Die Beschwerdeführerin erhielt einen Bescheid der Familienkasse, dass
sie zuviel gezahltes Kindergeld erstatten sollte. Dafür begehrte sie
Beratungshilfe nach dem Beratungshilfegesetz. Das Amtsgericht entsprach
ihrem Antrag nicht, sondern wies diesen mit der Begründung zurück,
Kindergeldangelegenheiten seien der Finanzgerichtsbarkeit zugeordnet
und würden deshalb nach dem eindeutigen Wortlaut des § 2 BerHG keinen
Anspruch auf Beratungshilfe begründen. Nach dieser Bestimmung werde
Beratungshilfe zwar in Angelegenheiten des Sozialrechts gewährt, nicht
aber solchen des Steuerrechts.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hob mit Beschluss vom 14.
Oktober 2008 diese Entscheidung des Amtsgerichts auf und stellte fest,
das § 2 Absatz 2 des Beratungshilfegesetzes mit Art. 3 Absatz 1 des
Grundgesetzes unvereinbar ist, soweit die Norm die Gewährung von
Beratungshilfe nicht auch in Angelegenheiten des Steuerrechts
ermöglicht. Für die Übergangszeit bis zu einer verfassungsgemäßen
Neuregelung durch den Gesetzgeber, für die ihm verschiedene
Möglichkeiten der Neugestaltung zur Verfügung stehen, ist
Beratungshilfe aber grundsätzlich auch in Angelegenheiten des
Steuerrechts zu gewähren, sofern hierfür die allgemeinen gesetzlichen
Voraussetzungen des § 1 Absatz 2 BerHG vorliegen.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
 I. 1. Der verfassungsrechtliche Maßstab der Rechtsschutzgleichheit,
       der sich aus dem Sozialstaatsprinzip, dem Rechtsstaatsgrundsatz
       und dem allgemeinen Gleichheitssatz ableitet, wurde bisher
       allein bei der Gewährung gerichtlichen Rechtsschutzes
       angewendet. An diesem Grundsatz wurde insbesondere die
       fachgerichtliche Prüfung der Erfolgsaussicht einer
       beabsichtigten Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung als
       Voraussetzung für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe
       gemessen. Ob sich daraus auch eine Pflicht zur Angleichung der
       Stellung Unbemittelter an die Bemittelten für den
       außergerichtlichen Rechtsschutz herleitet, wurde vom
       Bundesverfassungsgericht hingegen bisher ausdrücklich offen
       gelassen. Der allgemeine Gleichheitssatz in Verbindung mit dem
       Sozialstaats- und dem Rechtsstaatsprinzip verlangt aber, dass
       der Gesetzgeber auch im außergerichtlichen Bereich die
       erforderlichen Vorkehrungen trifft, damit der Rechtsuchende mit
       der Wahrnehmung und Durchsetzung seiner Rechte nicht von
       vornherein an mangelnden Einkünften oder ungenügendem Vermögen
       scheitert.
      Â
    2. Die Erwägung des Bundesverfassungsgerichts zum Anspruch auf
       Rechtsschutzgleichheit im prozessualen Bereich, dass der
       gleiche Rechtszugang jedermann unabhängig von seinen Einkunfts-
       und Vermögensverhältnissen möglich sein muss, gilt entsprechend
       auch für die außergerichtliche Beratung. Angesichts der
       rechtlichen Durchdringung nahezu aller Lebensbereiche ist der
       Bürger vielfach auf fachkundigen Rechtsrat angewiesen, um seine
       Rechte erkennen, bewerten und darüber entscheiden zu können, ob
       und mit welchen Erfolgsaussichten er sie – gegebenenfalls auch
       gerichtlich – durchsetzen kann. Nicht anders als bei der
       Ermöglichung des Zugangs zu den Gerichten verlangt Art. 3 Abs.
       1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaats- und
       Rechtsstaatsgrundsatz auch bei der Schaffung der rechtlichen
       Rahmenbedingungen zur Gewährleistung der
       Rechtswahrnehmungsgleichheit keine vollständige Gleichstellung
       Unbemittelter mit Bemittelten, sondern nur eine weitgehende
       Angleichung. Auch hier braucht der Unbemittelte nur einem
       solchen Bemittelten gleichgestellt zu werden, der bei seiner
       Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die
       hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigt und vernünftig
       abwägt. Insbesondere darf der Rechtsuchende zunächst auf
       zumutbare andere Möglichkeiten für eine fachkundige Hilfe bei
       der Rechtswahrnehmung verwiesen werden.
      Â
 II. Bei der Schaffung der rechtlichen Rahmenbedingungen zur
    Gewährleistung der Rechtswahrnehmungsgleichheit kommt dem
    Gesetzgeber ein großer Gestaltungsspielraum zu. Er kann daher die
    Rechtswahrnehmungsgleichheit von nicht hinreichend Bemittelten und
    Begüterten auf unterschiedliche Weise regeln. Mit dem
    Beratungshilfegesetz (BerHG) vom 18. Juni 1980 hat der Gesetzgeber
    den verfassungsrechtlichen Anforderungen zur Gewährleistung der
    Rechtswahrnehmungsgleichheit im Grundsatz Genüge getan.
   Â
III. Allerdings ist die Regelung des § 2 Absatz 2 BerHG mit dem
    allgemeinen Gleichheitssatz nicht vereinbar, wonach Beratungshilfe
    nur in den dort ausdrücklich nach Rechtsgebieten aufgezählten
    Angelegenheiten gewährt wird. Die abschließende Aufzählung der
    beratungshilfefähigen Angelegenheiten, zu denen zwar solche des
    Sozialrechts, nicht aber solche des Steuerrechts gehören, führt zu
    einer Ungleichbehandlung von Rechtsuchenden in
    beratungshilfefähigen Angelegenheiten gegenüber solchen in nicht
    von der Aufzählung erfassten Angelegenheiten. Die Abgrenzung
    zwischen den beratungshilfefähigen Angelegenheiten des
    Sozialrechts und den nicht beratungshilfefähigen Angelegenheiten
    des Steuerrechts richtet sich nach dem eröffneten Rechtsweg. In
    Kindergeldangelegenheiten führt dies dazu, dass keine
    Beratungshilfe gewährt werden kann, soweit es – wie in der großen
    Mehrzahl der Fälle – um Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz
    geht, weil der Rechtsweg zu den Finanzgerichten gemäß § 33 Absatz
    1 Nummer 1 FGO eröffnet ist. Demgegenüber kann in Angelegenheiten
    des Kindergeldes nach dem Bundeskindergeldgesetz, wie auch sonst
    in sozialrechtlichen Angelegenheiten, grundsätzlich Beratungshilfe
    bewilligt werden. Für diese Ungleichbehandlung gibt es jedenfalls
    im Verhältnis zwischen Rechtsuchenden im Bereich des Sozialrechts
    und jenen im Bereich des Steuerrechts und erst recht für die damit
    verbundene Ungleichbehandlung zwischen Empfängern von
    steuerrechtlichem und sozialrechtlichem Kindergeld keinen
    tragfähigen sachlichen Grund.
   Â
    1. Die zunächst mit der Annahme eines geringen Beratungsbedarfs
       und guter anderweitiger Beratungsmöglichkeiten in
       Angelegenheiten des Arbeitsrechts, des Sozialrechts und des
       Steuerrechts begründete Konzeption des Gesetzgebers zur
       Begrenzung des sachlichen Anwendungsbereichs des
       Beratungshilfegesetzes hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur
       Änderung des Beratungshilfegesetzes und anderer Gesetze vom 14.
       September 1994 aufgegeben, indem er durch § 2 Absatz 2 Satz 1
       Nummer 4 BerHG die Beratungshilfe auch auf Angelegenheiten “des
       Sozialrechts” erstreckt hat. Die anderweitigen
       Beratungsmöglichkeiten in sozialrechtlichen Angelegenheiten
       bleiben jedenfalls nicht hinter denjenigen in steuerrechtlichen
       Angelegenheiten zurück.
      Â
    2. Die festgestellte Ungleichbehandlung zu Lasten der
       Rechtsuchenden im Steuerrecht kann auch nicht mit der
       gelegentlich vorgebrachten Erwägung sachlich gerechtfertigt
       werden, Rechtsberatung auf dem Gebiet des Steuer- und
       Abgabenrechts zu günstigen Bedingungen erhalten zu können, sei
       für Bürger mit geringem Einkommen kein vordringliches Problem.
       Steuerrechtliche Zahlungspflichten können auch Bedürftige im
       Sinne des Beratungshilferechts erfassen, gerade auch in
       Angelegenheiten des Kindergeldes, das unabhängig vom zu
       versteuernden Einkommen gewährt wird.
      Â
    3. Die Ausklammerung des Steuerrechts im Allgemeinen und des
       steuerrechtlichten Kindergeldes im Besonderen aus dem
       sachlichen Anwendungsbereich der Beratungshilfe lässt sich auch
       nicht unter Rückgriff auf den Gedanken einer
       verfassungsrechtlich zulässigen Typisierung und Pauschalierung
       rechtfertigen. Denn auch diese müssen das vom Gesetzgeber
       verfolgte Regelungskonzept folgerichtig umsetzen. Das
       ursprünglich beabsichtigte Regelungskonzept, die Konzentration
       öffentlicher Mittel auf Bereiche, in denen das Bedürfnis nach
       kostengünstigem Rechtsrat besonders hervorgetreten ist, hat der
       Gesetzgeber aber bereits mit der Änderung des Gesetzes im Jahre
       1994 aufgegeben.
      Â
 IV. Dieser festgestellte Verstoß gegen den Gleichheitssatz kann nicht
    durch eine verfassungskonforme Auslegung von § 2 Absatz 2 Satz 1
    Nummer 4 BerHG behoben werden. Deshalb verstößt nicht nur die vom
    Amtsgericht befürwortete Auslegung dieser Vorschrift gegen Art. 3
    Absatz 1 GG, sondern die mittelbar angegriffene Bestimmung des § 2
    Absatz 2 BerHG selbst ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.
Pressemitteilung Nr. 91/2008 vom 30. Oktober 2008
Beschluss vom 14. Oktober 2008 ? 1 BvR 2310/06 ?