsächlichen Gründen
im konkreten Einzelfall zum Scheitern verurteilt wäre. Nur dann sei der Weg für eine Aufgabenwahrnehmung
durch die nächsthöhere Ebene – die Mitgliedstaaten der Europäischen Union – frei. Der Senat
verkenne die Bedeutung und Tragweite des Grundsatzes der Subsidiarität und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit,
wenn er es für statthaft erachtet, bei Straftaten mit maßgeblichem Auslandsbezug eine
Auslieferung deutscher Staatsangehöriger ohne jede materielle Einschränkung vorzusehen. Das Vertrauen
des Verfolgten in die eigene Rechtsordnung sei gerade auch dann in besonderer Weise geschützt,
wenn die dem Auslieferungsersuchen zu Grunde liegende Handlung maßgeblichen Auslandsbezug aufweist.
Vor allem hier müssten sich die Schutzpflicht des Staates und der Grundsatz der Subsidiarität beweisen
– nicht erst bei Straftaten mit maßgeblichem Inlandsbezug.

Zum Sondervotum der Richterin Lübbe-Wolff

Die Richterin Lübbe-Wolff teilt die Auffassung der Senatsmehrheit, dass das Europäische Haftbefehlsgesetz
den Grundrechten potentiell Betroffener nicht hinreichend Rechnung trägt, folgt aber Teilen der Begründung
und dem Rechtsfolgenausspruch nicht. Um Verfassungsverstöße auszuschließen, hätte die
Feststellung genügt, dass für bestimmte näher bezeichnete Fälle Auslieferungen auf der Grundlage des
Gesetzes bis zum Inkrafttreten einer verfassungskonformen Neuregelung nicht zulässig sind. Mit der
Nichtigerklärung des Gesetzes werde dagegen die Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls auch in verfassungsrechtlich völlig unproblematischen Fällen ausgeschlossen – beispielsweise sogar die
Auslieferung von Staatsangehörigen des ersuchenden Staates wegen in diesem Staat begangener Taten.
Die Bundesrepublik Deutschland werde so zu Verstößen gegen das Unionsrecht gezwungen, die ohne
Verfassungsverstoß hätten vermieden werden können. Auf der Grundlage des gebotenen engeren
Rechtsfolgenausspruchs müsste auch die nun fällige erneute Entscheidung des Oberlandesgerichts nicht
notwendigerweise zugunsten des Beschwerdeführers ausfallen. Denn ob der Fall des Beschwerdeführers
zu einer der Fallgruppen gehöre, für die die Regelungen des Europäischen Haftbefehlsgesetzes unzureichend
sind, sei bislang nicht geklärt.

Zum Sondervotum des Richters Gerhardt

Nach Auffassung des Richters Gerhardt wäre die Verfassungsbeschwerde zurückzuweisen gewesen.
Die Nichtigerklärung des Europäischen Haftbefehlsgesetzes stehe mit dem verfassungs- und unionsrechtlichen
Gebot, Verletzungen des Vertrags über die Europäische Union möglichst zu vermeiden, nicht im
Einklang. Der Senat setze sich in Widerspruch zur Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen
Gemeinschaften, der in seinem Pupino-Urteil vom 16. Juni 2005 den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit
der Mitgliedstaaten bei der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen auch und gerade für die
Umsetzung von Rahmenbeschlüssen hervorgehoben habe. Die mit dem Auslieferungsverbot des Grundgesetzes
verfolgten Schutzziele würden durch den Rahmenbeschluss und das Europäische Haftbefehlsgesetz
erreicht. Der für die Auslegung des Rahmenbeschlusses zuständige Europäische Gerichtshof werde
der Durchsetzung einer exzessiven Strafgesetzgebung eines Mitgliedsstaates entgegentreten. Das Europäische
Haftbefehlsgesetz ermögliche es, die Auslieferung in den Fällen abzulehnen, in denen die Durchführung
eines Strafverfahrens im Ausland den Betroffenen unverhältnismäßig belaste. Auch wenn die
verfassungsrechtlich gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung im Gesetz nicht ausdrücklich erwähnt sei,
bestehe nach der entsprechenden Klarstellung durch das Bundesverfassungsgericht kein Anlass für die
Annahme, dass Behörden und Gerichte ihre selbstverständliche Pflicht zur Beachtung dieses Gebots
missachteten. Ein Rechtsschutzdefizit liege nicht vor.

Urteil vom 18. Juli 2005 – 2 BvR 2236 /04 –

Karlsruhe, den 18. Juli 2005