BAG: Verurteilung einer Gewerkschaft zum Abschluss eines Tarifvertrags

Wenn Tarifvertragsparteien ein Verhandlungsergebnis verbindlich festhalten und dieses Ergebnis
von den zuständigen Gremien der Arbeitgeber- und der Gewerkschaftsseite ausdrücklich
gebilligt wird, kann dies ein Vorvertrag sein, aus dem sich ein einklagbarer Anspruch
ergibt, einen entsprechenden Tarifvertrag zu unterzeichnen. Ist die Einigung versehentlich
nur teilweise, aber nicht vollständig in einem oder mehreren Tarifverträgen umgesetzt
worden, haben beide Parteien einen Anspruch auf tarifvertragliche Ergänzung der Umsetzung.
Der Verpflichtung zum Abschluss eines solchen ergänzenden Tarifvertrages steht
sein rückwirkendes Inkrafttreten auch dann nicht entgegen, wenn zwischenzeitlich Tarifverträge,
die mit dem angestrebten Tarifvertrag in Verbindung stehen, gekündigt worden sind.
Auch ein rückwirkender Eingriff in bereits entstandene tarifliche Rechte der Arbeitnehmer ist
zulässig, wenn dem ein besonderer Vertrauensschutz nicht entgegensteht.
Der klagende Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt hatte mit der Rechtsvorgängerin der beklagten
Gewerkschaft in einem Manteltarifvertrag die Zahlung einer jährlichen Zuwendung an
die Beschäftigten vereinbart. Deren Höhe ist in einem Zusatztarifvertrag zu regeln. Der ursprüngliche
Zusatztarifvertrag sah vor, dass die Zuwendung 100 % (Tarifgebiet West) bzw.
75 % (Tarifgebiet Ost) eines Bruttomonatsgehalts beträgt. Seit 1994 wurde durch jeweils
befristete Änderungstarifverträge der Prozentsatz schrittweise soweit abgesenkt, dass unter
Berücksichtigung der jährlichen Entgelterhöhungen der Zuwendungsbetrag „eingefroren„
blieb. 2001 belief sich im Tarifgebiet Ost der festgelegte Prozentsatz auf 67,21 %, im Tarifgebiet
West auf 85,80 %. Im Frühjahr 2003 unterzeichneten die Verhandlungskommissionen
im Anschluss an Tarifverhandlungen der Parteien eine schriftliche „Tarifeinigung„, der die
zuständigen Gremien beider Seiten zustimmten. In der Einigung war neben einer Vergütungserhöhung
ua. vorgesehen: „Die Zuwendung bleibt bis zum 31. Januar 2005 eingefroren
vorbehaltlich einer Regelung im Reform-TV.„ Mit Ausnahme der Zuwendung wurden alle in
der „Tarifeinigung„ genannten Punkte in verschiedenen Tarifverträgen umgesetzt. Alle Arbeitnehmer
der AWO erhielten im November/Dezember 2003 die Zuwendung in der gleichen
„eingefrorenen„ Höhe wie bisher. Als der Kläger im Zusammenhang mit Verhandlungen über
den „Reformtarifvertrag„ nahezu alle mit der Beklagten abgeschlossenen Tarifverträge zum
31. März 2004 kündigte, teilte die Beklagte ihren Mitgliedern in einer Mitgliederinformation
mit, dass die Zuwendung nicht Gegenstand der Tarifverhandlungen im Frühjahr 2003 gewesen
sei; es gebe deshalb keine Absenkung mehr, so dass für 2003 ein volles Bruttomonatsgehalt
als Zuwendung zu zahlen sei. Der Kläger widersprach dem umgehend in einem
Rundschreiben an die Arbeitnehmer. Nach Einleitung des Rechtsstreites einigten sich die
Parteien im Dezember 2004 auf Übergangstarifverträge, die ua. wiederum einen abgesenkten
Prozentsatz für die Zuwendung 2004 enthielten und insoweit am 1. Oktober 2004 in Kraft
traten.

Der Kläger hat von der Beklagten die Unterzeichnung eines von ihm ausformulierten Änderungstarifvertrags
verlangt, mit dem die 1994 begonnene Praxis durch eine der „Tarifeinigung„
entsprechende Absenkung der Prozentsätze mit Wirkung ab dem 1. Januar 2003 fortgesetzt
werden soll.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung
des Klägers der Klage entsprochen. Die dagegen gerichtete Revision der Beklagten blieb vor
dem Vierten Senat des Bundesarbeitsgerichts erfolglos. Es war ein hinreichend bestimmter
Vorvertrag über den Abschluss des angestrebten Tarifvertrages zustande gekommen. Über
den Hilfsantrag des Klägers festzustellen, dass die beklagte Gewerkschaft die aus der Verweigerung
des Tarifabschlusses folgenden Schäden zu tragen habe, musste nicht entschieden
werden.

Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 5. Juli 2006 – 4 AZR 381/05 –

Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 22. Juni 2005 – 9 Sa 110/05 –