Bayerischer Verwaltungsgerichtshof – Pressemitteilung –
Kreuze im Klassenzimmer
Mit seinem den Beteiligten am 02. Januar 2002 bekannt gegebenen Urteil (Az.: 3 B 98.563) hat der 3. Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs entschieden, dass der
Freistaat Bayern verpflichtet ist, in den Klassenzimmern, in denen der klagende Lehrer Dr.R. unterrichtet, das Kreuz abzunehmen.
Vor dem religiös- weltanschaulichem Hintergrund des Rechtsstreits war es Aufgabe des Gerichts, allein nach Maßgabe der Vorgaben des Grundgesetzes (GG) zur
weltanschaulichen Neutralität des Staates im Bereich einer staatlichen Pflichtschule zu entscheiden. Es hatte den um das Kreuz im Klassenzimmer entstandenen Konflikt
ausschließlich mit den juristischen Mitteln einer an der Wertordnung des Grundgesetzes ausgerichteten, auf Ausgleich bedachten Interessenabwägung zu lösen.
Für die Entscheidung maßgeblich waren folgende Erwägungen:
– Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem “Kruzifix-Urteil” vom 16. Mai 1995 in der Vorschrift über die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den
Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule einen Verstoß gegen das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art.4 Abs.1 GG) gesehen, weil das Kreuz
nicht nur Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur sei, sondern als Symbol einer bestimmten religiösen Überzeugung auch missionarischen
Charakter habe. Der Staat sei zur religiösen Neutralität verpflichtet und dürfe den religiösen Frieden in der Gesellschaft nicht von sich aus gefährden.
Dem hat der Bayerische Landtag durch die Neuregelung des Art.7 Abs.3 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) Rechnung getragen. Danach
soll mit der grundsätzlich vorgesehenen Anbringung des Kreuzes im Klassenzimmer allein der Wille zum Ausdruck kommen, die obersten Bildungsziele der Verfassung auf der
Grundlage christlicher und abendländischer Werte unter Wahrung der Glaubensfreiheit zu verwirklichen. Zugleich hat er eine Konfliktlösung für den Fall vorgesehen, dass
dem ein Erziehungsberechtigter aus ernsthaften und einsehbaren Gründen des Glaubens oder der Weltanschauung widerspricht. Diese am 1. Januar 1996 in Kraft getretene
Neuregelung ist einer verfassungskonformen Auslegung nach Maßgabe der Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 1. August 1997 und der Entscheidung des
Bundesverwaltungsgerichts vom 21. April 1999 zugänglich.
– Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof wendet die im Gesetz vorgesehene Widerspruchs- und Ausgleichsregelung – ungeachtet aller Unterschiede zwischen der Stellung des
Lehrers und des Erziehungsberechtigten – dem Grunde nach entsprechend auch auf im Beamtenverhältnis stehende Lehrer an. Im Schulunterricht repräsentiert der Lehrer den
Staat und hat dessen Gesetze zu befolgen, zugleich aber bleibt er als Person Grundrechtsträger. Deshalb hat das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit, auf das sich
der Lehrer beruft, auch im schulischen Bereich Gewicht. Allerdings kann es durch kollidierendes gleichrangiges Recht eingeschränkt werden. Dazu zählen neben den
Grundrechten Dritter auch andere verfassungsrechtlich geschützte öffentliche Belange wie die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums im Sinne des Art.33 Abs.5 GG,
die den Beamten u.a. zum beamtenrechtlichen Gehorsam verpflichten und die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes gewährleisten sollen. Im Konfliktfall, wie hier,
ist ein Ausgleich vorzunehmen zwischen dem Grundrecht aus Art.4 Abs.1 GG und den gleichrangigen Belangen des Berufsbeamtentums, die dem Beamten Gesetzesgehorsam abverlangen
und einen funktionierenden Schulbetrieb sicherstellen sollen.
– Die danach erforderliche diffizile Abwägung der inmitten stehenden verfassungsrechtlich geschützten Interessen geht nach Ansicht des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs
im entschiedenen Einzelfall zu Gunsten des Klägers aus. Seine Persönlichkeit ist durch Besonderheiten geprägt. So studierte er zuerst vier Semester Theologie, bevor er
sich dem Lehrerberuf zuwandte. Aus der Kirche trat er, der sich weiterhin als Christ sieht, wegen der Haltung der “Amtskirche” zu verschiedenen strittigen Fragen aus, die
der Kläger im einzelnen dargelegt hat. Für ihn sei das Christentum eine Religion der Liebe und des Lebens, die nicht durch das Kruzifix symbolisiert werden dürfe. Das
Kreuz als Zeichen der Erlösung durch Hinrichtung lehne er ab. Das Kreuz sei für ihn Symbol der “furchtbarsten Hinrichtungsmethode” in der Geschichte der Menschheit, eine
“Pfahlwurzel des Antijudaismus und somit des Holocausts”. Seine Beschäftigung mit diesem Thema gipfelt darin, dass der Kläger über die von ihm gesehene Problematik ein
Buch geschrieben hat, das demnächst erscheinen soll. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Glaubens- und Gewissensentscheidung des Klägers inhaltlich nicht zu bewerten, nach
Lage der Dinge aber ernst zu nehmen. Die von ihm individuell- subjektiv als solche empfundene Unzumutbarkeit wird beim Kläger ausschließlich durch den bloßen
Anblick des Kreuzes verbunden mit dem Gebot, unter dem Kreuz zu lehren, hervorgerufen. Gegen das Anbringen anderer christlicher Symbole im Klassenzimmer wendet er sich
ausdrücklich nicht. Danach könnte der Staat im konkreten Fall auch dem Gesetzeszweck des Art.7 Abs.3 BayEUG durch Anbringung jedes anderen christlichen Symbols in dem
Klassenraum, in dem der Kläger unterrichtet, Rechnung tragen. Damit wäre die verfassungsrechtlich anzustrebende “praktische Konkordanz” erreicht; nicht eine der
widerstreitenden Rechtspositionen behauptet sich maximal, sondern alle erfahren einen schonenden Ausgleich. Die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Schulbetriebs wird
hierbei von vornÂherein nicht berührt. Dass der Kläger seinen Unterricht dem Lehrplan entsprechend inhaltlich ordnungsgemäß gestaltet, stand – ungeachtet des
Streites um das Kreuz – nie in Frage. Die Gesetzesvorschrift über die Anbringung eines Kreuzes in jedem Klassenraum wirkt nicht in den Unterrichtsinhalt hinüber. Das
Argument des Beklagten, der Kläger sei freiwillig in den Schuldienst eingetreten und habe damit auch das Kreuz im Klassenzimmer hingenommen bzw. hinzunehmen, greift
jedenfalls im konkreten Fall zu kurz. Nach Art.33 Abs.2 GG hat jeder Deutsche nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt.
Mit dieser Vorgabe und der durch Art.4 GG geschützten Glaubens- und Gewissensfreiheit wäre es unvereinbar, einen nach dem Leistungsprinzip qualifizierten Lehrer nur
deshalb nicht in das Beamtenverhältnis zu übernehmen, weil er wegen einer spezifischen, ernsthaften Glaubensprägung, wie sie beim Kläger gegeben ist, ohne seelische Not
“nicht unter dem Kreuz lehren” kann.
– Die Revision wurde nicht zugelassen, weil es sich nicht um eine Grundsatzentscheidung handelt. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat einen atypischen Einzelfall
entschieden. Die generelle Frage, ob ein Lehrer, bei dem der Glaubens- oder Weltanschauungskonflikt – wie wohl regelmäßig – nicht durch den bloßen Anblick
gerade des Kreuzes hervorgerufen wird, mit seinem auf Entfernung des Kreuzes gerichteten Begehren generell durchdringen kann oder mit Blick auf die zentrale Stellung des
Toleranzgebotes im Grundgesetz und im Rahmen seiner Gehorsamspflicht der dienstlichen Weisung, “unter dem Kreuz” zu unterrichten, Folge leisten muss, war hier nicht zu
entscheiden.