BVerfG: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Aufhebung eines Haftverschonungsbeschlusses durch das Oberlandesgericht

Legt ein Beschuldigter gegen einen außer Vollzug gesetzten Haftbefehl (Haftverschonungsbeschluss)
Beschwerde ein mit dem Ziel, den Haftbefehl zu beseitigen, darf das Rechtsmittelgericht die vom Ausgangsgericht
gewährte Haftverschonung nur widerrufen, wenn sich die Umstände verändert haben. Dies
entschied die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts. Damit war die Verfassungsbeschwerde
eines Beschwerdeführers, der sich gegen die Aufhebung eines Haftverschonungsbeschlusses
durch das Oberlandesgericht wandte, erfolgreich.

Sachverhalt:

Dem Beschwerdeführer liegt gemeinschaftlicher Betrug mit Urkundenfälschung zur Last. Gegen ihn wurde
deshalb ein auf den Haftgrund der Flucht gestützter Haftbefehl erlassen. Der Haftbefehl wurde später
vom Landgericht unter Auflagen außer Vollzug gesetzt und der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen.
Dabei ging das Landgericht davon aus, dass der Beschwerdeführer nicht flüchtig gewesen sei. Allerdings
hielt es den Haftgrund der Fluchtgefahr für gegeben. In Anbetracht der zurzeit jedoch noch
nicht bezifferbaren mutmaßlichen Schadenshöhe erschien der Kammer die Fluchtgefahr aber nicht derart
hoch, dass ihr nicht durch mildere Maßnahmen als den Vollzug von Untersuchungshaft begegnet werden
konnte. Hiergegen erhob der Beschwerdeführer weitere Beschwerde mit dem Ziel, nunmehr auch noch
die Aufhebung des außer Vollzug gesetzten Haftbefehls zu erreichen.
Das Oberlandesgericht hob den Haftverschonungsbeschluss des Landgerichts auf und setzte den Haftbefehl
wieder in Vollzug. Zur Begründung führte es an, dass das Verhalten des Beschwerdeführers darauf hindeute, dass er seinen tatsächlichen Aufenthalt in der Vergangenheit gezielt verschleiert habe, um
sich dem weiteren Verfahren, jedenfalls aber der zu erwartenden Strafverbüßung zu entziehen.
Die gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts gerichtete Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers
hatte Erfolg. Das Bundesverfassungsgericht ordnete die unverzügliche Haftentlassung des Beschuldigten
an.

§ 116 Strafprozessordnung hat, soweit für die Entscheidung von Bedeutung, folgenden Wortlaut:
§ 116. (Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls)

(1) Der Richter setzt den Vollzug eines Haftbefehls, der lediglich wegen Fluchtgefahr
gerechtfertigt ist, aus, wenn weniger einschneidende Maßnahmen die Erwartung hinreichend
begründen, dass der Zweck der Untersuchungshaft auch durch sie erreicht werden
kann…

(2) …

(3) …

(4) Der Richter ordnet in den Fällen der Absätze 1 bis 3 den Vollzug des Haftbefehls an, wenn
1. der Beschuldigte den ihm auferlegten Pflichten oder Beschränkungen gröblich zuwiderhandelt,
2. der Beschuldigte Anstalten zur Flucht trifft, auf ordnungsgemäße Ladung ohne genügende
Entschuldigung ausbleibt oder sich auf andere Weise zeigt, dass das in
ihn gesetzte Vertrauen nicht gerechtfertigt war, oder

3. neu hervorgehende Umstände die Verhaftung erforderlich machen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Nach § 116 Abs. 4 StPO darf die Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls nur dann widerrufen werden,
wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurteilungsgrundlage zur Zeit der Gewährung der
Haftverschonung verändert haben. Dieses Gebot gehört zu den bedeutsamsten (Verfahrens-) Garantien,
deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht.
Ist ein Haftbefehl einmal unangefochten außer Vollzug gesetzt worden, so ist jede neue haftrechtliche
Entscheidung, die den Wegfall der Haftverschonung zur Folge hat, nur unter den einschränkenden Vor-
aussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO möglich. Eine Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls kommt
danach nur dann in Betracht, wenn der Beschuldigte den ihm auferlegten Pflichten oder Beschränkungen
gröblich zuwider handelt, wenn er Anstalten zur Flucht trifft, auf ordnungsgemäße Ladung ohne Entschuldigung
ausbleibt, oder wenn andere Umstände ergeben, dass das in ihn gesetzte Vertrauen nicht
gerechtfertigt war, oder wenn schließlich neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich
machen. Eine lediglich andere Beurteilung bei im Übrigen gleich bleibenden Umständen kann dagegen
den Widerruf nicht rechtfertigen.

Diese Grundsätze gelten auch im Beschwerdeverfahren für den Fall, dass nur der Beschuldigte Beschwerde
einlegt, um eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit des außer Vollzug gesetzten Haftbefehls zu
erreichen. In diesem Fall ist das Rechtsmittelgericht an die Beurteilung der Voraussetzungen der Außervollzugsetzung
durch das Ausgangsgericht gebunden und kann seine Beurteilung, sofern keine Änderung
der Umstände vorliegt, nicht an die Stelle derjenigen des sachnäheren Ausgangsgerichts setzen. Eine
eigene Beurteilungskompetenz ist dem Beschwerdegericht in diesen Fällen nur dann eröffnet, wenn sich
die Umstände inzwischen verändert haben und demzufolge die Sperrwirkung des § 116 Abs. 4 StPO
nicht mehr greift.

Im übrigen wäre auch das Recht des Beschuldigten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren verletzt,
wenn der Adressat eines Haftverschonungsbeschlusses von einer Überprüfung der Rechtmäßigkeit des
zugrunde liegenden Haftbefehls abgehalten würde, nur weil er damit rechnen müsste, dass das Beschwerdegericht
die gewährte Vergünstigung aufhebt, obwohl die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4
SPO nicht vorliegen.

Das Oberlandesgericht hat nicht festgestellt, dass eine Veränderung der Umstände vorliegt. Es hat sich
jedoch gleichwohl berechtigt gesehen, den Haftbefehl wieder in Vollzug zu setzen. Dies ist mit den aus
Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG folgenden verfassungsrechtlichen Vorgaben
unvereinbar.