BVerfG: Unterschiedliche Behandlung von Vater und Mutter bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für ihr Kind nicht verfassungsgemäß

Die Verfassungsbeschwerde eines türkischen, bei seinem Vater in Deutschland lebenden Kindes gegen
die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis war erfolgreich. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts
stellt fest, dass es mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG (Gleichbehandlungsgebot) nicht vereinbar ist, die
erleichterte Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für ein im Bundesgebiet geborenes Kind allein an den
Aufenthaltstitel der Mutter, nicht hingegen auch des Vaters zu knüpfen. Die entsprechenden Regelungen
des Ausländergesetzes und die nunmehr geltende Nachfolgeregelung im Aufenthaltsgesetz sind daher
nicht verfassungsgemäß. Der Gesetzgeber ist gehalten, den Gleichheitsverstoß bis zum 31. Dezember
2006 zu beheben. Bis dahin können die betroffenen Bestimmungen zugunsten von Kindern, die ein Aufenthaltsrecht
von der Mutter ableiten, weiter angewandt werden. Entscheidungen über Anträge, die an
das Aufenthaltsrecht des Vaters anknüpfen, sind auszusetzen.

Rechtlicher Hintergrund und Sachverhalt:

§ 21 des Ausländergesetzes in der Fassung vom 9. Juli 1990 regelte erstmals die Rechtsstellung von in
Deutschland geborenen Kindern hier lebender Ausländer. Ein bindender Rechtsanspruch auf erstmalige
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für das im Bundesgebiet geborene Kind besteht danach nur dann,
wenn die Mutter eine Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung besitzt. Ob der Vater ein entsprechendes
Aufenthaltsrecht hat, ist unerheblich. Diese Rechtslage wurde im Hinblick auf die Voraussetzungen
der erstmaligen Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Wesentlichen unverändert in das neue,
seit dem 1. Januar 2005 geltende Aufenthaltsgesetz (§ 33 Satz 1 AufenthG) übernommen.

Die 1999 in Deutschland geborene Beschwerdeführerin ist ebenso wie ihre Eltern türkische Staatsangehörige.
Ihr Vater lebt seit etwa 25 Jahren in Deutschland; 1989 wurde ihm eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis
erteilt. Die Mutter der Beschwerdeführerin reiste 1997 nach Deutschland ein. Eine ihr zunächst
erteilte Aufenthaltserlaubnis wurde 1998 zurückgenommen. Die Mutter der Beschwerdeführerin wird
seither geduldet. Im Jahr 2002 wurden die Eltern geschieden. Der Vater, bei dem die Beschwerdeführerin
lebt, hat das alleinige Sorgerecht. Ein im Juni 1999 für die Beschwerdeführerin gestellter Antrag auf
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wurde abgelehnt, da die Mutter kein gesichertes Aufenthaltsrecht
habe. Die hiergegen gerichtete Klage blieb vor den Verwaltungsgerichten ohne Erfolg. Das Bundesverfassungsgericht
hob die Entscheidungen auf und verwies die Sache an das Verwaltungsgericht Düsseldorf
zurück.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Regelung stellt die im Bundesgebiet geborenen ausländischen
Kinder, deren Mutter eine Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung hat, gegenüber
denjenigen besser, bei denen allein der Vater einen entsprechenden ausländerrechtlichen Status hat. Darin
liegt eine Bevorzugung wegen des Geschlechts im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Diese Differenzierung
ist nicht gerechtfertigt.

§ 21 Abs. 1 Satz 1 AuslG ist keine Regelung zum Schutz der Mutter-Kind-Beziehung. Die Vorschrift
beantwortet die Frage der erstmaligen Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an ein in Deutschland geborenes
Kind. Dabei verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, das Kind am rechtmäßigen Aufenthalt eines Elternteils
teilhaben zu lassen. Das Aufenthaltsrecht der Mutter bildet erkennbar nur den ordnungsrechtlichen
Anknüpfungspunkt für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis. Eine Anknüpfung an das Aufenthaltsrecht
der Mutter ist aber nicht zwingend erforderlich. Eine Gleichbehandlung beider Elternteile ist ohne weiteres
möglich. Der zu ordnende Lebenssachverhalt – der Aufenthaltsstatus des Kindes – betrifft Vater und
Mutter in gleicher Weise.

Das Aufenthaltsrecht des Kindes (auch) von dem des Vaters abzuleiten, stößt ferner nicht auf praktische
Schwierigkeiten, so dass auch von daher die Anknüpfung an das Aufenthaltsrecht der Mutter nicht zwingend
erforderlich ist. Die Annahme, Väter, die in Deutschland ein Aufenthaltsrecht haben, seien typi-
scherweise nicht erreichbar, wäre offensichtlich verfehlt. Die mögliche Erwägung, das Aufenthaltsrecht
des Kindes bedürfe schneller und einfacher Klärung und deshalb sei allein auf die Mutter abzustellen, hat
im Gesetz keinen Niederschlag gefunden und trägt auch in der Sache nicht.
Die Ungleichbehandlung ist auch nicht auf Grund einer Abwägung mit kollidierendem Verfassungsrecht
gerechtfertigt. Das durch Art. 6 GG gewährleistete Kindeswohl verlangt nicht, dass das Kind aufenthaltsrechtlich
ausschließlich der Mutter zugeordnet wird. Weder Aspekte der Familieneinheit noch solche
der gerade in der ersten Zeit nach der Geburt des Kindes meist besonders intensiven Gemeinschaft
zwischen Mutter und Kind lassen sich ausschließlich dadurch verwirklichen, dass die Interessen des Vaters
ausgeklammert werden. Im Gegenteil stehen der durch § 21 Abs. 1 Satz 1 AuslG vorgenommenen
Differenzierung die verfassungsgestützten Wertungen des Familienrechts, wonach beide Elternteile
gleichberechtigt sind, entgegen. Wenn der Gesetzgeber für das erleichterte Aufenthaltsrecht des Kindes
allein auf den Aufenthaltsstatus der Mutter abhebt, vernachlässigt er sowohl die Sorgerechtslage als auch
die tatsächlichen Lebensverhältnisse der Familien, die häufig von gemeinsamer Sorge und häufiger als
früher sogar von einer vorrangigen oder ausschließlichen Betreuung des Kindes durch den Vater geprägt
sind.

Pressemitteilung vom 25. November 2005

Beschluss vom 25. Oktober 2005

2 BvR 524/01