Am 14. August 2004 fand in der Kleinstadt F. in Brandenburg die
angemeldete Demonstration unter freiem Himmel mit dem Motto „Keine
schweigenden Provinzen – Linke Freiräume schaffen“ statt. Anlässlich
dieser Versammlung begab sich der Beschwerdeführer zusammen mit etwa
vierzig anderen Personen nach F. Die Gruppe, deren Mitglieder
überwiegend kurz geschorenes Haar und für die rechte Szene typische
Bekleidung trugen, postierte sich entlang der Route der angemeldeten
Demonstration. Über Plakate, Flugblätter oder sonstige Hilfsmittel der
Kommunikation verfügte sie nicht. Nachdem der Einsatzleiter der
Polizeikräfte dreimal einen Platzverweis gegen die Gruppe ausgesprochen
hatte, verließ diese den Ort.
Im Nachhinein verurteilte das Amtsgericht den Beschwerdeführer wegen
fahrlässiger Teilnahme an einer unerlaubten Ansammlung gemäß § 113 des
Ordnungswidrigkeitengesetzes (OWiG) in Verbindung mit § 16 Abs. 1 Satz 1
des Brandenburgischen Polizeigesetzes (BbgPolG) zu einer Geldbuße.
Der Gruppe sei es darum gegangen, gegenüber den Teilnehmern der linken
Demonstration „Gesicht zu zeigen“. Der Einsatzleiter der Polizeikräfte
habe aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes befürchtet, es werde
zwischen den Teilnehmern der angemeldeten linken Demonstration und den
Mitgliedern der rechten Gruppe zu gewalttätigen Auseinandersetzungen
kommen. Hierbei habe er berücksichtigt, dass die linke Demonstration
angemeldet gewesen sei, wohingegen die Zusammenkunft der rechten Gruppe
ohne behördliche Information abgehalten worden sei.
Nach der Auffassung des Amtsgerichts sei eine versammlungsrechtliche
Auflösung vor Erlass des polizeirechtlichen Platzverweises nicht
erforderlich gewesen, weil es sich bei der Zusammenkunft nicht um eine
Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG, sondern lediglich um eine
Ansammlung nach § 113 Abs. 1 OWiG gehandelt habe. Die Zusammenkunft habe
nicht der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gedient, sondern
nur den Zweck verfolgt, die Teilnehmer der linken Demonstration durch
bloße Anwesenheit zu provozieren. Die gegen das Urteil des Amtsgerichts
erhobene Rechtsbeschwerde vor dem Oberlandesgericht blieb ohne Erfolg.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine
Verletzung seiner Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG.
Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat das
Urteil des Amtsgerichts aufgehoben, weil es den Beschwerdeführer in
seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit verletzt, und die Sache zur
erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückverwiesen. Der Beschluss
des Oberlandesgerichts wurde damit gegenstandslos.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
Das Amtsgericht hat – auf der Grundlage der getroffenen tatsächlichen
Feststellungen – den Versammlungscharakter der Zusammenkunft, an welcher
der Beschwerdeführer teilgenommen hat, mit verfassungsrechtlich nicht
tragfähigen Gründen verneint.
Das Amtsgericht hat bei der Prüfung des Versammlungscharakters der
Zusammenkunft nicht berücksichtigt, dass diese inhaltlich auf das
Versammlungsmotto der angemeldeten Demonstration bezogen war. Der
Beschwerdeführer und die anderen Mitglieder der Gruppe wollten nach den
tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts mit der Zusammenkunft
„Gesicht zeigen“ und sich gegen die Aussage des von der angemeldeten
Demonstration ausgerufenen Mottos stellen. Die Anwesenheit der von
auswärts angereisten Gruppe zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort war
erkennbar geprägt von dem Willen der Auseinandersetzung mit dem
politischen Gegner. Dies ergibt sich daraus, dass sich die Gruppe, die
aufgrund der kurz geschorenen Haare und der szenetypischen Aufmachung
vom objektiven Empfängerhorizont aus betrachtet als dem rechtsradikalen
Spektrum angehörend identifizierbar war und als solche von den
Polizeikräften auch identifiziert wurde, in zeitlicher und örtlicher
Nähe zu der ausdrücklich linksgerichteten Versammlung postierte – der
zweite Teil des Mottos lautete: „Linke Freiräume schaffen“ -, nämlich an
einer Straße entlang der Demonstrationsroute kurz bevor sich die
angemeldete Demonstration in Bewegung setzte.
Die Versagung der Versammlungseigenschaft kann das Amtsgericht
verfassungsrechtlich nicht darauf stützen, dass nach dem Willen der
Gruppe weder mit den Teilnehmern der angemeldeten Demonstration noch mit
der Öffentlichkeit eine verbale Kommunikation stattfinden sollte. Ein
kollektiver Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung kann auch durch
schlüssiges Verhalten wie beispielsweise durch einen Schweigemarsch,
geäußert werden. Überdies lautete der erste Teil des Mottos der
angemeldeten Demonstration „Keine schweigenden Provinzen“. Angesichts
dieser Umstände hätte das Amtsgericht sich damit auseinandersetzen
müssen, dass der physischen Präsenz in einer die gegenteilige politische
Ausrichtung zu erkennen gebenden Aufmachung gepaart mit dem Schweigen
der Gruppe hier naheliegenderweise eine eigenständige Aussage zukommen
kann.
Verfassungsrechtlich tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass die – folglich
auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen als
Gegendemonstration einzustufende – Zusammenkunft des Schutzes des Art. 8
GG wieder verlustig gegangen ist, sind der Entscheidung des Amtsgerichts
nicht zu entnehmen. Insbesondere lässt eine eventuell notwendige, aber
unterbliebene Anmeldung nicht den Grundrechtsschutz der Zusammenkunft
entfallen. Feststellungen zu einer kollektiven Unfriedlichkeit der
Zusammenkunft hat das Amtsgericht nicht getroffen.
Hiervon ausgehend ist das Urteil des Amtsgerichts als Eingriff in die
Versammlungsfreiheit des Beschwerdeführers zu beurteilen, der
verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt ist, da in diesem Fall die
Verurteilung nicht auf § 113 OWiG in Verbindung mit § 16 Abs. 1 Satz 1
BbgPolG gestützt werden kann. Versammlungsspezifische Maßnahmen der
Gefahrenabwehr richten sich nach den hierfür speziell erlassenen
Versammlungsgesetzen. Die dort geregelten, im Vergleich zu dem
allgemeinen Polizeirecht besonderen Voraussetzungen für beschränkende
Verfügungen sind Ausprägungen des Grundrechts der Versammlungsfreiheit.
Dementsprechend gehen die Versammlungsgesetze als Spezialgesetze dem
allgemeinen Polizeirecht vor. Daraus folgt, dass auf das allgemeine
Polizeirecht gestützte Maßnahmen gegen eine Person, insbesondere in Form
eines Platzverweises, ausscheiden, solange sich diese in einer
Versammlung befindet und sich auf die Versammlungsfreiheit berufen kann.
Da den Feststellungen des Amtsgericht nicht zu entnehmen ist, dass die –
auf dieser Grundlage als Gegendemonstration einzustufende –
Zusammenkunft aufgelöst oder der Beschwerdeführer von ihr ausgeschlossen
worden war, kann die Verhängung des Bußgeldes gegen den Beschwerdeführer
nicht auf § 113 OWiG in Verbindung mit § 16 Abs. 1 Satz 1 BbgPolG
gestützt werden.
Pressemitteilung Nr. 4/2011 vom 13. Januar 2011
Beschluss vom 10. Dezember 2010
1 BvR 1402/06