BVerfG: Zu Sozialhilfeleistungen bei räumlich nicht beschränkter Aufenthaltsbefugnis

BVerfG: Zu Sozialhilfeleistungen bei räumlich nicht beschränkter Aufenthaltsbefugnis

Die 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat eine
Verfassungsbeschwerde (Vb) nicht zur Entscheidung angenommen, die die
Versagung von Hilfe zum Lebensunterhalt gegenüber Ausländern mit einer
Aufenthaltsbefugnis betrifft.

1. Nach § 120 Abs. 5 Satz 2 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) haben
Ausländer, die im Besitz einer räumlich nicht beschränkten
Aufenthaltsbefugnis sind, außerhalb des Bundeslandes, in dem diese
erteilt worden ist, nur Anspruch auf die nach den Umständen unabweisbar
gebotene Hilfe.
Die Bf hatten in Niedersachsen eine derartige Aufenthaltsbefugnis
erhalten. Diese wurde nach ihrem Umzug nach Berlin vom dort zuständigen
Landeseinwohneramt verlängert. Zunächst erhielten die Bf im Bezirksamt
Wedding Sozialhilfe. Nach einem Umzug innerhalb der Stadt stellte das
nunmehr zuständige Bezirksamt Tiergarten die laufende Hilfe zum
Lebensunterhalt ein, weil die Bf sich außerhalb des Bundeslandes
aufhielten, in dem die Aufenthaltsbefugnis erteilt worden sei.
Im fachgerichtlichen Eilverfahren blieben die Bf erfolglos. Auf die
Verlängerung der Aufenthaltsbefugnis durch das Land Berlin komme es
nicht an. Nur die Anknüpfung an die erstmalige Ausstellung der
Aufenthaltsbefugnis trage dem Regelungszweck hinreichend Rechnung, eine
Verlagerung von Sozialhilfelasten in andere Bundesländer dauerhaft zu
verhindern.
Das BVerfG hat mit Beschluss vom 1. Oktober 1998 auf den Antrag der Bf
eine einstweilige Anordnung erlassen, mit dem das Land Berlin
verpflichtet worden ist, für die Dauer des Vb-Verfahrens Hilfe zum
Lebensunterhalt zu gewähren. Die einstweilige Anordnung ist mehrfach
verlängert worden.

2. Mit Beschluss vom 9. Februar 2001 hat die 1. Kammer des Ersten
Senats
nunmehr die Vb nicht zur Entscheidung angenommen; die einstweilige
Anordnung erledigt sich damit. Zur Begründung führt die Kammer im
Wesentlichen aus:
Die Vb ist unbegründet. Die Auslegung des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG
durch
die Verwaltungsgerichte ist nicht willkürlich. Die Ansicht, § 120 Abs.
Satz 2 BSHG verweise die Bf auf den Ort der erstmaligen Erteilung der
Aufenthaltsbefugnis, erscheint ohne Weiteres vertretbar. Sie ist
nachvollziehbar begründet.
Das Willkürverbot ist auch nicht deshalb verletzt, weil diese
Rechtsauffassung dazu führt, dass die Bf trotz ihrer räumlich nicht
beschränkten Aufenthaltsbefugnis ihren Lebensmittelpunkt in
Niedersachsen beibehalten müssen, um ihren Anspruch auf Hilfe zum
Lebensunterhalt aufrecht zu erhalten. Die Regelung steht zwar faktisch
dem Umzug in ein anderes Bundesland entgegen. Die Betroffenen sind aber
sozialhilferechtlich nicht gehindert, innerhalb des Bundeslandes
umzuziehen, welches die Aufenthaltsbefugnis erstmals erteilt hat.
Angesichts dessen ist es nicht willkürlich, der mit der Regelung des §
120 Abs. 5 Satz 2 BSHG verfolgten Zielsetzung, eine Verlagerung von
Sozialhilfelasten in andere Bundesländer auszuschließen, Vorrang vor
dem
Interesse an einem bundesweit nicht beschränkten Sozialhilfebezug
einzuräumen. So werden die dauerhaft hohen Sozialhilfeleistungen auf
die
einzelnen Bundesländer verteilt. Außerdem wird die missbräuchliche
mehrfache Inanspruchnahme von Sozialhilfe erschwert und die Integration
der Betroffenen erleichtert. Hierbei handelt es sich um hinreichende,
dem Gemeinwohl dienende Anliegen.
Es ist auch nicht ersichtlich, dass bei der Auslegung des § 120 Abs. 5
Satz 2 BSHG völkerrechtliche Regelungen in einer gegen Art. 3 Abs. 1 GG
verstoßenden Weise nicht beachtet oder fehlerhaft angewendet worden
sind. Art. 23 und 26 des Genfer Abkommens über die Rechtstellung der
Flüchtlinge und Art. 23 und 26 des Übereinkommens über die
Rechtstellung
der Staatenlosen stehen einfachen Bundesgesetzen gleich. Diese
Bestimmungen verpflichten die Vertragsstaaten, den Flüchtlingen und
Staatenlosen, die sich rechtmäßig in ihrem Staatsgebiet aufhalten, auf
dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge sowie sonstigen Hilfe- und
Unterstützungsleistungen die gleiche Behandlung wie ihren eigenen
Staatsangehörigen zu gewähren und ihnen das Recht auf freie Wahl des
Aufenthaltsortes einzuräumen. Ihre Anwendung und Auslegung als
Völkervertragsrecht ist Aufgabe der Fachgerichte, die hier keiner
anderen verfassungsgerichtlichen Kontrolle als bei der Anwendung
einfachen Rechts unterliegen. Das BVerfG prüft nur, ob die Fachgerichte
gegen Verfassungsrecht verstoßen haben. Dies ist erst dann der Fall,
wenn ein Fehler sichtbar wird, der auf einer grundsätzlich unrichtigen
Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts beruht oder wenn die
fehlerhafte Rechtsanwendung bei verständiger Würdigung der das
Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist. Hier
sind jedoch Anhaltspunkte für die unhaltbare Nichtbeachtung einer
offensichtlich einschlägigen völkerrechtlichen Norm weder aufgezeigt
worden noch erkennbar.

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen auch nicht das Grundrecht
auf
freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG, welches die
freie Wahl des Aufenthaltsortes und des Wohnsitzes in der
Bundesrepublik
Deutschland einschließt. Durch § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG wird dieses
Grundrecht verfassungskonform beschränkt. Wie dargelegt, ist es ein
legitimes Ziel des Gesetzgebers, die für Ausländer aufzuwendende
Sozialhilfe unter den einzelnen Bundesländern angemessen zu verteilen.
Hierzu ist die Regelung des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG geeignet und auch
erforderlich. Die dem Gesetzgeber offen stehende Alternative, den
räumlichen Geltungsbereich von Aufenthaltsbefugnissen zu beschränken,
hätte einen weitaus stärkeren Eingriff in die Bewegungsfreiheit der
Beteiligten zur Folge gehabt. Durch eine Ausgleichsregelung zwischen
den
Bundesländern wäre es zwar möglich, eine belastungsgerechte Verteilung
der Sozialhilfeleistungen zu erzielen. Mit ihr ließe sich aber nicht
der
missbräuchlichen Inanspruchnahme von Sozialhilfe entgegenwirken, die
ebenfalls Zweck der gesetzlichen Regelung ist. Zudem hätte eine solche
Regelung zusätzlichen Verwaltungsaufwand zur Folge.
Die angegriffene Regelung ist auch zumutbar. Einzelnen Härtefällen kann
dadurch Rechnung getragen werden, dass Hilfe zum Lebensunterhalt als
unabweisbar gebotene Hilfe erbracht wird.

Die Kammer führt weiter aus, dass die Bf sich nicht auf
Vertrauensschutz
berufen können. Der einstweiligen Anordnung des BVerfG vom Oktober 1998
liegt lediglich eine Abwägung der betroffenen Interessen zu Grunde. Sie
lässt die Frage offen, ob die Vb zulässig und begründet ist.

Beschluss vom 9. Februar 2001 – Az. 1 BvR 781/98 –

Karlsruhe, den 13. März 2001