BVerfG: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Sitzungshaftbefehl

Gegen die Beschwerdeführerin war vor dem Amtsgericht ein Strafverfahren
wegen uneidlicher Falschaussage anhängig. Nachdem bereits eine
Hauptverhandlung stattgefunden hatte, bestimmte das Amtsgericht neuen
Termin auf den 21. Dezember 2005. Ein Verlegungsgesuch des Verteidigers,
der darauf hinwies, dass die Beschwerdeführerin an diesem Tag an einer
von ihrer Krankenkasse genehmigten Kur im Bayerischen Wald teilnehme,
lehnte das Amtsgericht ab.

Um an dem Kurs jedenfalls teilweise teilzunehmen, begab sich die
Beschwerdeführerin am 19. Dezember 2005 in den Bayerischen Wald. Am
Morgen des 21. Dezember 2005 teilte sie der Geschäftsstelle des
Amtsgerichts telefonisch mit, sie sei „eingeschneit„ und könne daher in
der Hauptverhandlung nicht erscheinen. Daraufhin erließ das Amtsgericht
in der Hauptverhandlung gegen die Beschwerdeführerin einen Haftbefehl
(„Sitzungshaftbefehl„ gem. § 230 Abs. 2 Strafprozessordnung; dieser
setzt nur voraus, dass der Angeklagte der Hauptverhandlung unentschuldigt fernbleibt). Aufgrund dieses Haftbefehls wurde die
Beschwerdeführerin an einem Freitag im Januar 2006 verhaftet. In der
zehn Tage später anberaumten Hauptverhandlung wurde die aus der Haft
vorgeführte Beschwerdeführerin freigesprochen und der Haftbefehl
aufgehoben.

Rechtsmittel der Beschwerdeführerin gegen den Haftbefehl wurden vom
Oberlandesgericht verworfen, da die Beschwerdeführerin der Hauptverhandlung unentschuldigt ferngeblieben sei. Ihre hiergegen
gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Die 1. Kammer des Zweiten
Senats des Bundesverfassungsgerichts hob den Beschluss des Oberlandesgerichts auf, da er die Beschwerdeführerin in ihrem
Freiheitsgrundrecht verletze. Das Oberlandesgericht habe die
Verhältnismäßigkeit des Haftbefehls nur unzureichend geprüft. Die Sache
wurde zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Das Oberlandesgericht hat die Erwartung, dass die Beschwerdeführerin zu
künftigen Hauptverhandlungsterminen nicht erscheinen werde, zunächst
damit begründet, dass sie trotz des in jener Woche anstehenden
Hauptverhandlungstermins ihre Kur im Bayerischen Wald angetreten habe.
Dabei übersieht das Oberlandesgericht, dass die Beschwerdeführerin nicht
verpflichtet war, wegen der anstehenden Hauptverhandlung gänzlich von
dieser Kur Abstand zu nehmen, zumal bei Nichtteilnahme eine Gebühr von
69 € zu entrichten war. Die Vermutung, dass sie von vornherein
beabsichtigt habe, der Verhandlung fernzubleiben, ist nicht belegt;
dagegen spricht eine vom Verteidiger vorgelegte Bescheinigung der
Gemeinde über schneebedingte Verkehrsbehinderungen.

Außerdem hat das Oberlandesgericht wesentliche Gesichtspunkte nicht
gewürdigt, welche die Bereitschaft der Beschwerdeführerin, an weiteren
Hauptverhandlungsterminen teilzunehmen, nahe legten. So hat sich das
Oberlandesgericht nicht mit der Anwesenheit der Beschwerdeführerin in
der früheren Hauptverhandlung auseinandergesetzt. Anlass zur Erörterung
hätte hier umso mehr bestanden, als sich die Beweislage in jener
Hauptverhandlung offenbar zu Gunsten der Beschwerdeführerin verändert
hatte und sie im neuerlichen Termin mit einem Freispruch rechnen konnte.
Darüber hinaus hat sich das Oberlandesgericht auch nicht damit
auseinandergesetzt, dass das Amtsgericht noch am 22. Dezember 2005 um
eine – ersichtlich unverhältnismäßige – Vollstreckung des Haftbefehls
ersucht hatte, obwohl die Weihnachtstage bevorstanden und die
Durchführung einer Hauptverhandlung nicht absehbar war. Das
Oberlandesgericht hätte ferner die Möglichkeit eines Vorführbefehls
(hier wird der Beschuldigte erst am Tag der Hauptverhandlung in
Polizeigewahrsam genommen und dem Gericht vorgeführt) als milderes
Mittel näher in Betracht ziehen müssen. Schließlich bedurfte auch die
Dauer der Inhaftierung näherer Prüfung. Warum es hier erforderlich
gewesen sein soll, die Beschwerdeführerin noch vor dem Wochenende zu
verhaften und die Haft auf zehn Tage zu erstrecken, ist nicht dargelegt
und erschließt sich auch nicht aus sonstigen Umständen.

Pressemitteilung Nr. 114/2006 vom 29. November 2006

Zum Beschluss vom 27. Oktober 2006 – 2 BvR 473/06 –