BVerfG: Selbsttitulierungsrecht ist mit dem Grundgesetz unvereinbar

Das Selbsttitulierungsrecht zu Gunsten der Bremer Landesbank
Kreditanstalt Oldenburg – Girozentrale – und der Landessparkasse zu
Oldenburg verstößt gegen den Gleichheitssatz. Dies hat der Erste Senat
des Bundesverfassungsgerichts in einem heute veröffentlichten Beschluss
auf Richtervorlagen des Oberlandesgerichts und des Amtsgerichts
Oldenburg hin entschieden. Die entsprechenden Regelungen des
niedersächsischen Landesrechts sind mit dem Grundgesetz unvereinbar und
dürfen daher nur noch im Rahmen einer Übergangsregelung weiter
angewendet werden.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen die folgenden Erwägungen
zugrunde:

1. Die beiden Richtervorlagen betreffen zwei weitgehend inhaltsgleiche
Bestimmungen des niedersächsischen Landesrechts. Diese gewähren zwei
öffentlichrechtlichen Kreditinstituten das Recht, die
Zwangsvollstreckung ihrer Forderungen aufgrund eines von ihnen selbst
gestellten Antrags zu betreiben, der einen vollstreckbaren Titel ersetzt
(sogenanntes Selbsttitulierungsrecht). Zur Durchsetzung ihrer
Forderungen müssen diese Kreditinstitute also nicht zuvor ein Urteil in
einem Zivilprozess oder einen Titel im Mahnverfahren erwirken.

a) Die Vorlage des Oberlandesgerichts Oldenburg – 1 BvL 8/11 – betrifft
eine Vorschrift des niedersächsischen Landesrechts, die der Bremer
Landesbank Kreditanstalt Oldenburg – Girozentrale – ein
Selbsttitulierungsrecht einräumt. Die Vorlage des Amtsgerichts Oldenburg
– 1 BvL 22/11 – bezieht sich auf eine weitgehend inhaltsgleiche
Regelung, die zu Gunsten der Landessparkasse zu Oldenburg wirkt.

Die beiden genannten Kreditinstitute treiben ihre Forderungen nach
geltendem Recht im zivilprozessrechtlichen Zwangsvollstreckungsverfahren
bei. Die zur Prüfung vorgelegten Vorschriften stellen die
Vollstreckungsanträge der beiden Kreditinstitute einem vollstreckbaren
Titel gleich. Sie befreien die genannten Kreditinstitute davon, einen
Vollstreckungstitel und eine Vollstreckungsklausel nachweisen zu müssen.

b) Ohne Selbsttitulierungsrecht müssen Gläubiger eines Anspruchs
grundsätzlich Klage erheben, um den Anspruch titulieren zu lassen (§ 704
ZPO). In der Bankpraxis ist es zudem üblich, dass sich Kreditinstitute
bei dinglich besicherten Darlehen eine notariell beurkundete
Unterwerfung unter die sofortige Zwangsvollstreckung erteilen lassen (§
794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO). Diese ist jedoch mit Notarkosten verbunden. Zudem
ermöglicht sie nicht die sofortige Vollstreckung; die Bank muss sich vom
Notar zunächst eine vollstreckbare Ausfertigung erteilen lassen, den
Schuldtitel dem Schuldner zustellen und danach eine zweiwöchige
Wartefrist einhalten.

2. Die vorgelegten Regelungen sind mit dem allgemeinen Gleichheitssatz
(Art. 3 Abs. 1 GG) unvereinbar.

a) Sie gewähren nur der Bremer Landesbank Kreditanstalt Oldenburg –
Girozentrale – und der Landessparkasse zu Oldenburg ein
Selbsttitulierungsrecht. Zugunsten von drei weiteren
öffentlich-rechtlichen Kreditinstituten existiert in Niedersachsen eine
inhaltsgleiche Vorschrift, die jedoch nicht zur Prüfung vorgelegt ist.
Den niedersächsischen Privatbanken, den in Niedersachen tätigen
überregionalen Privatbanken und den übrigen niedersächsischen Sparkassen
steht eine solche Befugnis nicht zu.

b) Es sind keine tragfähigen sachlichen Gründe erkennbar, die diese
Ungleichbehandlung der begünstigten Kreditinstitute rechtfertigen
könnten. Eine Rechtfertigung folgt weder aus der Beschränkung ihres
Gewinnerzielungsinteresses durch öffentliche Belange noch aus ihrem
öffentlichen Auftrag, alle Bevölkerungskreise und insbesondere den
Mittelstand mit kreditwirtschaftlichen Leistungen zu versorgen. Diese
Ziel- und Zweckbestimmungen treffen in gleichem Maße auf alle anderen
niedersächsischen Sparkassen zu. Überdies fehlt es an einem hinreichend
deutlichen inneren Zusammenhang mit der vollstreckungsrechtlichen
Begünstigung. Bei dem für die Selbsttitulierung in erster Linie in
Betracht kommenden Kreditgeschäft stehen die begünstigten Institute im
Wettbewerb mit den Geschäftsbanken, denen kein Selbsttitulierungsrecht
zusteht. Dass die begünstigten Institute – wegen ihrer Verpflichtung zur
Beachtung der Grundrechte als Anstalten des öffentlichen Rechts – den
Schutz des Schuldners ohne vorhergehendes gerichtliches Verfahren zur
Titulierung des Anspruchs gewährleistet sehen, rechtfertigt jedenfalls
diesen Wettbewerbsvorteil gegenüber im selben Geschäftsfeld tätigen
privaten Kreditinstituten nicht.

3. Dies führt jedoch nicht zur sofortigen Nichtigkeit der vorgelegten
Regelungen. Die noch nicht abgeschlossenen Zwangsvollstreckungen auf
Grundlage der vorgelegten Normen wären im Falle der Nichtigerklärung mit
erheblichen Unsicherheiten belastet, die in vielen
Vollstreckungsverfahren von den Gerichten zu klären wären. Der Grundsatz
der Rechtssicherheit gebietet daher die weitere Anwendbarkeit der
beanstandeten Vorschriften für alle bereits eingeleiteten
Vollstreckungsverfahren. Zudem haben die betroffenen Kreditinstitute
wegen des Selbsttitulierungsrechts bisher auf die übliche Bankpraxis
verzichtet, sich bei dinglich besicherten Darlehen vom Schuldner die
notariell beurkundete Unterwerfung unter die sofortige
Zwangsvollstreckung erteilen zu lassen. Den begünstigten
Kreditinstituten ist daher eine Übergangsfrist von einem Jahr ab dem 31.
Januar 2013 zu gewähren, in der die bisherigen Regelungen weiter
Grundlage für die Zwangsvollstreckung sein können. Über diesen Zeitpunkt
hinaus bleibt die Selbsttitulierung bei bestimmten Rechtsgeschäften
möglich, die vor dem 1. Februar 2013 abgeschlossen worden sind.

Pressemitteilung Nr. 4/2013 vom 17. Januar 2013
Beschluss vom 18. Dezember 2012
1 BvL 8/11 und 1 BvL 22/11