Der Beschwerdeführer befindet sich wegen des Verdachts des sexuellen
Missbrauchs von Kindern seit Juni 2006 – mit einer Unterbrechung von
rund sechs Monaten – in Untersuchungshaft. Die Anklage wurde im Oktober
2006 zur Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht zugelassen. Nachdem der
Beschwerdeführer methodische Mängel des eingeholten
aussagepsychologischen Gutachtens gerügt hatte, setzte das Amtsgericht
Ende November 2006 den Haftbefehl außer Vollzug und holte die
Stellungnahme einer weiteren Sachverständigen ein, die dem Gericht im
Dezember 2006 vorlag. Mitte Mai 2007 wurde der Haftbefehl wieder in
Vollzug gesetzt. Ab Juli 2007 fand die Hauptverhandlung statt. Im
September 2007 wurde der Beschwerdeführer wegen sexuellen Missbrauchs
von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten
verurteilt. Hiergegen legten der Beschwerdeführer und die
Staatsanwaltschaft Berufung ein. Nach Einholung eines
Sachverständigengutachtens setzte das Landgericht mehrere
Verhandlungstermine für Juni 2008 fest.
Einen Ende Januar 2008 gestellten Haftprüfungsantrag des
Beschwerdeführers wiesen das Landgericht und das Oberlandesgericht
zurück. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.
Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts stellte
fest, dass die Entscheidungen des Landgerichts und des
Oberlandesgerichts den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht
verletzen. Die Sache wurde an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Die angegriffenen Entscheidungen lassen die gebotene Abwägung zwischen
dem Freiheitsanspruch des Beschuldigten und dem staatlichen
Strafverfolgungsanspruch nicht erkennen. Sie gehen weder auf den
Verfahrensablauf noch auf mögliche Verzögerungen sowie deren Ursachen
ein. Bei der erneuten Abwägung wird das Oberlandesgericht zu
berücksichtigen haben, dass der Vollzug der Untersuchungshaft von mehr
als einem Jahr nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu rechtfertigen
ist. Zwar hat sich mit der (noch nicht rechtskräftigen) Verurteilung
des Beschwerdeführers durch das Amtsgericht das Gewicht des staatlichen
Strafanspruchs vergrößert, da auf der Grundlage eines gerichtlichen
Verfahrens bereits ein Schuldnachweis gelungen ist. Das rechtfertigt es
aber grundsätzlich nicht, einen Verurteilten bis zum Zeitpunkt der
Vollverbüßung der ausgesprochenen Strafe in Untersuchungshaft zu
halten. Dem steht schon der Resozialisierungszweck der Strafe entgegen;
denn wird die verhängte Freiheitsstrafe durch Anrechnung der
Untersuchungshaft zum überwiegenden Teil oder gar vollständig verbüßt,
so können die im Rahmen des Vollzugs der Strafhaft möglichen Maßnahmen
zur Resozialisierung nur in geringem Ausmaß oder überhaupt keine
Wirkung entfalten. Das Oberlandesgericht hat daher in seine
Abwägungsentscheidung den noch konkret zu erwartenden Strafrest
einzubeziehen. Dabei wird es auch eine mögliche Aussetzung des
Strafrestes zur Bewährung zu berücksichtigen haben, zumal der
Beschwerdeführer zuvor nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten
ist.
Hinzukommt, dass im Hinblick auf die Verfahrensdauer die
Verfahrensbehandlung vor dem Amtsgericht Bedenken begegnet. Dem
Beschleunigungsgebot ist – sofern nicht besondere Umstände vorliegen –
nur dann Genüge getan, wenn innerhalb von drei Monaten nach Eröffnung
des Hauptverfahrens mit der Hauptverhandlung begonnen wird. Das
Oberlandesgericht wird deshalb im Einzelnen zu erwägen haben, ob die
Verschiebung der Hauptverhandlung vom ursprünglich vorgesehenen Termin
Anfang Dezember 2006 auf Juli 2007 gerechtfertigt war. Es wird zu
berücksichtigen haben, dass in der Zeit von Ende Dezember 2006 bis Ende
März 2007 keine verfahrensfördernden Handlungen vorgenommen wurden.
Pressemitteilung Nr. 65/2008 vom 20. Juni 2008
Beschluss vom 11. Juni 2008 – 2 BvR 806/08 –