BAG: Kündigung bei nicht rechtzeitiger Massenentlassungsanzeige

Mit Urteil vom 27. Januar 2005 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in der Rechtssache
„Junk„ die Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG (MERL), die durch die §§ 17 ff. KSchG in
das deutsche Arbeitsrecht umgesetzt worden ist, dahin ausgelegt, dass die Kündigungserklärung
des Arbeitgebers als „Entlassung„ im Sinne der MERL anzusehen ist. Unter Aufgabe
seiner bisherigen Rechtsprechung hat der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts mit Urteil
vom 23. März 2006 (- 2 AZR 343/05 – Pressemitteilung Nr. 18/06) die Regelung des § 17
Abs. 1 Satz 1 KSchG richtlinienkonform ausgelegt und entschieden, dass die Anzeige bei
der Agentur für Arbeit rechtzeitig vor Erklärung der Kündigungen erfolgen muss. Zumindest
bis zum Bekanntwerden der Entscheidung des EuGH hätten die Arbeitgeber jedoch auf die
ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und die durchgängige Verwaltungspraxis
der Agenturen für Arbeit vertrauen dürfen, wonach die Anzeige auch noch nach Erklärung
der Kündigungen erfolgen konnte.

Zur zeitlichen Grenze des zu gewährenden Vertrauensschutzes hat nun der Sechste Senat
des Bundesarbeitsgerichts entschieden, das schutzwürdige Vertrauen sei angesichts der
noch im Urteil des Zweiten Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 18. September 2003
(- 2 AZR 79/02 – BAGE 107, 318) vertretenen Auffassung, § 17 KSchG könne nicht richtlinienkonform
ausgelegt werden, nicht bereits mit Bekanntwerden der Entscheidung des
EuGH entfallen. Allerdings sei das Vertrauen des Arbeitgebers dann nicht mehr schutzwürdig,
wenn die für die Anwendung und Ausführung der §§ 17 ff. KSchG zuständige Arbeitsverwaltung
ihre frühere Rechtsauffassung geändert hat und dies dem Arbeitgeber bekannt
sein musste.

Die Klägerin war seit 1988 bei der Firma G. GmbH als Druckvorlagenherstellerin beschäftigt.
Über das Vermögen der G. GmbH wurde am 1. März 2005 das Insolvenzverfahren eröffnet
und der Beklagte wurde zum Insolvenzverwalter bestellt. Dieser vereinbarte am 18. März
2005 mit dem Betriebsrat einen Interessensausgleich mit Namensliste. Gegenstand war die
Personalreduzierung um 13 Mitarbeiter von zu diesem Zeitpunkt insgesamt 75 Beschäftigten.
Die Klägerin ist unter den zu kündigenden Arbeitnehmern in der Namensliste aufgeführt.
Ende März 2005 kündigte der Beklagte die Arbeitsverhältnisse der dort namentlich benannten
Arbeitnehmer. Mit Schreiben vom 25. April 2005 erstattete er die Massenentlassungsanzeige.
Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht
hat die Klage abgewiesen. Die Revision der Klägerin hatte Erfolg. Sie führte zur Zurückverweisung
des Rechtsstreits an das Landesarbeitsgericht. Ob im Zeitpunkt der Kündigung die
Änderung der Rechtsauffassung der Arbeitsverwaltung derart bekannt gegeben war, dass
von dem Beklagten Kenntnisname erwartet werden konnte, bedarf noch der Aufklärung
durch das Landesarbeitsgericht.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 13. Juli 2006 – 6 AZR 198/06 –

Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin, Urteil vom 20. Dezember 2005 – 12 Sa 1463/05 –