BVerfG: Erfolgreiche VB gegen Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft

Der mehrfach vorbestrafte Beschwerdeführer verbüßte eine gegen ihn wegen gemeinschaftlichen Raubes
verhängte Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten. Das Ende der Strafhaft war für den 12.
September 2005 notiert. Im Februar 2005 erhob die Staatsanwaltschaft gegen den Beschwerdeführer
eine weitere Anklage wegen des Verdachts zahlreicher Betrugshandlungen mit EC-Karten und beantragte
den Erlass eines Haftbefehls. Das Landgericht ließ im August 2005 die Anklage im Wesentlichen zu
und erließ den beantragten Haftbefehl. Die Untersuchungshaft wurde nach Ende der Strafhaft ab 13.
September 2005 vollzogen. Die zunächst für November 2005 festgesetzten Hauptverhandlungstermine
hob das Landgericht unter Hinweis auf eine Überlastung wieder auf und bestimmte neuen Termin für
März 2006. Der Haftprüfungsantrag des Beschwerdeführers blieb vor dem Landgericht und dem Oberlandesgericht
ohne Erfolg.

Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers, mit der er sich gegen die Aufrechterhaltung der
Untersuchungshaft wandte, war erfolgreich. Die 3. Kammer des Zweiten Senats stellte fest, dass die
angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts den Beschwerdeführer in seinem
Freiheitsgrundrecht verletzten, da dem in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebot nicht hinreichend
Rechnung getragen worden sei. Die Sache wurde an das Oberlandesgericht zu erneuter Entscheidung
zurückverwiesen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Das Landgericht und das Oberlandesgericht haben den Verfahrensablauf nicht hinreichend analysiert.
Während das Landgericht die zwischenzeitlich erfolgte Terminsaufhebung nicht erwähnt, weist das Oberlandesgericht
pauschal darauf hin, dass mit der Durchführung der Hauptverhandlung noch vor der
gesetzlich vorgesehenen Sechs-Monats-Frist gerechnet werden könne, weshalb eine für den Beschwerdeführer
unzumutbare Verfahrensverzögerung nicht vorliege (Anm.: die Strafprozessordnung sieht vor,
dass die Untersuchungshaft nur ausnahmsweise über sechs Monate fortdauern darf). Diese Begründung
legt nahe, dass das Oberlandesgericht einer vor dem Ablauf der Sechs-Monats-Frist eingetretenen Verfahrensverzögerung
schon grundsätzlich keine Bedeutung beimessen will. Eine derartige Auffassung widerspricht
jedoch dem Beschleunigungsgebot. Die gesetzlich vorgesehene Sechs-Monats-Frist stellt nur
eine Höchstgrenze dar. Aus dieser Vorschrift kann nicht der Schluss gezogen werden, dass das Strafverfahren
bis zu diesem Zeitpunkt nicht dem Beschleunigungsgebot gemäß geführt werden müsse. Vielmehr
gilt auch vor diesem Zeitpunkt der Grundsatz, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte
alle möglichen zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen haben, um die notwendigen Ermittlungen mit der
gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten
vorgeworfenen Taten herbeizuführen.

Darüber hinaus lässt die Begründung nicht erkennen, ob das Oberlandesgericht überhaupt geprüft hat,
ob und gegebenenfalls in welchem Umfang Verfahrensverzögerungen eingetreten sind. In diesem Zusammenhang
wird das Gericht sich mit der Tatsache auseinandersetzen müssen, dass es auf Grund der
Terminsverlegung zu einer Verzögerung von vier Monaten gekommen ist und dass seit Beginn des Vollzugs
der Untersuchungshaft nach hiesigem Erkenntnisstand keine angemessene Verfahrensförderung
festgestellt werden kann. Es wird auch darauf einzugehen sein, dass über die Eröffnung des Hauptverfahrens
erst im August 2005 entschieden worden ist, obwohl die Anklageschrift bereits im Februar 2005
bei dem Landgericht eingegangen war. Der Gesichtspunkt, dass sich der Beschwerdeführer bis zum 12.
September 2005 in Strafhaft befand, bietet keinen Grund zu einer Rechtfertigung des festgestellten Verfahrensablaufs.
Auch im Falle einer Überlastung einer Strafkammer ist es nicht angängig, eine Strafsache
zunächst hintan zu stellen und sie nicht angemessen zu fördern, weil sich der Angeklagte noch in einer
anderen Sache in Strafhaft befindet.

Der Geltung des Beschleunigungsgrundsatzes kann sich ein Gericht auch nicht dadurch entziehen, dass es
mit der Entscheidung über den Erlass des beantragten Haftbefehls zuwartet. Hätte das Landgericht den
Haftbefehl zeitnah erlassen, wäre das in Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot zum Tragen gekommen.
Dieses ist auch dann zu beachten, wenn ein Haftbefehl wegen einer Strafhaft in anderer Sache nicht
vollzogen wird, sondern lediglich Überhaft vermerkt ist. Dem kann sich ein Gericht durch ein Hinausschieben
der Entscheidung über einen Haftbefehlsantrag nicht entziehen.

Nr. 29/2006 vom 6. April 2006

Beschluss vom 4. April 2006

2 BvR 523/06