BVerfG: Verwaltungsentscheidungen der DDR nur bei Verstoß gegen fundamentale rechtsstaatliche Grundsätze rücknehmbar

Der 1926 geborene und zwischenzeitlich verstorbene ursprüngliche
Beschwerdeführer rutschte im Februar 1984 auf dem Weg zur Arbeit bei
Glatteis aus. Dabei zog er sich eine Prellung des linken Knies zu. Im
September 1984 wurde sein linker Unterschenkel nach einem akuten
Arterienverschluss amputiert. Die nach dem Unfallversicherungsrecht der
DDR zuständige Betriebsgewerkschaftsleitung lehnte seinen Antrag auf
Anerkennung der Unterschenkelamputation als Folge des Wegeunfalls im
Dezember 1985 ab. Die aufgetretenen Durchblutungsstörungen und die
nachfolgende Amputation seien keine Unfallfolge, sondern Folge einer
anlagebedingten Erkrankung. Nach Herstellung der Deutschen Einheit
beantragte der Versicherte bei der nun für ihn zuständigen
Berufsgenossenschaft die Anerkennung seiner Unterbeinamputation als
Folge eines Arbeitsunfalls. Die Berufsgenossenschaft lehnte den Antrag
ab. Die hiergegen gerichtete Klage blieb in letzter Instanz ohne Erfolg.
Das Bundessozialgericht führte aus, dass die Berufsgenossenschaft an den
Bescheid der DDR-Behörde vom Dezember 1985 gebunden sei. Dies folge aus
Art. 19 des Einigungsvertrags, wonach vor dem Wirksamwerden des
Beitritts ergangene Verwaltungsakte der DDR grundsätzlich wirksam
blieben und nur bei Unvereinbarkeit mit rechtsstaatlichen Grundsätzen
aufgehoben werden könnten. Verwaltungsakte der DDR, die nicht gegen
fundamentale rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen, seien daher von
einer Rücknahme nach § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X)
ausgeschlossen.

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die hiergegen
gerichtete Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen, da die Entscheidung des
Bundessozialgerichts verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
In Art. 19 des Einigungsvertrags wurde im Interesse der Rechtssicherheit
eine Entscheidung zugunsten der Rechtsbeständigkeit der Verwaltungsentscheidungen der DDR getroffen. Danach sind diese über den
3. Oktober 1990 hinaus wirksam, wenn und soweit sie nach der
seinerzeitigen Staats- und Verwaltungspraxis der DDR ungeachtet etwaiger
Rechtsmängel als wirksam angesehen und behandelt wurden. Art. 19
Einigungsvertrag ermöglicht nach allgemeiner Auffassung die Aufhebung
nur solcher Verwaltungsentscheidungen, die mit tragenden
rechtsstaatlichen Grundsätzen in einer Weise unvereinbar sind, dass ihr
Fortbestand in der Verfassungs- und Verwaltungsrechtsordnung der
Bundesrepublik nicht hingenommen werden kann.

Es durfte ohne Verstoß gegen das Grundgesetz im Einigungsvertrag davon
abgesehen werden, die 40-jährige Verwaltungspraxis der DDR am Maßstab
der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland aufzuarbeiten. Wäre
Art. 19 Einigungsvertrag dahingehend auszulegen, dass alle von den
zuständigen Stellen der DDR im Rahmen der Unfallversicherung getroffenen
Entscheidungen über die Anerkennung und Entschädigung als Arbeitsunfall
einer Überprüfung auf der Grundlage des Rechts der DDR oder auf der
Grundlage des gesamtdeutschen Rechts unterliegen, wäre diese Aufgabe in
einem unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit vertretbaren
Zeitrahmen nicht zu leisten gewesen. Die Gesetzesbegründung zum Renten-
Überleitungsgesetz spricht von etwa 300.000 übernommenen, von den
zuständigen Stellen der DDR verbeschiedenen Entschädigungsfällen und
einer nicht unerheblichen Zahl von Arbeitsunfällen und
Berufskrankheiten, die weit zurücklägen und zur Prüfung und
gegebenenfalls Anerkennung noch anstünden. Auch fehlt nach den
Feststellungen des Hauptverbandes der gewerblichen
Berufsgenossenschaften die erforderliche Gutachterkapazität, um eine
größere Zahl der übergeleiteten etwa 300.000 Fälle auf die Richtigkeit
der seinerzeit vorgenommenen Bewertungen zu beurteilen.

Aus dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes kann zwar unter bestimmten
Voraussetzungen eine verfassungsrechtliche Pflicht zum Ausgleich von
Schäden folgen, die durch rechtswidriges Verhalten einer nicht an das
Grundgesetz gebundenen Staatsgewalt entstanden sind. Für die Annahme
einer solchen Ausgleichspflicht ist im vorliegenden Fall jedoch nichts
ersichtlich. Zutreffend hat das Bundessozialgericht darauf hingewiesen,
dass die gesundheitliche Beeinträchtigung des Versicherten von seiner
Krankenversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung aufgefangen
wurde.

Pressemitteilung Nr. 40/2007 vom 4. April 2007

Zum Beschluss vom 27. Februar 2007 – 1 BvR 1982/01 –