BGH: Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung aufgehoben

Das Landgericht Passau hat mit Urteil vom 10. Juni 2005 gegen den
Verurteilten gem. § 66 b Abs. 1 StGB die nachträgliche Sicherungsverwahrung
angeordnet und ihn zugleich in die Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus überwiesen.

Der 72jährige Verurteilte leidet seit einer Kopfverletzung in seiner Jugend
an einer organischen Persönlichkeitsstörung; ein Hirnsubstanzdefekt führt
bei ihm zu einem fortschreitenden Persönlichkeitsabbau. Nachdem gegen ihn im
Jahr 1994 eine Bewährungsstrafe wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern
verhängt worden war, verurteilte ihn das Landgericht Passau am 16. März 1999
wegen Vergewaltigung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei
Jahren und sechs Monaten (sog. Anlassverurteilung). Nach den
Urteilsfeststellungen hatte der Verurteilte mit der 12jährigen Tochter
seiner Geliebten gegen deren Widerstand den ungeschützten Geschlechtsverkehr
durchgeführt.

Der Verurteilte verbüßte die verhängte Freiheitsstrafe vollständig. Er
verblieb auch nach Strafende in der Justizvollzugsanstalt, da das
Landgericht Bayreuth mit Beschluss vom 10. April 2002 seine dortige
Unterbringung nach dem Bayerischen Gesetz zur Unterbringung besonders
rückfallgefährdeter Straftäter (BayStrUBG) angeordnet hatte. Nachdem der
Vollzug der Unterbringung im Dezember 2003 für die Dauer eines Jahres
ausgesetzt worden war und der Verurteilte weisungsgemäß Aufenthalt in einem
Seniorenheim genommen hatte, kam es dort im Januar und Februar 2004 zu
mehreren sexuellen Übergriffen auf demente Mitbewohnerinnen. Der
Verurteilte wurde daraufhin erneut in den Unterbringungsvollzug genommen.
Auf seine Verfassungsbeschwerde erklärte das Bundesverfassungsgericht mit
Urteil vom 10. Februar 2004 das BayStrUBG wegen fehlender

Gesetzgebungskompetenz für mit dem Grundgesetz unvereinbar (BVerfGE 109,
190). Der Verurteilte befindet sich nunmehr in einem psychiatrischen
Krankenhaus. Wegen der Vorfälle in dem Seniorenheim ist gegen ihn vor dem
Landgericht Hof auch ein Sicherungsverfahren gem. §§ 413 ff. StPO wegen
sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen anhängig.

Das Landgericht Passau hat mit seiner Anordnung nachträglicher
Sicherungsverwahrung an die Verurteilung vom 16. März 1999 wegen
Vergewaltigung angeknüpft. Als neu hervorgetretene Tatsachen, die die
erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten belegen, hat es gewertet, dass
der Verurteilte während der Haftzeit seine Straftaten geleugnet und
jegliche Sexualtherapie verweigert hat, und er aufgrund des während des
Strafvollzuges fortgeschrittenen hirnorganischen Abbaus nicht in der Lage
ist, Grenzen im Sexualbereich zu erkennen. Die Vorfälle in dem Seniorenheim
spiegelten dies wider. Die zugleich ausgesprochene Überweisung in die
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sei aufgrund des – von
den angehörten Sachverständigen bestätigten – Behandlungsbedarfs des
Verurteilten gerechtfertigt.

Der Bundesgerichtshof hat das Urteil des Landgerichts Passau auf die
Revision des Verurteilten aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung gem. § 66 b StGB setze
neue Tatsachen voraus, die nach der Anlassverurteilung und vor Ende des
Vollzuges der verhängten Freiheitsstrafe bekannt geworden seien. Die
sexuellen Übergriffe des Verurteilten ereigneten sich demgegenüber nicht
während des Strafvollzuges, sondern in einem Seniorenheim; sie hätten daher
außer Betracht zu bleiben. Der Gesetzgeber habe zudem durch eine
Übergangsregelung (Art. 1 a Satz 2 EGStGB) ausdrücklich klargestellt, dass
während der landesrechtlichen Unterbringung hervorgetretene Umstände keine
neuen Tatsachen im Sinne von § 66b StGB darstellen. Hinsichtlich der
verbleibenden Umstände – Therapieverweigerung, Hirnsubstanzdefekt – sei
nicht hinreichend festgestellt, ob und inwieweit diese bereits im Zeitpunkt
der Anlassverurteilung erkennbar gewesen seien. So stelle insbesondere eine
Therapieverweigerung dann keine neue Tatsache dar, wenn der Verurteilte
seine Taten durchgehend bestritten habe, das Ursprungsgericht daher nicht
habe davon ausgehen können, dass er sich einer Therapie unterziehen werde.
Die Überweisung des Verurteilten in die Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus entfalle mit Aufhebung der Anordnung der
nachträglichen Sicherungsverwahrung; sie sei wegen des Fehlens einer
gesetzlichen Grundlage aber auch im Übrigen bedenklich. Wegen der Vorfälle
in dem Seniorenheim werde dem anhängigen Sicherungsverfahren Fortgang zu
geben sein.

Urteil vom 23. März 2006 – 1 StR 476/05

Landgericht Passau – Urteil vom 10. Juni 2005 – KLs 209 Js 8551/98
Karlsruhe, den 23. März 2006

§ 66b StGB Nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der
Sicherungs-verwahrung

(1) Werden nach einer Verurteilung wegen eines Verbrechens gegen das

Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die
sexuelle Selbstbestimmung oder eines Verbrechens nach den §§ 250, 251, auch
in Verbindung mit den §§ 252, 255, oder wegen eines der in § 66 Abs. 3 Satz
1 genannten Vergehen vor Ende des Vollzugs dieser Freiheitsstrafe Tatsachen
erkennbar, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die
Allgemeinheit hinweisen, so kann das Gericht die Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn die Gesamtwürdigung des
Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des
Strafvollzugs ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche
Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich
schwer geschädigt werden, und wenn die übrigen Voraussetzungen des § 66
erfüllt sind.

(2) Werden Tatsachen der in Absatz 1 genannten Art nach einer Verurteilung

zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren wegen eines oder
mehrerer Verbrechen gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die
persönliche Freiheit, die sexuelle Selbstbestimmung oder nach den §§ 250,
251, auch in Verbindung mit § 252 oder § 255, erkennbar, so kann das Gericht
die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn
die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten und
ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, dass er mit
hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche
die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
(3) Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d

Abs. 6 für erledigt erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit
ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung
beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat, so
kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich
anordnen, wenn

1. die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 wegen mehrerer der in § 66
Abs. 3 Satz 1 genannten Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene
wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung
nach § 63 führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Freiheitsstrafe
von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen
Krankenhaus untergebracht worden war und

2. die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner
Entwicklung während des Vollzugs der Maßregel ergibt, dass er mit hoher
Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die
Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.