Zur Begründung hat der Senat ausgeführt, das in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG ausgesprochene Verbot
der Entziehung der Staatsangehörigkeit stehe der Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung
nicht entgegen. Auch der in Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG verankerte Schutz vor Staatenlosigkeit
schließe in einem solchen Fall die Rücknahme der Einbürgerung nicht aus. Die Rücknahme
sei auch aufgrund einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage erfolgt. Die Anwendung des § 48
Verwaltungsverfahrensgesetz des Landes Baden-Württemberg, der allgemein die Rücknahme
begünstigender Verwaltungsakte regelt, sei unbedenklich, jedenfalls wenn der Betroffene die
Einbürgerung durch Täuschung bewirkt hat. Der parlamentarische Gesetzgeber sei nicht verpflichtet
gewesen, für erschlichene Einbürgerungen eine besondere staatsangehörigkeitsrechtliche
Regelung zu treffen. Allerdings bedürfe die Frage, welche Auswirkungen ein Fehlverhalten
im Einbürgerungsverfahren auf den Bestand der Staatsangehörigkeit Dritter haben kann, die an
diesem Fehlverhalten nicht beteiligt waren, einer Antwort durch den Gesetzgeber.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
1. Das in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG ausgesprochene Verbot der Entziehung der Staatsangehörigkeit
steht der Rücknahme einer durch Täuschung erwirkten rechtswidrigen Einbürgerung
nicht entgegen.
Mit dem Verbot der Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit grenzt die Verfassung sich
ab von historischen Mißbräuchen des Staatsangehörigkeitsrechts. Vor Mißbräuchen dieser
Art, die der Staatsangehörigkeit ihre Bedeutung als verlässliche Grundlage gleichberechtigter
Zugehörigkeit raubten und sie in ein Mittel der Ausgrenzung statt der Integration verkehrten,
soll Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG nach dem Willen des Verfassungsgebers Schutz gewährleisten.
Entziehung ist danach jede Verlustzufügung, die die Funktion der Staatsangehörigkeit als
verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit beeinträchtigt. Zur Verlässlichkeit
des Staatsangehörigkeitstatus gehört auch die Vorhersehbarkeit eines Verlusts und damit ein
ausreichendes Maß an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit im Bereich der staatsangehörigkeitsrechtlichen
Verlustregelungen.
Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG schließt danach die Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung
nicht grundsätzlich aus. Wenn demjenigen, der durch Täuschung oder vergleichbares Fehlverhalten
eine rechtswidrige Einbürgerung erwirkt hat, die missbräuchlich erworbene Rechtsposition
nicht belassen wird, beeinträchtigt dies weder ein berechtigtes Vertrauen des Betroffenen
noch kann das Stabilitätsvertrauen Anderer, die sich im Verfahren ihrer Einbürgerung
solche Missbräuche nicht haben zuschulden kommen lassen, beschädigt werden.
2. Auch der in Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG verankerte Schutz vor Staatenlosigkeit steht der Rücknahme
der Einbürgerung des Beschwerdeführers nicht entgegen.
Die Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung daran scheitern zu lassen, dass der Betroffene
dadurch möglicherweise staatenlos wird, läge so eindeutig außerhalb des Sinns und
Zwecks der Vorschrift, dass der insoweit überschießende Wortlaut für die Auslegung nicht
maßgeblich sein kann. Der Schaffung des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG lag die Absicht zugrunde,
sich in Abgrenzung von der nationalsozialistischen Ausbürgerungspolitik und den Ausbürgerungen,
von denen Deutsche im Zuge der Vertreibungen betroffen waren, an völkerrechtliche Bestrebungen zur Bekämpfung der Staatenlosigkeit anzuschließen. Mit dieser Zielsetzung ist
die Inkaufnahme von Staatenlosigkeit im Fall der Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung
vereinbar. Es gab und gibt weder einen allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts noch
eine die Bundesrepublik Deutschland bindende völkerrechtliche Vereinbarung, die die Inkaufnahme
von Staatenlosigkeit in einem solchen Fall ausschließen. In den völkerrechtlichen
Vereinbarungen wird Staatenlosigkeit gerade für den Fall der Rücknahme erschlichener Einbürgerungen
ausdrücklich hingenommen.
In diesem Punkt ist die Entscheidung mit 6:2 Stimmen ergangen.
3. Die in § 48 Verwaltungsverfahrensgesetz des Landes Baden-Württemberg (LVwVfGBW)
getroffene allgemeine Regelung über die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte reicht
hier als gesetzliche Grundlage der Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung aus.
a) Nach Ansicht der Richter Hassemer, Di Fabio, Mellinghoff und Landau genügt die Bestimmung
den Anforderungen des in Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG konkretisierten Gesetzesvorbehalts,
jedenfalls wenn der Betroffene die Einbürgerung durch Täuschung bewirkt
hat. Ihre Anwendung ist nicht wegen fehlender Gesetzgebungskompetenz des Landes Baden-
Württemberg ausgeschlossen. Der parlamentarische Gesetzgeber war auch nicht verpflichtet,
für erschlichene Einbürgerungen eine besondere staatsangehörigkeitsrechtliche
Regelung zu wählen.
Art. 16 Abs. 1 GG fordert eine der Bedeutung des Staatsangehörigkeitsstatus angemessene
gesetzliche Ausgestaltung für den Erwerb, die Aufhebung der Einbürgerung und den
Verlust der Staatsangehörigkeit. Ob diese Anforderungen erfüllt sind, kann nicht allein
nach der systematischen Zugehörigkeit zu einem bestimmten Gesetz entschieden, sondern
muss vor allem danach beurteilt werden, ob den inhaltlichen verfassungsrechtlichen Vorgaben
Rechnung getragen wird. Im vorliegenden Fall, da der Betroffene selbst nachweislich
durch Täuschung die Einbürgerung herbeiführte und diese zeitnah zurückgenommen
wird, ist der grundrechtlich geforderten Rechtssicherheit und Normenklarheit Genüge getan,
wenn der Betroffene anhand einer allgemeinen gesetzlichen Verwaltungsverfahrensvorschrift
die Folge der Rücknahme voraussehen kann. In einem solchen Fall steht dem Täuschenden kein schützenswertes Vertrauen zu, so dass das rechtsstaatliche Interesse an
der rückwirkenden Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände regelmäßig überwiegt. Mit
§ 48 LVwVfGBW besteht eine Regelung, in der das Ermessen der Verwaltung durch ein
rechtsstaatliches Abwägungsprogramm zwischen Vertrauensschutz und Gesetzmäßigkeit
der Verwaltung begrenzt wird.
Allerdings sind Fallkonstellationen möglich, die in § 48 LVwVfGBW keine hinreichende
gesetzliche Ermächtigungsgrundlage finden. Die Regelungsbedürftigkeit der Aufhebung
von Einbürgerungen sowie der Nichtigkeit von Einbürgerungsakten zeigt sich insbesondere
bei – im vorliegenden Fall nicht einschlägigen – Konstellationen, in denen die Rechtmäßigkeit
der Einbürgerung von Angehörigen, insbesondere von Kindern, im Vordergrund
steht. Die Frage, welche Auswirkungen ein Fehlverhalten im Einbürgerungsverfahren
auf den Bestand der Staatsangehörigkeit Dritter haben kann, die an diesem Fehlverhalten
nicht beteiligt waren, bedarf einer Antwort durch den Gesetzgeber.
b) Nach Ansicht der Richterinnen und Richter Broß, Osterloh, Lübbe-Wolff und Gerhardt
reicht § 48 LVwVfGBW als gesetzliche Grundlage für die Rücknahme einer Einbürgerung
nicht aus.
Entscheidet sich der Gesetzgeber für die Möglichkeit der Rücknahme von Einbürgerungen,
hat er Reichweite und Grenzen dieser Möglichkeit selbst zu bestimmen und die notwendigen
Abwägungsentscheidungen unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Materie
selbst zu treffen. Art. 16 Abs. 1 GG liegt die Absicht des Verfassungsgebers zugrunde,
in Bezug auf den Bestand der Staatsangehörigkeit besonders strenge Vorkehrungen
gegen gleichheitswidrige Behandlung zu treffen. Der gesetzlichen Vorprägung behördlicher
Entscheidungen als der elementarsten Form der Gleichheitssicherung kommt daher
gerade hier besonders große Bedeutung zu.
Gegen die Heranziehung von § 48 LVwVfGBW als Rechtsgrundlage für die Rücknahme
von Einbürgerungen bestehen schon aus kompetenzrechtlichen Gründen erhebliche Bedenken.
Jedenfalls genügt § 48 LVwVfGBW inhaltlich nicht den Anforderungen an eine
Verlustregelung im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG. Der Gesetzgeber hat mit dieser
Regelung die erforderlichen grundrechtsspezifischen Entscheidungen gerade nicht getroffen.
Die als allgemeine Auffangvorschrift für die Rücknahme von Verwaltungsakten konzipierte
Bestimmung des § 48 LVwVfGBW ist auf die besonderen Fragen, die sich im
Zusammenhang mit der Rücknahme von Einbürgerungsentscheidungen stellen, in keiner
Weise zugeschnitten. Wesentliche Fragen der sachlichen und zeitlichen Reichweite der
Rücknehmbarkeit von Einbürgerungen, über die der Gesetzgeber zu entscheiden hat, beantwortet
die Vorschrift nicht, sondern überlässt sie der Klärung durch Behörden und Gerichte.
Dies gilt auch für den konkreten Fall. Ob eine ausreichende Befugnisnorm für einen
hoheitlichen Eingriff vorhanden ist, hängt zudem nicht von der Beschaffenheit des
konkreten Einzelfalles ab. Die erforderliche gesetzgeberische Abwägung kann nicht durch
ein Evidenzerlebnis ersetzt werden. Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage ist von
der materiellen Bewertung des Grundrechtseingriffs unabhängig.
c) Da der Senat mit Stimmengleichheit entschieden hat, kann ein Verstoß gegen das Grundgesetz
nicht festgestellt werden (§ 15 Abs. 4 Satz 3 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde
hatte daher keinen Erfolg.
Nr. 41/2006 vom 24. Mai 2006
Urteil vom 24. Mai 2006
2 BvR 669/04