Die Verfassungsbeschwerde eines Angeklagten, der sich seit über acht Jahren wegen des Verdachts des
Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion mit sechsfachem Mord und zweifachem Mordversuch in Untersuchungshaft
befindet, war erneut erfolgreich. Die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts
stellte fest, dass die angegriffenen Entscheidungen des Oberlandesgerichts und des Landgerichts
den Beschwerdeführer wegen Verletzung des in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebots in
seinem Freiheitsgrundrecht verletzen. Sie wurden zusammen mit dem zu Grunde liegenden Haftbefehl
aufgehoben. Das Oberlandesgericht wurde angewiesen, den Beschwerdeführer unverzüglich aus der
Untersuchungshaft zu entlassen.
Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 2. August 1997 in Untersuchungshaft. Ihm liegt zur Last,
im Juli 1997 vorsätzlich eine Gasexplosion herbeigeführt zu haben, die das dem Beschwerdeführer gehörende
Mietwohnhaus vollständig zerstörte, sechs Hausbewohner tötete und zwei weitere schwer verletzte.
Nach einer Verfahrensdauer von über vier Jahren verurteilte ihn das Landgericht am 16. August 2001
wegen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion mit Todesfolge tateinheitlich mit sechsfachem Mord und
zweifachem Mordversuch zu lebenslanger Freiheitsstrafe.
Auf die Revision des Beschwerdeführers hob der Bundesgerichtshof am 24. Juli 2003 die Entscheidung
des Landgerichts wegen eines Verfahrensfehlers auf. Die Angaben der Zeugin H. vor dem Ermittlungsrichter
hätten nicht im Urteil verwertet werden dürfen, weil der Beschwerdeführer und sein damaliger Verteidiger entgegen den strafprozessualen Bestimmungen nicht von dem Vernehmungstermin benachrichtigt
worden seien. Die Sache wurde zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht
zurückverwiesen. Die neue Verhandlung gegen den Beschwerdeführer hat am 6. Februar 2004 begonnen
und dauert an.
Der Antrag des Beschwerdeführers, den Haftbefehl außer Vollzug zu setzen, blieb vor dem Landgericht
und Oberlandesgericht ohne Erfolg. Auf seine Verfassungsbeschwerde hin hob das Bundesverfassungsgerichts
die Entscheidung des Oberlandesgerichts auf und verwies die Sache zu erneuter Entscheidung
an das Oberlandesgericht zurück (Beschluss vom 23. September 2005 – 2 BvR 1315/05 -; Pressemitteilung
Nr. 94/2005 vom 30. September 2005). Am 8. November 2005 verwarf das Oberlandesgericht
die Haftbeschwerde erneut. Die nochmalige Überprüfung der Verfahrensakten habe keine der Justiz
anzulastenden vermeidbaren Verfahrensverzögerungen ergeben. Die gegen diese Entscheidung gerichtete
Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
Das Oberlandesgericht hat unter Missachtung der Bindungswirkung der vorausgegangenen Kammerentscheidung
vom 23. September 2005 erneut nicht berücksichtigt, dass durch die Aufhebung des erstinstanzlichen
Urteils und die Zurückverweisung der Sache eine dem Staat zuzurechnende Verfahrensverzögerung
schon deshalb vorliegt, weil das ergangene Urteil verfahrensfehlerhaft war.
Dem kann, anders als das Oberlandesgericht meint, nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, dass die
Verfahrensverlängerung aufgrund der Aufhebung des ersten Urteils im Revisionsverfahren Ausprägung
einer rechtsstaatlichen Ausgestaltung des Rechtsmittelsystems sei und deshalb einen Verstoß gegen das
Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht begründen könne. Zwar ist es verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden, die infolge der Durchführung eines Revisionsverfahrens verstrichene Zeit nicht der ermittelten
Überlänge eines Verfahrens hinzuzurechnen. Hiervon ist aber dann eine Ausnahme zu machen, wenn
das Revisionsverfahren der Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers
gedient hat. Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts kommt es nicht darauf an, ob es sich um
einen „eklatanten„ Verfahrensfehler handelt. Maßgebend ist allein, in wessen Sphäre der Verfahrensfehler
wurzelt, in der des Beschwerdeführers oder in der der Justiz. Da vorliegend nur die Justiz von der
bevorstehenden ermittlungsrichterlichen Vernehmung der Zeugin H. Kenntnis hatte, konnte auch nur die
Justiz der Benachrichtigungspflicht genügen. Der aus dem Unterlassen dieser Verpflichtung und der aus
der späteren Verwertung der Aussage des Ermittlungsrichters resultierende Verfahrensfehler ist daher
allein der Justiz anzulasten.
Angesichts der dadurch bedingten Verfahrensverlängerung von nahezu 25 Monaten (von der Einlegung
der Revision gegen das erstinstanzliche Urteil vom 16. August 2001 bis zur Rückkehr der Akte zur
Staatsanwaltschaft nach Abschluss des Revisionsverfahrens am 4. September 2003 gerechnet) kann
auch von einer lediglich kleinen Verzögerung, die entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftaten
eine Fortdauer der Untersuchungshaft noch rechtfertigen könnte, keine Rede mehr sein. Damit ist
allein schon aus diesem Grunde eine Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen gegeben, die
zwingend zur Aufhebung des Haftbefehls wegen Unverhältnismäßigkeit führen muss.
Dessen ungeachtet weist das Verfahren eine Vielzahl weiterer gravierender Verletzungen des Beschleunigungsgebots
in Haftsachen auf, die jede für sich, aber erst recht in ihrer Gesamtheit zur Aufhebung der
Untersuchungshaft zwingen.
Wegen der Einzelheiten wird auf den Entscheidungsinhalt verwiesen.
Pressemitteilung Nr. 121/2005 vom 8. Dezember 2005
Beschluss vom 5. Dezember 2005
2 BvR 1964/05