BAG: Vierter Senat beabsichtigt Änderung der Rechtsprechung zur Tarifeinheit

Der Vierte Senat des Bundesarbeitsgerichts beabsichtigt, seine Rechtsprechung zum
Grundsatz der Tarifeinheit zu ändern, und hat deshalb nach § 45 Abs. 3 Satz 1
ArbGG eine Divergenzanfrage an den Zehnten Senat des Bundesarbeitsgerichts gerichtet.
Nach Auffassung des Vierten Senats gelten für ein Arbeitsverhältnis, dessen
Parteien nach § 3 Abs. 1 TVG an einen Tarifvertrag gebunden sind, die Rechtsnormen
dieses Tarifvertrages, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von
Arbeitsverhältnissen ordnen, zwingend und unmittelbar nach § 4 Abs. 1 TVG. Sie
können auch dann nicht nach dem Grundsatz der Tarifeinheit verdrängt werden,
wenn der Arbeitgeber durch seine Mitgliedschaft in einem tarifschließenden Arbeitgeberverband
zugleich an einen mit einer anderen Gewerkschaft für Arbeitsverhältnisse
derselben Art geschlossenen Tarifvertrag unmittelbar gebunden ist.
Der Kläger war im Krankenhaus der Beklagten als Arzt beschäftigt und verlangt für
den Monat Oktober 2005 einen Urlaubsaufschlag nach den Bestimmungen des Bundesangestellten-
Tarifvertrages (BAT). Er ist Mitglied des Marburger Bundes. Die Beklagte
ist Mitglied im Kommunalen Arbeitgeberverband, der Mitglied in der Vereinigung
der Kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) ist. Bis zum 30. September
2005 galt für die Parteien aufgrund ihrer jeweiligen Mitgliedschaften der Bundesangestellten-
Tarifvertrag (BAT) nach den Bestimmungen des Tarifvertragsgesetzes
unmittelbar und zwingend. Der BAT war zuletzt auf Arbeitgeberseite von der VKA,
auf Arbeitnehmerseite sowohl von der Gewerkschaft ver.di als auch vom Marburger
Bund, vertreten durch die Gewerkschaft ver.di, geschlossen worden. Der am
1. Oktober 2005 in Kraft getretene Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD)
wurde von der VKA und ua. von der Gewerkschaft ver.di, nicht aber vom Marburger
Bund geschlossen. Das beklagte Krankenhaus war daher ab dem 1. Oktober 2005
sowohl an den zwischen dem Marburger Bund und der VKA noch weiterhin
geltenden BAT als auch an den TVöD unmittelbar tarifgebunden. Der vom Marburger
Bund mit der VKA geschlossene Tarifvertrag für Ärztinnen und Ärzte an kommunalen
Krankenhäusern (TV-Ärzte) trat erst zum 1. August 2006 in Kraft. Die Beklagte verweigerte
die Zahlung des Urlaubsaufschlags nach dem BAT, weil der für die Mitglieder
des Marburger Bundes auch noch nach dem 1. Oktober 2005 geltende BAT
nach dem Grundsatz der sogenannten Tarifeinheit ab diesem Zeitpunkt vom TVöD
als speziellerem Tarifvertrag verdrängt worden sei.

Nach der bisherigen Rechtsprechung des Vierten Senats kam der Grundsatz der
Tarifeinheit auch dann zum Tragen, wenn ein Betrieb vom Geltungsbereich mehrerer
Tarifverträge erfasst wurde, die von verschiedenen Gewerkschaften geschlossen
worden waren und an die der Arbeitgeber deshalb gebunden war, weil er Mitglied im tarifschließenden Arbeitgeberverband oder selbst Tarifvertragspartei war, während
demgegenüber für den jeweiligen Arbeitnehmer je nach Gewerkschaftsmitgliedschaft
nur einer der beiden Tarifverträge Anwendung fand (Tarifpluralität). Nach dem
Grundsatz der Tarifeinheit sollte eine solche Tarifpluralität im Falle einer unmittelbaren
Tarifbindung des Arbeitgebers an verschiedene Tarifverträge dahin aufgelöst
werden, dass der speziellere Tarifvertrag den anderen Tarifvertrag im Betrieb verdrängt.
Der Vierte Senat des Bundesarbeitsgerichts beabsichtigt, seine Rechtsprechung zur
sogenannten Tarifeinheit für die vorliegende Fallgestaltung zu ändern. Die Rechtsnormen
des BAT gelten im Arbeitsverhältnis der Parteien aufgrund der beiderseitigen
Mitgliedschaft in den tarifschließenden Koalitionen unmittelbar und zwingend nach
§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG. Deshalb kann der Kläger einen Urlaubsaufschlag nach
den Bestimmungen des BAT verlangen. Eine gesetzlich angeordnete Regelung für
die Verdrängung dieser durch das Tarifvertragsgesetz vorgesehenen Geltung besteht
ebenso wenig wie eine zur Rechtsfortbildung berechtigende Lücke im Tarifvertragsgesetz
angenommen werden kann. Die Verdrängung eines geltenden Tarifvertrages
nach dem Grundsatz der Tarifeinheit in den Fällen einer durch Mitgliedschaft
oder durch die Stellung als Tarifvertragspartei begründeten Tarifpluralität ist zudem
mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG nicht zu vereinbaren.
Schließlich lässt sich die zwangsweise Auflösung der verfassungsrechtlich
vorgesehenen Tarifpluralität auch nicht mit möglichen Auswirkungen auf andere
Rechtsbereiche rechtfertigen. Die aus einer Tarifpluralität möglicherweise erwachsenden
Folgen zB für Arbeitskämpfe sind im Bereich des Arbeitskampfrechts zu
lösen; entsprechendes gilt für das Betriebsverfassungsrecht.
Der Vierte Senat des Bundesarbeitsgerichts ist im vorliegenden Rechtsstreit an einer
abschließenden Entscheidung gehindert, weil er in dieser entscheidungserheblichen
Rechtsfrage von der bisherigen Rechtsauffassung des Zehnten Senats des Bundesarbeitsgerichts
abweichen möchte. Er hat daher entsprechend den Vorschriften des
Arbeitsgerichtsgesetzes beim Zehnten Senat angefragt, ob dieser an seiner Rechtsauffassung
festhält. Nach Auffassung des Senats bestand für eine Grundsatzvorlage
an den Großen Senat des Bundesarbeitsgerichts nach § 45 Abs. 4 ArbGG dagegen
kein hinreichender Anlass.

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 27. Januar 2010 – 4 AZR 549/08 (A) –
Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg – Kammern Mannheim – Urteil vom 22. Januar
2008 – 14 Sa 87/07 –