Die Verfassungsbeschwerde des 18-jährigen Beschwerdeführers, der an einer seltenen, lebensbedrohlichen
Krankheit leidet, gegen die Weigerung der gesetzlichen Krankenversicherung, für die Kosten einer
so genannten neuen Behandlungsmethode aufzukommen, war erfolgreich. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts
hob das angegriffene Urteil des Bundessozialgerichts auf, das eine Leistungspflicht
der Krankenkasse verneinte. Es sei mit der grundgesetzlich garantierten allgemeinen Handlungsfreiheit,
dem Sozialstaatsprinzip und dem Grundrecht auf Leben nicht vereinbar, einen gesetzlich Krankenversicherten,
für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte,
medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer
von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz
entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf
besteht. Die Sache wurde zur erneuten Entscheidung an das Bundessozialgericht zurückverwiesen.
Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer war von 1992 bis 1994 in einer Ersatzkasse als Familienangehöriger versichert.
Er leidet an der Duchenneschen Muskeldystrophie. Diese Krankheit tritt ausschließlich beim männlichen
Geschlecht auf, und zwar mit einer Häufigkeit von 1:3.500. Die Krankheit manifestiert sich in den ersten
Lebensjahren; ihr prognostizierter Verlauf ist fortschreitend. Mit dem Verlust der Gehfähigkeit ist normalerweise
zwischen dem 10. und 12. Lebensjahr zu rechnen; es tritt zunehmend Ateminsuffizienz auf. Die
Krankheit äußert sich auch in Wirbelsäulendeformierungen, Funktions- und Bewegungseinschränkungen
von Gelenken sowie in Herzmuskelerkrankungen. Die Lebenserwartung ist stark eingeschränkt. Üblicherweise wird nur eine symptomorientierte Behandlung durchgeführt. Bislang gibt es keine wissenschaftlich
anerkannte Therapie, die eine Heilung oder eine nachhaltige Verzögerung des Krankheitsverlaufs
bewirken kann.
Seit September 1992 befindet sich der Beschwerdeführer in Behandlung bei einem Facharzt für Allgemeinmedizin.
Bei dieser Behandlung werden neben Thymuspeptiden, Zytoplasma und homöopathischen
Mitteln hochfrequente Schwingungen angewandt. Bis Ende 1994 hatten die Eltern des Beschwerdeführers
dafür einen Betrag von 10.000 DM aufgewandt. Die Ärzte der Orthopädischen Klink der Technischen
Hochschule A. und eine mitbetreuende Ärztin hielten den bisherigen Krankheitsverlauf für günstig.
Seit Herbst 2000 ist der Beschwerdeführer, der eine öffentliche Schule besucht, auf einen Rollstuhl angewiesen.
Der Antrag auf Übernahme der entstandenen Kosten für die Therapie wurde von der Krankenkasse
abgelehnt, da ein Therapieerfolg der angewandten Methoden wissenschaftlich nicht nachgewiesen
sei. Die hiergegen gerichtete Klage blieb in letzter Instanz vor dem Bundessozialgericht ohne Erfolg.
Die Verfassungsbeschwerde war erfolgreich.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Die Entscheidung des Bundessozialgerichts steht nicht im Einklang mit dem Grundgesetz.
Es ist mit Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip
nicht vereinbar, den Einzelnen unter bestimmten Voraussetzungen einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen
Krankenversicherung zu unterwerfen und für seine Beiträge die notwendige Krankheitsbehandlung
gesetzlich zuzusagen, ihn andererseits aber, wenn er an einer lebensbedrohlichen oder sogar
regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen,
von der Leistung einer bestimmten Behandlungsmethode auszuschließen und ihn auf eine Finanzierung
der Behandlung außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung zu verweisen. Dabei muss allerdings
die vom Versicherten gewählte Behandlungsmethode eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung
oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen. Für die Behandlung
der Duchenneschen Muskeldystrophie steht gegenwärtig allein ein symptomatisches Therapiespektrum
zur Verfügung. Eine unmittelbare Einwirkung auf die Krankheit und ihren Verlauf mit gesicherten
wissenschaftlichen Methoden ist noch nicht möglich.
Die angegriffene Auslegung der leistungsrechtlichen Vorschriften des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
durch das Bundessozialgericht ist in der extremen Situation einer krankheitsbedingten Lebensgefahr auch
nicht mit der Schutzpflicht des Staates für das Leben zu vereinbaren. Übernimmt der Staat mit dem System
der gesetzlichen Krankenversicherung Verantwortung für Leben und körperliche Unversehrtheit der
Versicherten, so gehört die Vorsorge in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung
unter den genannten Voraussetzungen zum Kernbereich der Leistungspflicht und der von
Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geforderten Mindestversorgung.
In derartigen Fällen haben daher die im Streitfall vom Versicherten angerufenen Sozialgerichte zu prüfen,
ob es für die vom Arzt nach gewissenhafter fachlicher Einschätzung vorgenommene oder von ihm beabsichtigte
Behandlung ernsthafte Hinweise auf einen nicht ganz entfernt liegenden Heilungserfolg oder auch
nur auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf im konkreten Einzelfall gibt.
Pressemitteilung Nr. 126/2005 vom 16. Dezember 2005
Beschluss vom 6. Dezember 2005
1 BvR 347/98