Ein vorsätzlicher Verstoß des Arbeitnehmers gegen seine Vertragspflichten kann
eine fristlose Kündigung auch dann rechtfertigen, wenn der damit einhergehende
wirtschaftliche Schaden gering ist. Umgekehrt ist nicht jede unmittelbar gegen die
Vermögensinteressen des Arbeitgebers gerichtete Vertragspflichtverletzung ohne
Weiteres ein Kündigungsgrund. Maßgeblich ist § 626 Abs. 1 BGB. Danach kann eine
fristlose Kündigung nur aus „wichtigem Grund“ erfolgen. Das Gesetz kennt in diesem
Zusammenhang keine „absoluten Kündigungsgründe“. Ob ein „wichtiger Grund“ vorliegt,
muss vielmehr nach dem Gesetz „unter Berücksichtigung aller Umstände des
Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile“ beurteilt werden.
Dabei sind alle für das jeweilige Vertragsverhältnis in Betracht kommenden Gesichtspunkte
zu bewerten. Dazu gehören das gegebene Maß der Beschädigung des
Vertrauens, das Interesse an der korrekten Handhabung der Geschäftsanweisungen,
das vom Arbeitnehmer in der Zeit seiner unbeanstandeten Beschäftigung erworbene
„Vertrauenskapital“ ebenso wie die wirtschaftlichen Folgen des Vertragsverstoßes;
eine abschließende Aufzählung ist nicht möglich. Insgesamt muss sich die sofortige
Auflösung des Arbeitsverhältnisses als angemessene Reaktion auf die eingetretene
Vertragsstörung erweisen. Unter Umständen kann eine Abmahnung als milderes Mittel
zur Wiederherstellung des für die Fortsetzung des Vertrags notwendigen Vertrauens
in die Redlichkeit des Arbeitnehmers ausreichen.
In Anwendung dieser Grundsätze hat der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts
– anders als die Vorinstanzen – der Klage der Kassiererin eines Einzelhandelsgeschäfts
stattgegeben, die ihr nicht gehörende Pfandbons im Wert von insgesamt
1,30 Euro zum eigenen Vorteil eingelöst hat. Die Klägerin war seit April 1977 bei der
Beklagten und deren Rechtsvorgängerinnen als Verkäuferin mit Kassentätigkeit beschäftigt.
Am 12. Januar 2008 wurden in ihrer Filiale zwei Leergutbons im Wert von
48 und 82 Cent aufgefunden. Der Filialleiter übergab die Bons der Klägerin zur Aufbewahrung
im Kassenbüro, falls sich ein Kunde noch melden sollte. Sie lagen dort
sichtbar und offen zugänglich. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen reichte die
Klägerin die beiden Bons bei einem privaten Einkauf zehn Tage später bei der kassierenden
Kollegin ein. Diese nahm sie entgegen, obwohl sie, anders als es aufgrund
einer Anweisung erforderlich gewesen wäre, vom Filialleiter nicht abgezeichnet
worden waren. Im Prozess hat die Klägerin bestritten, die Bons an sich genommen
zu haben, und darauf verwiesen, sie habe sich möglicherweise durch Teilnahme an gewerkschaftlichen Aktionen Ende 2007 unbeliebt gemacht. Vor der Kündigung hatte
sie zur Erklärung ins Feld geführt, die Pfandbons könnten ihr durch eine ihrer Töchter
oder eine Kollegin ins Portemonnaie gesteckt worden sein. Die Beklagte kündigte
das Arbeitsverhältnis ungeachtet des Widerspruchs des Betriebsrats wegen eines
dringenden Tatverdachts fristlos, hilfsweise fristgemäß.
Die Kündigung ist unwirksam. Die mit einer sogenannten „Verdachtskündigung“ verbundenen
Fragen stellten sich dabei in der Revisionsinstanz nicht, weil das Landesarbeitsgericht
– für den Senat bindend – festgestellt hat, dass die Klägerin die ihr vorgeworfenen
Handlungen tatsächlich begangen hat. Der Vertragsverstoß ist schwerwiegend.
Er berührte den Kernbereich der Arbeitsaufgaben einer Kassiererin und hat
damit trotz des geringen Werts der Pfandbons das Vertrauensverhältnis der Parteien
objektiv erheblich belastet. Als Einzelhandelsunternehmen ist die Beklagte besonders
anfällig dafür, in der Summe hohe Einbußen durch eine Vielzahl für sich genommen
geringfügiger Schädigungen zu erleiden. Dagegen konnte das Prozessverhalten
der Klägerin nicht zu ihren Lasten gehen. Es lässt keine Rückschlüsse auf
eine vertragsrelevante Unzuverlässigkeit zu. Es erschöpfte sich in einer möglicherweise
ungeschickten und widersprüchlichen Verteidigung. Letztlich überwiegen angesichts
der mit einer Kündigung verbundenen schwerwiegenden Einbußen die zu
Gunsten der Klägerin in die Abwägung einzustellenden Gesichtspunkte. Dazu gehört
insbesondere die über drei Jahrzehnte ohne rechtlich relevante Störungen verlaufene
Beschäftigung, durch die sich die Klägerin ein hohes Maß an Vertrauen erwarb.
Dieses Vertrauen konnte durch den in vieler Hinsicht atypischen und einmaligen
Kündigungssachverhalt nicht vollständig zerstört werden. Im Rahmen der
Abwägung war auch auf die vergleichsweise geringfügige wirtschaftliche Schädigung
der Beklagten Bedacht zu nehmen, so dass eine Abmahnung als milderes Mittel
gegenüber einer Kündigung angemessen und ausreichend gewesen wäre, um einen
künftig wieder störungsfreien Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu bewirken.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 10. Juni 2010 – 2 AZR 541/09 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. Februar 2009
– 7 Sa 2017/08 –