Die Vorlagen des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen zur Frage, ob die in
der Beihilfeverordnung des Landes Nordrhein-Westfalen geregelte
Kostendämpfungspauschale (§ 12a NW BVO) mit dem Grundgesetz vereinbar
ist, sind unzulässig. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
gem. Art. 100 Abs. 1 GG ist nur dann einzuholen, wenn das Gericht ein
formelles Gesetz für verfassungswidrig hält, während die verfassungsrechtliche Nachprüfung von Rechtsverordnungen dem erkennenden
Gericht obliegt. Über die Vereinbarkeit von § 12a NW BVO mit
höherrangigem (Bundes-) Recht kann das Verwaltungsgericht selbst
entscheiden; denn die Norm ist als im parlamentarischen Verfahren
geschaffenes Verordnungsrecht zu qualifizieren. Die Anrufung des
Bundesverfassungsgerichts ist deshalb unzulässig. Dies entschied der
Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts.
Rechtlicher Hintergrund und Sachverhalt:
Durch das Haushaltssicherungsgesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen vom
17. Dezember 1998 wurde die Landesbeihilfenverordnung um einen § 12a
ergänzt. Danach muss jeder beihilfeberechtigte Landesbeamte je
Kalenderjahr einen bestimmten Betrag seiner an sich beihilfefähigen
krankheitsbedingten Ausgaben selbst tragen. Die Höhe dieses Betrages ist
unter anderem nach Besoldungsgruppen gestaffelt.
Die Kläger der vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen anhängigen
Ausgangsverfahren sind Beamte, Richter und Richter im Ruhestand im
Dienste des Landes Nordrhein-Westfalen. Sie beantragten Anfang 1999
jeweils Beihilfe zu Kosten für in Anspruch genommene ärztliche
Leistungen. Der Dienstherr erkannte die Beträge im Grundsatz ganz oder
teilweise als beihilfefähig an, zog aber die Kostendämpfungspauschale in
der jeweils einschlägigen Höhe ab. Dagegen richten sich die vor dem
Verwaltungsgericht erhobenen Klagen. Das Verwaltungsgericht
Gelsenkirchen setzte die Verfahren aus und legte dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vor, ob § 12a NW BVO
mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Das Verwaltungsgericht hält die
Regelung unter anderem deshalb für verfassungswidrig, weil den
Beihilfeberechtigten unter Verstoß gegen die Alimentationspflicht nicht
versicherbare Selbstbehalte auferlegt würden und die Regelung mit den
Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes unvereinbar sei, da sie in das
bundesrechtlich abschließend geregelte Recht der Beamtenbesoldung eingreife.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Vorlagen für unzulässig erklärt.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Das Verwaltungsgericht kann über die Vereinbarkeit des § 12a NW BVO mit
höherrangigem (Bundes-) Recht selbst entscheiden, da die Norm nicht als
formelles Gesetz, sondern als im parlamentarischen Verfahren
geschaffenes Verordnungsrecht zu qualifizieren ist.
Werden – wie hier durch das Haushaltssicherungsgesetz 1998 –
Verordnungen durch förmliche Gesetze geändert oder ergänzt, so könnte
dies zu einem missverständlichen, irreführenden Normgebilde führen,
dessen Bezeichnung (Verordnung) zu ihrem tatsächlichen Rang (förmliches
Gesetz) und den davon abhängigen Rechtsfolgen in Widerspruch stünde. Der
Rechtscharakter der einzelnen Normteile wäre nur noch mit Rückgriff auf
die Gesetzgebungsmaterialien oder auf die verkündeten Fassungen von
Änderungsnormen erkennbar. Ein solcher Rechtszustand wäre mit
rechtsstaatlichen Grundsätzen, namentlich der Normenklarheit und
Normenwahrheit, nicht mehr vereinbar. Eine Norm darf die von ihr
Betroffenen nicht im Unklaren darüber lassen, welchen Rang sie hat und
wie gegen sie effektiver Rechtsschutz zu suchen ist. Die aufgezeigten
Schwierigkeiten lassen sich nur dadurch vermeiden, dass einerseits der
geänderten Verordnung ein einheitlicher Rang zugewiesen und andererseits
sichergestellt wird, dass der Gesetzgeber von dieser Praxis nur in den
generellen Grenzen einer Verordnungsermächtigung Gebrauch macht. Ändert
das Parlament wegen des sachlichen Zusammenhangs eines Reformvorhabens
bestehende Verordnungen oder fügt es in diese neue Regelungen ein, so
ist das dadurch entstandene Normgebilde aus Gründen der Normenklarheit
insgesamt als Verordnung zu qualifizieren (vgl. schon Beschluss des
Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 13. September 2005 – 2
BvF 2/03; Pressemitteilung Nr. 99/2005 vom 13. Oktober 2005).
Die Verordnung und alle ihre Teile können durch jedes damit befasste
Gericht umfassend überprüft werden. Art. 100 Abs. 1 GG ist insoweit
nicht anwendbar, eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht ist
unzulässig. Der (Landes-)Gesetzgeber wird dadurch nicht über Gebühr
belastet. Will er den Schutz des Art. 100 Abs. 1 GG in Anspruch nehmen
und verhindern, dass sich einzelne Gerichte über seinen Willen
hinwegsetzen, so steht es ihm frei, ein formelles Gesetz zu erlassen.
Andernfalls kann er den Schutz des Art. 100 Abs. 1 GG nicht beanspruchen
und muss möglicherweise eine (vorübergehende) Rechtszersplitterung in
Kauf nehmen. Er ist aber auch dann nicht schutzlos gestellt. Denn
jedenfalls kann die Landesregierung für den Fall, dass die
Verwaltungsgerichte entsprechende Verordnungsbestimmungen unangewendet
lassen, einen Normenkontrollantrag beim Bundesverfassungsgericht stellen.
Beschluss vom 27. September 2005 – 2 BvL 11/02 u.a. –
Karlsruhe, den 14. Oktober 2005